„Zachäus: Immer nur halb, immer nur die Hälfte ...“ - Predigt über Lukas 19, 1-10 von Dörte Gebhard
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„Zachäus: Immer nur halb, immer nur die Hälfte ...“ - Predigt über Lukas 19, 1-10 von Dörte Gebhard

Predigt am 16. 6. 2013, am 3. Sonntag nach Trinitatis über Lk 19, 1-10: „Zachäus: Immer nur halb, immer nur die Hälfte ...“
  
  Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
  
  Liebe Gemeinde,
  der heute Predigttext steht im Evangelium nach Lukas – und nur dort! Die anderen Evangelisten überliefern diese Anekdote am Wegesrand und hoch darüber gar nicht:Und er (Jesus) ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
  Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
  
  Liebe Gemeinde,
  
  Ob ...
  Obwohl ...
  Ob es gelingt, Zachäus kennenzulernen?
  Obwohl manche ihm schon – gefühlt – hundertmal begegnet sind?
  Ob wir wenigstens halbwegs klug daraus werden?
  Obwohl ich die Geschichte doch schon x Mal gehört habe?
  Ob wir uns vorstellen können, dass wir weniger als die Hälfte wissen?
  Obwohl die meisten Zachäus schon immer, von Kindesbeinen an, von Sonntagsschulohren und Kindergottesdienstliedern an kennen?!
  Ob die Hälfte davon glückt in einer Predigt?
  
  I  ZACHÄUS
  
  Zachäus ist nur halb zu sehen. Er ist zwar mehr schlecht als recht, höchstens halb versteckt auf seinem Maulbeerbaum, aber verdeckt von mindestens einem halben Dutzend schwerster Vorurteile:
  
  1. Zachäus war reich. – Aber ob er wirklich ein schlimmer Lügner und Betrüger war, ist zu allen Zeiten gesagt und geschrieben, aber doch immer nur vermutet worden. Lukas sagt nichts darüber! Die Polizisten und die Richter und die Strengen und die Selbstgerechten und die vielen Anderen nehmen es einfach an. Reiche sind keineswegs alle gleich, es gibt alle Sorten von Reichtum: geerbten und gegönnten, gehüteten und genutzten, plötzlichen und hart erarbeiteten, ehrlichen und  erschlichenen und noch viele andere mehr.
  
  2. Zachäus war ein Oberer der Zöllner. – Aber wie er das wurde und warum und wie lange er es schon war, ob er Chefallüren hatte oder nicht und wer ihn alles dafür hasste oder sich bei ihm einschleimte, ob er es nur tat, um seine Familie durchzubringen oder ob er viele Vorteile bei den Römern hatte, bleibt uns für immer verborgen! Die, die noch nie in einer Diktatur gelebt haben, die noch nie unter einer Besatzungsmacht zu leiden hatten, scheinen es aber ganz genau zu wissen. Dabei ist unter solchen Ausnahmezuständen nicht zu entscheiden, wer Täter und wer Opfer ist, nicht wenige sind unfreiwillig beides gleichermassen, halb und halb. Das lehrten zuletzt die totalitären Staaten im 20. Jahrhundert.
  
  3. Zachäus war reich und ein Oberer der Zöllner. – Aber ob man zwingend die Berufssippenhaft auf jeden und alle und überall und immer anwenden kann? Ob jedenfalls Zachäus unter schwerer Einsamkeit litt, ob nie jemand in sein Haus als Gast einkehrte – das sind und bleiben die Gerüchte der murrenden Menge. Diese undefinierbare Menge ist es übrigens, die ihn Sünder nennt. Jesus liegen solche Bezeichnungen völlig fern, er nennt ihn bei seinem Namen. Aber die murrende Volksmenge mit ihren Mund-zu-Mund-Tätlichkeiten ist über die Jahrhunderte zu einer schier grenzenlosen Schar geworden und hat nicht gerade wenige Fans und Anhängerinnen unter Theologen und Psychologinnen.
  
  4. Zachäus war klein von Gestalt. – Aber ob er es lapidar als sein Schicksal ertrug oder richtige Minderwertigkeitskomplexe ausbrütete oder tendenziell alle Tage pfiffig auf die Bäume stieg, wenn es etwas zu sehen gab, ob er überhaupt wegen dieser Masche der beste Kletterer der Gegend war, ob er immer vorauslaufend, aber stets nur halb dem Trend gehorchte, ob er sich nie mit anderen in eine Reihe stellte – all das ist gar nicht überliefert. Aber alle sind sich einig, dass einer, der für schlecht gehalten wird, auch ganz schlecht ist. Obwohl das nach biblischer Weisheit allerhöchstens nur die halbe Wahrheit sein kann.
  
