Alles Tun ist Antwort - Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Søren Schwesig
10, 25-37

Alles Tun ist Antwort - Predigt zu Lukas 10, 25-37 von Søren Schwesig

Alles Tun ist Antwort

Liebe Gemeinde,

wir werden heute in einen gelehrten Disput verwickelt. Es geht um nichts weniger als den Sinn des Lebens. Um ewiges Leben. Aber dieses Gespräch zwischen einem uns unbekannten Schriftgelehrten und dem anderen Schriftgelehrten, den wir schon besser kennen, ist merkwürdig abstrakt. Jesus wird gefragt nach dem Sinn des Lebens. Er gibt keine fertige Antwort, sondern gibt die Frage zurück: „Wo würdest du eine Antwort suchen auf diese Frage nach dem Sinn des Lebens?“ Und der Schriftgelehrte antwortet in der einem frommen Juden einzig möglichen Weise, nämlich mit den Worten der Schrift:

25  Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was Muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).  28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

Richtig hat er geantwortet, unser Schriftgelehrter. Auch wir kennen diese Antwort. Wir lassen sie unsere Kinder im Konfirmandenunterricht lernen als Zusammenfassung aller Gebote. Wir lehren, dass die Liebe zu Gott und dem Nächsten allein zu einem sinnvollen Leben führen kann. Zu einem Leben, das über den Tod hinausgeht. Richtig hat er geantwortet, unser Schriftgelehrter.

Aber das Gespräch zwischen den beiden bleibt merkwürdig abstrakt. Es herrscht gelehrsame Distanz zwischen den beiden und auch zwischen den beiden und dem Thema, das sie besprechen. Dabei geht es doch um den Sinn des Lebens, das ewige Leben.

Also bohrt der Gesprächspartner Jesu weiter. Er will es genauer wissen und will vor allem wissen, was dieses Bibelwort für ihn bedeutet. Und so fragt er weiter an der einzig möglichen Stelle, die eine Nachfrage erlaubt. An der einzig möglichen Stelle, die einen Platz für ihn als Person hat. An dieser Stelle fragt er nach.

29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.

36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Was jetzt folgt ist Schweigen. Nachdenken. Eine Geschichte, die an Eindeutigkeit nun wirklich nicht mehr zu überbieten ist. Und es arbeitet in dem frommen Mann. Er sucht nach seiner Rolle in der Geschichte. Wäre ich dem Überfallenen zur Hilfe geeilt - wissend wie Priester und Levit, dass man sich vor und nach dem Tempeldienst nach dem Gesetz Gottes nicht mit Toten oder Halbtoten verunreinigen darf? Hätte ich es diesem nicht rechtgläubigen Samaritaner zugetraut, dass er zu einem solchen Liebeswerk fähig ist? Es arbeitet in dem frommen Mann.

Überrascht hat ihn, dass Jesus am Ende der Geschichte seine eigene Frage umdreht. Jesus fragt nicht mehr: „Wer ist dein Nächster?“ Nein, er fragt: „Wer ist wohl dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten geworden?“ Auch das macht ihn nachdenklich. Aber die Antwort ist klar. Daran ist nicht zu rütteln: Dem Überfallenen wurde der zum Nächsten, der sich seiner erbarmte. Den das Schicksal des Geschlagenen nicht kalt ließ, der half, wo es nötig war.

So weit, so gut: „So geh hin und tue desgleichen!“

Wir hören diese Aufforderung 2000 Jahre später. Und haben einen Arbeiter-Samariter-Dienst, ein diakonisches Netzwerk, einen Sozialstaat aufgebaut, der sich kümmert um all die, die in Not geraten sind. So weit, so gut. Wir haben die Geschichte verstanden.

Aber, haben wir auch schon einmal die andere Perspektive versucht? Vermögen wir es wegzukommen von der relativ engen Frage, wie weit mein Radius der Nächstenliebe geht? Was ich selbst tun muss, was ich an einen sozialen Dienst delegieren kann und ob nicht dringend wieder einmal ein Spende für die unter die Räuber Gefallenen nötig wäre?

Vermögen wir wegzukommen von der Distanz des Schriftgelehrten, die wir schon so sehr verinnerlicht haben und mit der die Antworten so leicht von den Lippen gehen?

Lassen sie uns einmal die Perspektive wechseln. Versetzen wir uns in den hinein, der unter die Räuber gefallen ist und verzweifelt nach Hilfe schreit. Einmal mit den Ohren des Überfallenen hören, sein Herzklopfen spüren, das Wechselspiel von Hoffnung und Enttäuschung, Bangen, ob nicht doch einer hört und sieht und hilft.

Da gerät die alleinerziehende Mutter mit ihrem Job unter die Räder der wirtschaftlichen Rezession. Die Firma macht pleite, sie verliert die Arbeit und versucht verzweifelt, sich und ihre beiden Kinder nicht an den dürftigen Tropf der Sozialhilfe hängen zu müssen. So schreibt sie unzählige Bewerbungen und versucht eine neue Stelle zu finden und ruft und schreit und ist verzweifelt, weil von allen eine Absage kommt. „Tut uns leid, aber wir haben zwingende Gründe, warum wir nicht helfen können!“

