Pastorin Cornelia Trick: Der ältere Bruder glaubte wahrscheinlich, im falschen Film zu sein. Er schaute seine Hände an, dicke Schwielen hatte er vom harten Arbeiten bekommen. Keine freie Minute konnte er sich gönnen, weil er jetzt für alles allein zuständig war. Freundschaften sind auf der Strecke geblieben, nur das Jammern seines Vaters über den abgetauchten Bruder waren seine tägliche Begleitmusik. Das sollte jetzt einfach vergessen sein? Alles wie früher, Friede, Freude, Eierkuchen?
Er sollte jetzt mitfeiern und mit ansehen, wie sein sorgsam aufgezogenes Kalb bei diesem Fest gegessen wurde? Unvorstellbar.
Vielleicht gab es in dieser Familie auch eine Tochter. Nehmen wir einfach mal an, sie war schon länger zuhause ausgezogen, hatte ihre eigene Familie und besuchte ihren Vater und die Geschwister nur ab und zu. Auch sie wunderte sich über das große Fest. Für sie wurde auch nie ein Fest gefeiert, wenn sie nach Hause kam. Und ihr schlechtes Gewissen, ihre Lieben im Stich zu lassen, nahm ihr auch niemand ab. Ihr ging es eigentlich am besten, wenn sie nicht allzu oft den Vater besuchte. Sie konnte ihren verbitterten Bruder verstehen. Aber warf ihm insgeheim auch vor, sein Leben nie selbst in die Hand genommen zu haben. Jetzt bekam er die Quittung dafür.
Die Konflikte sind hier nur allzu deutlich. Konkurrenz, Neid, sich zurückgesetzt Fühlen, Unverständnis für die Motive des andern. Da schwelt so einiges unter der Decke und kein Wunder, wenn das Seil, das die Familie zusammenhält, kurz vor dem Zerreißen ist.
Da hilft ein Blick zum Vater. Er ließ den Sohn mitsamt dem Erbe ohne Vorwürfe ziehen. Der ließ ihn los und hielt doch Ausschau nach ihm. Den seidenen Faden, der ihn mit seinem Jüngsten verband, wollte er nicht reißen lassen. So sah er den Heimkehrer schon von weitem und lief ihm entgegen.
Kein Vorwurf kam über seine Lippen, stattdessen Freude und Erleichterung. Ja, sein Jüngster musste spüren, er war dem Vater sehr wichtig, der wollte nichts lieber, als dass es seinem Sohn gut ging.
Dem Jüngsten ging der Vater entgegen, aber genauso auch dem älteren Bruder. Er muss gespürt haben, dass der mit der neuen Situation nicht zurechtkam. Vielleicht war es ja auch da eine lange Geschichte von Erfahrungen, nur die zweite Geige zu spielen. Der Vater kommt dem verletzten Bruder entgegen und versichert ihn neu seiner Liebe. Alles, was dem Vater gehört, gehört auch dem Sohn. Längst hätte er das Kalb schlachten können und selbst eine Party feiern. Der Vater hätte sich gefreut.
Und die Tochter, die wir einfach mal zu der Familie dazu gedichtet haben? Der Vater wird wohl auch ihr entgegen gekommen sein. Er wird die Selbstständigkeit der Tochter gewürdigt haben. Nie hat sie etwas von ihm verlangt oder gebraucht. Ihre Existenz hat sie aus eigener Kraft aufgebaut. Der Vater hätte sie wohl auch zum Fest eingeladen und ihr versichert, dass er sie liebe und ihre Selbstständigkeit schätze. Vielleicht hätte er sie eingeladen, doch ruhig auch ihre Bedürfnisse zu äußern. Die Familie nicht nur aus der Zuschauerperspektive zu betrachten, sondern in ihr zu leben. Er wird ihr Mut gemacht haben, ein bisschen näher zu rücken und das Geben und Nehmen selbst zu erfahren.
Der Vater, von dem Jesus hier erzählte, steht für Gott.
Er geht uns entgegen, egal, ob wir gerade in einer tiefen Lebenskrise stecken, uns verletzt und zurückgesetzt fühlen oder meinen, auch ohne ihn gut zurecht zu kommen. Er geht uns entgegen, weil er uns versichern will, wir sind geliebt. Er hat uns im Blick und weiß, was wir brauchen. Unsere Defizite sind ihm nicht egal. Er macht uns fähig, unsere Wunden anzuschauen und die losen Enden unseres Lebensseils in die Hand zu nehmen. Er reißt uns heraus aus der Schmollecke und ermutigt uns, unsere Beziehung mit seiner Hilfe heilen zu lassen.
Seile reparieren
Pastorin Cornelia Trick: Ich sehe, Roland Ott ist mit dem Seil schon ein ganzes Stück vorangekommen.
Roland, du hast dir von einem Seilermeister zeigen lassen, wie man ein Seil reparieren kann.
Roland Ott: Damit man das Seil wieder benutzen kann, muss man es erst einmal ein Stück aufdröseln. So wie ich es hier gemacht habe. Und jetzt kann ich jedes einzelne Ende wieder mit dem anderen verbinden.
Pastorin Cornelia Trick: Schwer vorstellbar, dass das am Ende wirklich hält.
