3. Advent: „Ein Wimmeltext für jeden Morgen“ – Predigt über Lukas 1, 67-79 von Jens Jacobi
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3. Advent: „Ein Wimmeltext für jeden Morgen“ – Predigt über Lukas 1, 67-79 von Jens Jacobi

Ein Wimmeltext für jeden Morgen
  
  Kinder lieben Wimmelbilder. Das sind Bilder auf denen eine große Szene, z.B. ein Bauernhof, ein Zoo oder eine Winterlandschaft dargestellt sind. Je länger und intensiver man sich das Bild betrachtet, desto mehr kleine Begebenheiten entdeckt man darin. Viele detaillierte Darstellungen von Menschen, Tieren und Dingen sind zu finden.
  Wenn man das Bild vielleicht einen Tag später wieder betrachtet, entdeckt man wieder Neues oder Bekanntes noch einmal.
  
  Manche Bibeltexte sind wie Wimmelbilder. Ich kann sie gar nicht auf die Schnelle im Ganzen erfassen. Es wimmelt von Gedanken und Bildern. Man könnte also von einem Wimmeltext reden.
  
  Die Bibel erzählt uns vom Priester Zacharias. Als seine Frau Elisabeth schwanger war, musste Zacharias schweigen. Nach der Geburt des Sohnes, den wir später Geborenen Johannes den Täufer nennen, kommt dem Vater die Sprache wieder. Die ersten Worte, die er fand, waren ein Wimmeltext. Ein Wiegenlied voller Gedanken, das wir im Evangelium nach Lukas in Kapitel 1 in den Versen 67 bis 79 lesen können:
  
  67 Und sein Vater Zacharias wurde vom Heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach:
  68 Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk
  69 und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David
  70 - wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten -,
  71 dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen,
  72 und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund
  73 und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben,
  74 dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde,
  75 ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.
  76 Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest
  77 und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden,
  78 durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe,
  79 damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.
  
  Laut der Bibel sind dies die ersten Worte, die ein Vater seinem neugeborenen Sohn schenkt. Dafür sind sie dann doch unerwartet. Keine Begrüßung, kein liebevolles Entzücken hören wir. Vielmehr wird aus dem Priester Zacharias ein Prophet, der vorhersagt, was Gott mit diesem Jungen plant.
  Ob wohl der Zacharias über seine eigenen Worte erschrocken war? Wer will seinem Kind in den ersten Lebensstunden schon so viel aufbürden?
  
  Analysiert man den Text wie im Deutsch-Unterricht, zeigt sich, dass er einen sehr deutlichen Aufbau aufweist. Er scheint geradezu komponiert.
  Doch hinter dieser geordneten Struktur wimmelt es von Bildern und Vorstellungen. Bezüge auf Ereignisse in der Vergangenheit und auf Hoffnungen in die Zukunft folgen in schnellem Ablauf aufeinander.
  Wenn man nicht aufpasst, rauschen die Worte als theoretische Richtigkeiten an einem vorbei.
  
  Damit uns das nicht passiert, hat die Tradition der christlichen Gemeinschaft diesen Worten eine ganz besondere Stellung gegeben.
  Dieser Text wird oft gesprochen, wenn irgendwo auf der Welt ein Morgengebet in liturgischer Art gefeiert wird.
  
  Wahrscheinlich seit Jahrhunderten ist kein Morgen vergangen, an dem nicht an vielen Orten auf dieser Erde Christen vom „aufgehenden Licht aus der Höhe“ gesungen oder gelesen haben.
  Das ist nicht nur in Klöstern so. Auch im Ablauf des Morgengebets in unserem Gesangbuch finden wir die Worte.
  So hat dieser Text eine ungeahnte Verbreitung erfahren.
  Er dehnt sich räumlich aus, denn seine Worte hallen von einem Ende der Erde zum anderen.
  Er hat sich durch die Zeiten verbreitet, denn er begleitet die Geschichte unserer Religion.
  Der Text selbst schlägt den Bogen durch die Zeit sogar noch weiter: Er bindet die jüdischen Propheten mit ein und bezieht sich auf den Stammvater Abraham und Gottes Bund mit seinem Volk.
  
  Wenn man diesen Text morgens liest, kann es nicht immer um das große Ganze gehen. Es ist eben ein Wimmeltext. Ich entdecke heute eine besondere Begebenheit und wenn ich morgen darauf höre, fasziniert mich eventuell ein anderer Gedanke. Ich höre jedes Mal das Ganze, aber ein Teil tritt aus der Menge der wohl geformten Worte heraus und spricht mich heute an. Dieser Ausschnitt hebt sich heraus, weil er etwas zu Wort kommen lässt, das ich kenne oder eventuell erhoffe.
  
  Vielleicht ist es bei Dir die Rede von der Rettung vor Feinden oder, im übertragenen Sinne, von Bösem, das Du erhoffst oder erlebt hast.
  Vielleicht ist es Barmherzigkeit, die Du zeigen willst.
  Oder das Versprechen von Vergebung hilft Dir heute weiter.
  Suchst Du Licht in der Finsternis oder bemerkst Du die Schatten des Todes?
  Hast Du erlebt, wie Gott Deine Füße auf den Weg des Friedens gestellt hat?
  
  Was es auch ist. Wenn Du merkst, dass Du angesprochen wirst, dann stehst Du selbst schon mitten in dem Wimmelbild, das der Text zeichnet.
  Dein Nachbar steht vielleicht an einer ganz anderen Stelle, weil ihn heute ein ganz anderer Gedanke angesprochen hat.
  
  So bleiben wir an verschiedenen Stellen hängen. Wir wimmeln durch den Text. Mit den konkreten Erfahrungen, die wir damit verbinden.
  
  Doch ergibt sich daraus nicht zwangsläufig ein großes Chaos durch Raum und Zeit. Durch uns bekommt das Durcheinander auch wieder eine Ordnung.
  Denn unsere persönlichen Erfahrungen, die uns beim hören des Textes in Erinnerung kommen können, sind wie kostbare Perlen. Alle Perlen zusammen ergeben eine Kette.
  
  Ihren Anfang hat die Kette bei denen, die Gott als Erste kennen lernten. Abraham wird hier genannt. Dann geht es durch die Jahrhunderte. Die Kette setzt sich ununterbrochen durch die Zeiten fort. Heute fädeln wir unsere Perlen dazu.
  Jede Perle dieser Kette steht für eine konkrete Erfahrung mit Gott. Jedes dieser Erlebnisse zeigt, dass der Satz, der das „Wiegenlied“ einleitet, nicht nur fromme Theorie ist: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk.“
  
  Gott hat uns besucht und wir kennen seinen Namen: Jesus Christus.
  In den Wimmeltexten unserer Bibel entdecken wir, dass wir mit unsere Fragen an Gott, mit unseren Hoffnungen auf Gott und mit unseren Erfahrungen mit Gott nicht alleine sind.
  Wir merken: Gott hat sein Volk nicht nur besucht, er besucht uns weiterhin.
  Amen.
  
  
  Verwendete Literatur: Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 20003