  5. Zachäus begehrte Jesus zu sehen. – Aber ob er sich das schon lange gewünscht und schon viel von ihm gehört hatte oder ob es nur so eine Blitzidee, so spontaner Einfall war, (einer, über den man sich nachher selbst am meisten wundert), ob er sich vom Wanderprediger etwas erhoffte oder ob er sich seiner Enttäuschungen schon vorher innerlich gewiss war das alles erfahren wir auch nicht. Menschen denken meistens erst nachher richtig nach, nicht sehr weit vor. Aber es war inzwischen leider sehr viel Zeit, Zachäus manche Absicht, manche Gesinnung, manchen Sinneswandel noch sehr nachträglich zu unterstellen.
  
  6. Zachäus war konfrontiert mit einer großen Menge Volk.  – Aber ob bei ihm Angst oder Neugier überwog, ist nicht gesagt. Ob er sich etwas aus seinem Namen machte – Zachäus, „der Gerechte“, ob er verhöhnt wurde, ob er ein schlechtes Gewissen hatte oder nicht – niemand kann das wissen. Aber die meisten Prediger und Predigerinnen haben ihn immer erstaunlich genau zu kennen gemeint. Ich glaube etwas anderes: Zachäus gehört zu den großen Unbekannten im Neuen Testament, auch nach dieser Predigt. Das ist gut so.
  
  II  JESUS
  
  Liebe Gemeinde,
  
  Jesus interessiert alles Bisherige überhaupt nicht! Nichts von dem, was die Christenheit seit Lukas so dringend beschäftigt, in seinen Bericht hinein- und dann wieder herausgelesen hat, ist ihm offenkundig wichtig. Jesus interessiert sich nur für das halbe Leben des Zachäus, und zwar genau für die Hälfte, die noch vor ihm liegt, aber gar nicht für das, was war, was auch immer es gewesen sein mag.
  
  1. Jesus sieht hinauf und sagt: Steig herunter! Die Sensation findet statt in dem, was er nicht fragt: „Wie bist Du da heraufgekommen? Warum bist Du denn auf den Baum geklettert? Warum bist Du denn auf den Baum geklettert? Warum bist Du denn auf den Baum geklettert?“ – es hätte nicht wieder aufgehört! Und irgendetwas davon hätte ich persönlich mir wohl nicht verkneifen können! Oder, noch schlimmer, noch dümmer: „Siehst Du nichts hier unten zwischen all den anderen ... Du Ärmster!“ Oder was einem normalerweise und leider herausrutscht aus merkwürdigem Mitleid.
  
  2. Jesus hat überhaupt keine einzige Frage zum Gewesenen. Nicht zum Beruf, zu Alter, Karriere und Familienverhältnissen, zu Besitz, Freundeskreis und Lebenserfahrung, zu den bisherigen Krisen und Herausforderungen im Leben, nicht zur Lieblingsautomarke, zu Schulabschluss und Ausbildung, Herkunft und Vorprägungen, Sprachkenntnissen, Hobbies, Führungsqualitäten und multi-tasking-Fähigkeiten. Jesus hat die Facebookseite einfach nicht gelesen und, da kann man sicher sein, er wird es auch nicht tun, denn:
  
  3. Jesus hat großen Hunger und zwar in diesem Moment. Zachäus muss nämlich eilend heruntersteigen. Jesus sagt: Ich muss ... Es war alles nur eine Sache von wenigen Augenblicken. Erstaunlicherweise gibt es kaum Mutmaßungen über Jesus mit niedrigem Blutzuckerspiegel und leicht dehydriert. Ob er gedacht hat: „Zum Glück gibt es hier einen Wohlhabenden, bei dem ich mit allen meinen Männern einkehren kann?“, oder: „Endlich ist überhaupt ein Einheimischer zu sehen?“, oder einfach: „Ich habe jetzt so richtig Appetit auf Olivenbrot, Feigen, Datteln, Nüsse und natürlich Wein – ob der das alles da hat?“
  
  4. Jesus kommt mit seiner geistesgegenwärtigen Dreistigkeit durch. Und Zachäus stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Man spürt es, hingegeben der großen Versuchung, wild zu spekulieren, ist die Predigt über Jesus inzwischen sehr weit fortgeschritten. Aber bei der Gastfreundschaft wird es wirklich spannend, denn die sogenannte Gastfreundschaft wird immer dann verlangt und gelobt, wenn es um fremde Gäste, gerade nicht um Freunde geht. Wahrscheinlich hatten die beiden sich nie zuvor gesehen. Ob sie sich später je nocheinmal wiedersahen?
  