Roland Ott: Wenn ich es sorgfältig mache, sollte das Seil am Ende wieder normal belastbar sein. Allerdings bleibt hier eine etwas dickere Stelle. Man sieht also, dass es repariert worden ist.
Pastorin Cornelia Trick: Etwa so, wie bei diesem hier. Nun ist eine Beziehung kein Seil. Aber ich finde gut an dem Vergleich, dass man sich manchmal die einzelnen Seilenden anschauen muss. Manchmal muss man genau schauen, was war denn an meinem Ende des Seils – und was war an deinem? Ich habe das damals so erlebt. Und wie war das bei dir?
Conny hat uns eingangs von einem erzählt – wir haben ihn Onkel Herbert genannt – bei dem zeigte eine fehlende Eiskugel, dass für ihn das verbindende Seil schon arg mitgenommen war.
Cornelia Ott: Ich glaube, dass diese Eiskugelgeschichte durchaus ihr Gutes haben kann. Endlich sind die alten Geschichten mal ans Licht gekommen, die abgerissenen Fäden werden jetzt sichtbar, sie können aufgedröselt werden. Wir könnten jetzt über alte Zeiten sprechen und wie wir sie aus unseren ganz verschiedenen Blickwinkeln erlebt haben.
Und Herbert könnte berichten, was ihn so aus der Fassung gebracht hat. Und dass es eigentlich gar nicht um eine Eiskugel geht, sondern um sein Gefühl, immer schon zurückgesetzt worden zu sein. Vielleicht wird Herbert beim nächsten Mal darüber schmunzeln und sagen können: Hey, mir fehlt schon wieder eine Schokoladenkugel, kann ich noch eine bekommen?
Pastorin Cornelia Trick: Lose Enden können wieder zusammenkommen, Beziehungen können heilen. Weil Gott uns seine Liebe ohne Bedingungen schenkt, werden wir fähig, uns mit der eigenen Geschichte, unserem Seilende, auseinanderzusetzen. Buchstäblich aufdröseln können wir dieses Seilende. Wir werden merken: Nicht die anderen sind immer schuld, ich habe meinen eigenen Anteil an den Konflikten. In manches Feuer habe ich Öl gekippt, so oft war ich überempfindlich und habe Dinge in meine Beziehungen hinein interpretiert, die nie da waren. Einem offenen Gespräch bin ich ausgewichen aus Angst, auch schmerzhafte Wahrheiten über mich zu hören. Wir werden begreifen, woher Spannungen und Verletzungen an unserem Seilende kommen.
Dabei werden wir uns auch unseren Wunden stellen müssen. Was hat mich so verletzt? Warum heilen die Stellen nicht von selbst? Und will ich überhaupt, dass die Verletzungen heilen, oder habe ich mich damit längst gemütlich arrangiert? Mag sein, die anderen sind genauso verletzt wie ich, haben sich damit längst abgefunden, und keiner macht den ersten Schritt. Ja, der erste Schritt ist wohl der entscheidende. Im Gleichnis ist ihn der Vater gegangen. Gott gibt uns Kraft, diesen ersten Schritt aufeinander zuzugehen, auch wenn unsere Beziehung nur noch vom losen Faden gehalten wird. Einen Versuch ist es wert, und wer weiß, ob nicht die losen Enden wieder zueinander finden wie die Enden des kaputten Seils.
Doch da gibt es noch die anderen Situationen. Für eine Versöhnung ist es zu spät. Mein Vater, meine Mutter lebt nicht mehr, meine Freundin hat vor Jahren den Kontakt rigoros abgebrochen, seitdem weiß ich nichts mehr von ihr. Hier muss ich wohl allein mit meinem losen Seilende Frieden schließen. Der Vater im Gleichnis vergibt den Söhnen, er vergibt auch mir. Seine Vergebung möchte ich annehmen und das abgerissene Seil in die Box „Lebenserfahrungen“ legen. Es wird mich nun nicht mehr dauernd beschäftigen, sondern mir nur ab und zu, wenn ich einen Blick in diese Box werfe, klar machen: Es gab eine Zeit, da war diese Person wichtig für mich, und dann haben sich unsere Wege getrennt. Das ist schade, ich hätte es mir anders gewünscht, aber es belastet mich nicht mehr und hält mich nicht mehr gefangen.
Ich bin frei, wieder neue Beziehungen einzugehen, mich mit anderen Seilen zu verknüpfen.
Schauen wir nochmal auf den Idealzustand, das Seil konnte repariert werden, beide losen Enden fanden wieder zusammen, wir konnten miteinander einen Neuanfang wagen. Trotz Reparatur ist diese Stelle dicker als das übrige Seil, Narben werden wohl auch bei uns bleiben. Sie können eine gute Erinnerung sein, dass auch ich meine Anteile an den Zerreißproben des Miteinanders habe, dass ich die Liebe Gottes für den ersten Schritt brauche, dass Beziehungen Handarbeit sind und Fingerspitzengefühl brauchen. Vielleicht wäre solche Beziehungshandarbeit ja auch eine Möglichkeit für Herbert, ein neues Kapitel mit seinen Lieben aufzuschlagen.
Amen.