2. Advent: "Das Werben des Liebhabers" - Predigt über Hoheslied 2, 8-13 von Alexandra Dierks

Das Werben des Liebhabers
Frühlingsgefühle – im Dezember. Blütenträume – im Advent. Liebesgeflüster – im evangelischen Gottesdienst. Was soll man davon halten?
Vermutlich fällt es den meisten von uns nicht ganz leicht zu entscheiden, ob wir die Worte aus dem Hohenlied, die für den 2. Advent als Predigttext vorgeschlagen sind, nun eigentlich passend finden oder nicht. Sie klingen ja erst einmal wunderschön, zärtlich und zugewandt, voller Liebe und Leidenschaft. Solche Töne sind wir in unserer Kirche eher nicht gewöhnt (wenn man einmal absieht von der Bachkantate für den Ewigkeitssonntag, „Wachet auf, ruft uns die Stimmer“, BWV 140).
Manche werden die offene Erotik dieser Worte für Kirche und Gottesdienst vermutlich eher unpassend finden; diejenigen, die auf Aussagen und Ansagen zu Gesellschaft und Gegenwart hoffen, werden an dieser Stelle nicht fündig; und wer ernst nehmen will, dass der Advent eine Zeit der Vorbereitung, der Besinnung, der Buße ist, wird wohl der Ansicht sein, dass die Rede vom Winter, der vergangen ist und von den Blumen, die aufgegangen sind im Lande, viel zu früh kommt. Der Winter ist schließlich noch nicht vergangen, weder der meteorologische noch der metaphorische. Noch ist es dunkel und kalt.  
Aber nun kommen sie uns aus der Bibel entgegen, diese Frühlingsgefühle, diese Blütenträume, dieses Liebesgeflüster. Das ist das Hohelied ja zunächst einmal – Liebesdichtung. Poetische Erotik oder erotische Poesie. Sie führt uns in das Reich der Liebe und der Beziehung, in den Raum der Nähe und Intimität. Die Frage nach Gott ist in dieser Liebesdichtung, obwohl sie sich in der Bibel findet, erst einmal gar nicht im Blick.
Dennoch ist es nicht verwunderlich, dass spätestens seit Origenes (ca. 185-ca. 254 n. Chr.) das Hohelied in der christlichen Tradition gern auf die Beziehung zwischen Gott und den Menschen, Gott und der Kirche, Gott und der Seele hin ausgelegt wird (vgl. GCS, Origenes Werke Bd. VIII, 61ff.). Auch wenn wir als Protestanten exegetisch normalerweise anders vorgehen, ist es an dieser Stelle doch plausibel, sich einmal auf diese Sicht der Dinge einzulassen. Denn unsere Beziehung zu Gott hat auch mit Liebe und Nähe, mit Intimität und Sehnsucht zu tun. Wir reden nur selten darüber.
Schauen wir also hin. Was sehen wir? Eine junge, verliebte Frau erzählt davon, dass ihr Geliebter auf dem Wege zu ihr ist. Sie kann seine Stimme hören und sie sieht, wie er kraftvoll und leichtfüßig zu ihr eilt. Sie hört seine Stimme, sie hört, wie er sie bittet, zu ihm zu kommen. Denn noch ist sie nicht bei ihm, vielmehr: noch ist er nicht bei ihr. Siehe, er steht hinter unserer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Er draußen, sie drinnen; er lockend und werbend, sie sehnsüchtig lauschend; er draußen am Fenster, sie drinnen hinter dem Gitter. Der Geliebte ist nahe, aber er kann nur durch das Fenster zu ihr sprechen. Er ruft sie: Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Sie hört es, aber sie kommt noch nicht heraus, sie bleibt noch da, wo man eben bleibt, wenn es Winter ist: im Hause. Sie ist noch nicht da, wo das Leben blüht. Und er, der schon da ist, ruft: Komm!
Aus unseren Adventslieder kennen wir das andersherum: Da sind wir diejenigen, die immer wieder sagen, Komm. Nun komm, der Heiden Heiland (EG 4, 1); Komm, o mein Heiland Jesu Christ (EG 1, 5); Komm, Jesu Christe, lieber Herr (EG 6, 2); O komm, o komm, du Morgenstern (EG 19). In der Alttestamentlichen Lesung für heute (Jes 63,15-64,3, siehe Begleitheft zur Arbeit an der Perikopenrevision, 46) wird Gott leidenschaftlich angefleht, doch endlich den Himmel zu zerreißen und auf die Erde zu kommen. Advent heißt für uns normalerweise: Wir warten im Dunkeln. Wir warten, wir sehnen uns nach Gott, wir spüren schmerzlich, dass wir nichts von ihm sehen, wir wünschen uns, dass wir etwas merken und erfahren von ihm. Und sowieso bitten wir doch in jedem Vater unser: Dein Reich komme.
