Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
im Haus eines Pharisäers hat man sich versammelt. Wir haben es gerade in der Lesung gehört. Simon heißt der von vielen geachtete, aber auch gefürchtete Mann. Jesus sitzt in der Mitte der Tischgesellschaft. Ohne Einladung kommt eine Frau dazu, von hinten tritt sie an Jesus heran, mit nichts als ihren Tränen und einem Glas voll Salböl. Verzweifelt wendet sie sich Jesus zu. Er weist sie auch nicht ab, sondern wendet sich ihr zu. Dem irritierten Gastgeber hält er die Beispiele eines kleinen und eines großen Schuldners vor, denen ihre Schulden erlassen werden. welcher hat größeren Grund zur Dankbarkeit? Doch damit endet die Szene keineswegs. Jesus spricht die Frau direkt an: „Dir sind deine Sünden vergeben. Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden.“
So verzweifelt sie auch kam – ihr Leben ist nicht vergeblich gelebt. Es gibt einen neuen Anfang. Ihre Heilung setzt ein, weil sie hört: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Sie weiß nun, auf welche Kraft sie vertrauen kann: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Und sie kennt ihren Weg: „Geh hin in Frieden.“ Denn Frieden beginnt so: nicht auf die eigene Stärke setzen, sondern nach der Kraft ausschauen, die verbindet. Nicht Abgrenzung, sondern Versöhnung schafft Frieden.
Aber da ist eben noch ein anderer, ein Meister der Abgrenzung. Simon, der Gastgeber, spielt das Unterscheidungsspiel. Er bestimmt, für wen an seinem Tisch Platz ist und wer draußen bleibt. Noch nie hat er daran gedacht, dass auch sein Leben Brüche hat. Von eigener Schuld will er nichts wissen. Er meint: „Wenn Jesus ein Prophet wäre, so wüsste er, was für eine Frau ihn anrührt; sie ist eine Sünderin“
Mit den Fingern auf andere zeigen, deren Fehler aufdecken, war schon immer leichter, als zu eigenen Fehlern zu stehen. Wenn wir ehrlich sind und uns den Spiegel vorhalten, sehen wir alle eher wie Simon aus als wie die namenlose Frau mit ihrem Salböl und mit ihren Tränen. Aus diesem Grund sind viele Konflikte derart verhärtet, auch hier in Potsdam. Potsdam mit oder ohne Garnisonkirche: das ist nur ein Beispiel dafür. Immer wieder der Versuch, die Schuld bei den anderen zu suchen, ihre Motive in Frage zu stellen.
Wie müssten denn die Worte lauten, die Simon und uns freisprechen? Vielleicht so: Du bist nicht besser als andere. All deine Rechthaberei wird daran nichts ändern. Verlass dich nicht auf den Abstand, der dir die anderen vom Leibe hält. Vertrau der Liebe, die berührt und berühren lässt. Geh hin in Frieden.
Ein solcher Frieden soll in Potsdam einen neuen Ort erhalten. Dafür soll ein Gebäude wieder erstehen, das eines der schönsten Bauwerke, ja ein Wahrzeichen Potsdams war: der Turm der Garnisonkirche. Nicht der Krieg brachte ihn zu Fall, sondern der Hochmut Walter Ulbrichts. Er wollte nur noch die Türme von Rathäusern und Kulturhäusern gelten lassen, aber nicht Kirchtürme. Er hatte Türme im Sinn, die die eigene Macht demonstrieren, nicht Türme, die auf Gott verweisen.
Der neue Turm nimmt die großartige architektonische Form des Vorgängerbaus genau auf. Aber er fügt sich nicht mehr dem Geist der Feindschaft, der hier immer wieder aufflammte. Wo Soldaten auf den Weg in den Krieg geschickt wurden, wollen nun Menschen unterschiedlicher Herkunft – unter ihnen Soldaten wie Zivilisten – miteinander Frieden lernen. Flüchtlinge singen gemeinsam mit Menschen, die hier schon lange heimisch sind. Menschen aus einst verfeindeten Ländern gehen Schritte der Versöhnung. Die aufrichtige Auseinandersetzung mit den Realitäten unserer Zeit verbindet sich mit dem Geist der Bergpredigt, der zu gerechtem Frieden ermutigt.
Es geht nicht nur um ein Gebäude aus Stein, es geht um Menschen. Denn nur aus ihnen, aus lebendigen Steinen, kann ein Haus des Friedens entstehen.
Menschen finden sich hier schon jetzt zusammen, die aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen wollen. Dafür berufen wir uns heute auf die namenlose Frau, die auf dem Weg zu Jesus nichts mit sich brachte außer Tränen und Salböl: das Bekenntnis der Schuld und die Hoffnung auf Heilung.