  5. Jesus macht nichts anderes als essen, so kann man allerdings nur mutmaßen! Er sagt jedenfalls nichts Wegweisendes, dass es Lukas aufgeschrieben hätte, aber gleichwohl passiert jede Menge: Zachäus wird die Hälfte seines Besitzes hergeben. Wer wirklich reich ist, kann es sich gut leisten, die Hälfte für die größere Hälfte der Menschheit, für die Armen, herzugeben. Die Geschichte der Christenheit nach Zachäus kennt viele, grossartige und totale Helden, die alles hergegeben haben, die gänzlich und völlig auf alles verzichtet haben.
  Ich finde Zachäus wesentlich vernünftiger und realistischer, aber immer noch weit über dem Üblichen; denken Sie nur an die Diskussionen über den Spitzensteuersatz! Zachäus hatte von da oben im Wipfel offensichtlich wirklich einen gewissen Überblick, natürlich beileibe nicht die ganze Durchsicht. Bei den Betrogenen, wenn er jemanden betrogen hat, so heißt es ausdrücklich, überschlägt er sich zuletzt doch noch: die vierfache Summe will er zahlen. Was bedeutet das? Zachäus war reich, ob er ...?! Ende der Spekulation! Denn:
  
  6. Jesus spricht jetzt, quasi zum ‚geistlichen Nachtisch’, von der Zukunft und von der Seligkeit: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
  Vom kommenden Heil sprechen – das konnte Jesus besonders gut. Dem Hause des Zachäus widerfährt Heil. Jetzt ist unsere Phantasie gefragt, die wir bis hierher  etwas geschont haben. Denn Jesus, das war von Anfang an, vom ersten Vers an klar, ist nur auf der Durchreise, schnell ist er, sehr schnell ist alles vorbei.
  
  Ob Zachäus ein Zöllner blieb? Ob er weitermachte, wohl der alte, üble Generalverdacht der murrenden Menge gewiss nicht mit einer einzigen Mahlzeit zu verdauen war? Ob wir das jetzt schon probeweise denken können, dass es einen gerechten, ehrlichen Zöllner gegeben haben könnte, der weder reich noch arm war, sondern mit der Hälfte des Früheren gut auskam?
  Ob jeder und jede hier an einen Menschen denken kann, der zwar reich ist, aber gern und reichlich gibt, wenn man ihn bittet, der sogar spendet, wenn noch niemand dazu aufgerufen hat – so wie Jesus, der davon kein Wort sagt! Ob wir uns Menschen vorstellen können, die ein sorgenfreies und glückliches Leben führen und doch die Not der anderen Hälfte nicht übersehen? Das wäre gut.
  
  III  WIR
  
  Ob wir dabei ehrlich an uns selbst denken können? Ob wir das schaffen ohne falschen Stolz und Eitelkeit, aber auch ohne zu untertreiben, ohne vor lauter Bescheidenheit ganz zu schweigen? Wenn wir das noch nicht können, sollten wir wie Zachäus ein paar Schritte voraus laufen, auf einen Baum der eigenen Wahl steigen und von oben versuchen, uns halbwegs einen Überblick zu verschaffen, so wie einst der berühmte Zöllner. Danach werden wir auch eilends wieder unten auf dem Boden der Tatsachen stehen, wenn jemand kommt und ruft: Ich muss heute Deine Hilfe haben ...
  
  Liebe Gemeinde,
  ob ...
  Obwohl ...
  Ob es nächste Woche gelingt, einen gegenwärtigen Zachäus kennenzulernen? Der vielleicht ganz anders heißt, und das erste Mal in seinem Leben Sandsäcke geschleppt hat?! Das alles, obwohl er selbst schon hundertmal als ‚fauler Sack’ beschimpft wurde?
  Ob wir wenigstens halbwegs klug daraus werden?
  Obwohl heute noch viel mehr Zachäusgeschichten erzählt werden sollten, also unter anderem Geschichten von solchen, die mit ihrem Reichtum Gutes tun.
  Ob wir uns vorstellen können, dass wir weniger als die Hälfte wissen, wenn wir einem Menschen begegnen – ob er nun auf einem Baum sitzt oder freundlich in sein Haus einlädt? Ob er Deiche stabilisiert oder stinkenden Müll nach der Flut beseitigen hilft? Denn eines steht fest:
  Obwohl wir den alten Zachäus schon lange kennen, die Seligkeit, von der Jesus spricht, die haben auch wir noch vor uns.
  
  Und der Friede Gottes, der noch höher ist als die Bäume in Palästina und Israel, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,                                                                                                                                        Amen.