Und hier jetzt: Das Bild eines Liebenden, schon gekommen ist, der zu seiner Geliebten geeilt ist, der seiner Geliebten schon ganz nahe gekommen ist und nur noch durch eine Wand von ihr getrennt ist; der sie herauslocken will aus dem Haus in die Freiheit der Liebe. Wir können es deuten als ein Bild für die Sehnsucht Gottes, für seine Sehnsucht nach uns Menschen, nach einer vertrauenden, liebenden, erfüllten Beziehung zwischen uns und ihm. Er ist ja längst zu uns geeilt. Er hat sich ja längst auf den Weg gemacht. Er ist gekommen, ist geboren worden in Jesus Christus – zu Weihnachten werden wir es wieder feiern. Und er ruft uns heraus aus dem Haus, aus allem, was Sicherheit, zugleich aber auch Einschränkung bedeutet, und wirbt um unser Vertrauen. Komm, meine Schöne, komm her!
An dieser Stelle können wir uns fragen: In welchem Haus sitzen wir? Welche Wand steht jetzt zwischen Gott und mir? Aus welchem inneren Gefängnis versucht er, mich heraus zu rufen? In welchem Winter stecke ich noch fest?
Vielleicht ist etwas in mir festgefroren durch Schmerz und Verlust. Vielleicht ist Winter in meiner Seele, weil zu viele gestorben sind, weil eine Liebe zerbrochen ist, weil mir etwas Wichtiges versagt geblieben ist. Für eine neue, intensive Beziehung zu Gott, für Gefühle und Leidenschaft fehlt einfach die Kraft.
Vielleicht ist aber auch gar nichts Dramatisches passiert, sondern ich bin einfach nur eingehaust in einer Routine des Lebens und Glaubens, die durchaus gut läuft, aber ohne besondere Ausschläge. Alles schön eingespielt und vertraut, alles ruhig, berechenbar und sicher wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche. Warum sollte ich das aufs Spiel setzen?
Vielleicht steht zwischen mir und Gott aber auch eine Wand des Misstrauens. Vielleicht habe ich etwas erleben und erleiden müssen, bei dem ich mich von Gott im Stich gelassen fühlte. Das wird mir nicht nochmal passieren. Ich lasse ihn nicht mehr ganz an mich heran, ich verlasse mich nicht mehr auf ihn. Sein Wort höre ich allenfalls durch vergitterte Fenster, indirekt, in schönen Konzerten vielleicht oder kultivierten Predigten, aber mein Herz, meine Seele bleiben unter Kontrolle und geschützt.
Es kann noch unendlich viele andere Gründe geben, warum wir das mit Gott und dem Glauben und der Kirche eher gemäßigt angehen. Warum wir ganz gern drinnen im Hause bleiben, in unseren gewohnten Räumen. Warum wir Gott hinter der Wand stehen lassen und davon ausgehen, dass Winter ist und noch lange kein Frühling.
Aber dabei muss es nicht bleiben. Wir können es auch wagen, in Gott diesen leidenschaftlichen, werbenden Liebhaber zu sehen. Im Lichte der Worte aus dem Hohenlied kann Advent heißen: Sich neu zu öffnen für den Gott, der um uns wirbt wie ein Liebhaber um seine Geliebte. Die Verheißung zu hören, dass der Winter vergeht und dass neues Leben aufbricht. Herauszugehen aus dem Haus der Gewohnheit und Sicherheit und einen neuen Glaubensfrühling zu erleben. Das große Komm! zu hören und es wagen, ihm zu folgen.
Advent kann aber auch heißen: Sehen, spüren, erkennen, wo noch Winter ist. Sehen, spüren, erkennen, wo die Wand ist. Erkennen, was uns noch hindert, was uns von Gott fernhält, oder was ihn von uns fernhält, und sich dem stellen.
Heute hören wir zärtliche, sehnsüchtige Worte. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her. Wagen wir es, sie als Gottes Worte zu hören. Wagen wir es, sie zu hören als das Werben des Großen Liebhabers um jede und jeden von uns. Und antworten wir darauf, wie wir es jetzt eben können. Amen.