Eine andere Frau ist ganz anders unter die Räuber gefallen. Auch sie stöhnt und ruft verzweifelt. Sie stöhnt unter der Last, dass sie als Lehrerin immer größere Klassen unterrichten muss, dass die Kinder immer schwieriger werden. Dass das ganze Engagement, einen interessanten und ansprechenden Unterricht zu gestalten, nicht in Stunden zu zählen ist, aber doch so wenig anerkannt wird. Auch sie liegt geschlagen am Wegrand. Die Arbeit erschlägt sie und alle gehen vorbei. Keiner mag das verstehen. Sie eilen weiter und sagen: „Sei froh, dass du Arbeit hast. Andere haben’s auch nicht leicht!“

Und die Dritte hat ein Kind verloren. Es war noch nicht geboren. Ganz klein, noch kaum zu sehen. Aber es war ihr Kind. Ihr geliebtes Kind, auf das sie sich gefreut hat. Ein Teil von ihr. Und es durfte nicht leben. Sie ist verzweifelt, untröstlich über den Verlust, geschlagen, verletzt, ins Mark verletzt. Und die Menschen gehen an ihr vorbei und sagen: „Das kommt vor. Vielleicht bekommst du ja noch ein Kind. Nimm’s doch nicht so schwer.“ Und gehen alle an ihr vorbei und lassen sie liegen am Wegrand und bleiben ihr fern, so unendlich fern. Hilft denn niemand?

Doch. Einer kommt nahe. Es jammert ihn. Er leidet im Innersten mit. All der Schmerz, der nicht heraus darf, all die Verzweiflung, die keiner versteht. Er beugt sich herab, wischt die Tränen ab, verbindet die Wunden.

Martin Luther schreibt: „Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

In vielen Situationen unseres Lebens gibt es für uns nur einen Samariter, der unsere innerste Not kennt und hilft: Jesus Christus. Gott sei Dank, gibt es diesen Samariter. Gott sei Dank gibt es ihn, der nicht danach fragt, warum ich hier liege, wer und was mir zugesetzt hat. Er fragt nicht, ob ich nicht irgendwie doch selbst Schuld bin an meiner Situation und verabreicht nicht die üblichen Trostpflästerchen: Nimm’s nicht so tragisch. Es kommen wieder bessere Zeiten!

Nein, dieser Samariter kommt ganz nahe, beugt sich zu mir herunter, blickt ins Herz und sieht all die verborgenen Wunden, die das Leben geschlagen hat. Er verbindet sie und bringt mich weg vom finsteren Wegrand an einen sicheren Ort. Dort kann ich aufatmen, sein, wer ich bin, in Ruhe genesen. Und mein Samariter garantiert mir einen sicheren Platz im Haus des Vaters.

„Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Ich habe einen sicheren Ort gefunden, die Wunden sind verbunden, ich bin gerettet – all das macht alles Weitere leicht. Weil es mir leicht ums Herz geworden ist, weil in meinem Herzen eigentlich nur noch Dankbarkeit ist, gehe ich heraus, werde dem zum Nächsten, der mich braucht: „Und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Ich, der ich mich selbst als Geretteten begreife, tue mich leichter, denjenigen zu erkennen, der jetzt im Augenblick meine Hilfe braucht.

Vielleicht sind es die Kinder, für die eine Mutter ohne Arbeit und mit wenig Geld viel wichtiger und wertvoller ist als eine verzweifelte und in ihrem Selbstwertgefühl zutiefst erschütterte Mutter.

Vielleicht ist es eine ausländische Schülerin, die die Rückendeckung und Unterstützung der Lehrerin braucht, weil sie sonst keine hat.

Vielleicht sind es andere Mütter, die es nicht wagen, über ihre verlorenen Kinder zu reden und das Leid um das nicht geborene Leben tief in sich vergraben haben.

Alles Tun, das meinem Gerettet-Sein entspringt, alle Liebe, die aus meinem Geliebt-Werden entsteht, ist Antwort auf das, was ich erfahren habe.

Es gibt so viele, denen wir zum Nächsten werden können. Aber versuchen wir sie nicht krampfhaft zu finden. Denn dann wäre die Gefahr groß, dass auch wir vorübergehen, indem wir unser soziales Gewissen beruhigen mit einer Spende für Brot für die Welt oder einem Besuch im Altenheim oder einem sozialen Jahr in einer Behinderteneinrichtung. Manchmal gehen wir an denen, die uns brauchen, tagtäglich vorüber und bemerken ihre Hilferufe nicht. Denn alles andere ist wichtiger. Aber meistens, gehen wir direkt an ihnen vorbei.

Ich wünsche uns Augen und Ohren, die die kleine und große Not sehen. Ich wünsche uns Augen und Ohren für Menschen, die gerade auf unsere Hilfe warten. Manchmal sind es ganz nahe Menschen, in der eigenen Familie und im eigenen Freundeskreis. Und manchmal sind es ganz Fremde und Ferne.

Dafür gibt es keine Regel, wer heute oder morgen oder übermorgen mein Nächster ist. Aber dass es auf unserem Weg durchs Leben immer wieder Menschen gibt, die uns brauchen und denen wir Nächste oder Nächster werden können, daran besteht kein Zweifel.

Aber vergessen wir nie: Wir finden sie nur und verstehen sie nur und kommen ihnen auch dann nur wirklich nahe, wenn wir getragen sind von der tiefen Erfahrung, dass einer uns nahe gekommen ist, uns vor dem Verderben und sicheren Tod gerettet hat, uns einen sicheren Ort teuer erkauft hat und wir im Haus dem Vaters wohnen dürfen heute und allezeit.

„Darum gibt’s nur einen Samariter, durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein, und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“

Amen.