Es gibt auch andere Wege, mit der Vergangenheit umzugehen. Auch hier in Potsdam werden sie wieder und wieder empfohlen, bis zum heutigen Tag. Vehement wird vorgeschlagen, sich an der Geschichte zu rächen, indem man ihre Orte auslöscht und den Geist der Vergangenheit versenkt. Man erklärt einen bestimmten Ort für die entscheidende Brutstätte schlimmer Gedanken. Man zählt Ereignisse aus den finsteren Jahren deutscher Geschichte auf, bei denen das Gebäude der Garnisonkirche verhängnisvollen Gedanken und politischen Irrwegen Raum gab. Doch kann man wirklich ein solches Gebäude magisch mit dem Ereignis eines einzelnen Tages oder mit einer Geschichtsepoche verbinden? Und was gibt Grund zu der Annahme, es stünde um die Demokratie und die politische Weisheit besser, wenn der Turm der Garnisonkirche nicht wieder aufgebaut würde?
Mir kommen in einem solchen Zusammenhang auch andere Gebäude in den Sinn. Im Berliner Dom wurden im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg grauenhafte Kriegspredigten gehalten; genau in dieser Kirche aber fand heute vor fünfzehn Jahren der erste deutsche Trauergottesdienst für die Opfer des 11. September 2001 statt. Das Mitgefühl mit den Opfern der Terroranschläge in New York und Washington fand dort seinen Ort. Durch das Brandenburger Tor in Berlin zog am 30. Januar 1933 ein Fackelzug für Adolf Hitler, der die Unterwerfung Berlins unter den Schrecken demonstrierte, den man als „nationale Erhebung“ bezeichnete; doch genau dieses Gebäude wurde zum Symbol der Einheit in Freiheit. Im September 2001 mahnte Bundespräsident Johannes Rau vor der Kulisse des Brandenburger Tors dazu, auch angesichts des Terrors die Freiheit zu bewahren. Und die amerikanische Sängerin Jocelyn Smith sang „Amazing grace“. Gebäude sind nicht magisch an den Geist der Vergangenheit gekettet; in ihnen kann ein neuer Geist Raum finden: erstaunliche Gnade.
Doch immer wieder derselbe Versuch: Gebäude auslöschen, den Geist der Vergangenheit versenken. Am 1. August 1951 zog eine Gruppe junger Leute in Blauhemden durch Potsdams zerstörte Innenstadt. An der Havel angekommen, ließen sie einen schwarzen Sarg zu Wasser. Auf ihm war in großen Buchstaben zu lesen: „Hier ruhen die letzten Hoffnungen der Kriegsbrandstifter auf einen alten Geist von Potsdam.“ Der Sarg war mit Steinen gefüllt. Das Versenken sollte garantiert gelingen. Doch stattdessen richtete sich der Sarg kerzengerade auf und segelte, weithin sichtbar, ein gutes Stück auf der Havel. Erst ein zweiter Versuch mit noch mehr Steinen brachte den schwarzen Sarg schließlich zum Verschwinden. Merke: Nicht martialisches Ersäufen, sondern kritisches Bedenken hilft zum verantwortlichen Umgang mit der Vergangenheit.
Dabei stützen wir uns auf den Geist von Coventry. Er zeigt auf seine Weise, dass aus Ruinen und beschädigten Bauwerken ein neuer Geist wachsen kann. Die Kathedrale von Coventry war im November 1940 einem deutschen Bombenangriff zum Opfer gefallen. 550 Menschen starben, große Teile der Innenstadt wurden zerstört, mit ihnen auch die spätmittelalterliche Kathedrale St. Michael. Drei große Zimmermannsnägel, die aus dem Dachstuhl der zerstörten Kathedrale stammten, wurden während der Aufräumarbeiten zu einem Kreuz zusammengefügt. Dieses Nagelkreuz wurde zum Zeichen dafür, dass aus den Trümmern der Zerstörung ein neuer Geist entstehen kann: ein Geist der Versöhnung und des Friedens. Die internationale Nagelkreuzgemeinschaft trägt diesen Geist über Grenzen hinweg, von England bis Südafrika, von Canada bis Rumänien, vom Sudan bis nach Deutschland. Die Nagelkreuzkapelle hier an der Garnisonkirche ist ein Glied dieser Gemeinschaft und bekennt sich zu diesem Geist. Wir laden dazu ein, an diesem Ort etwas Neues zu wagen: Geschichte erinnern, Verantwortung lernen, Versöhnung leben. Wir vertrauen auf die Zusage Jesu: „Dir sind deine Sünden vergeben. Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden.“
Amen.