Alternativen – noch im Dunkeln - Predigt zu Jesaja 30,8-17 von Dörte Gebhard
30,8-17

Alternativen – noch im Dunkeln - Predigt zu Jesaja 30,8-17 von Dörte Gebhard

Vorbemerkung: Die Predigt wird in der dunklen Kirche gehalten, lediglich am Boden ist ein Weg aus Lichtern markiert.

 

Liebe Gemeinde,
wir sind zusammen im Dunkeln.
Morgen ist es ein Jahr her, dass wir mit der Jahreslosung aus Jesaja 66 aufgebrochen sind. Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Jes 66,13)
Das stand am Anfang, als das Jahr 2016 vor unseren Augen noch im Dunkeln lag.

Morgen vor einem Jahr ahnten wir noch nicht, wie viel Trost in 2016 nötig sein würde. Und wie viele noch untröstlich sein würden, wenn wieder ein neues Jahr beginnt: weil ein naher Mensch starb, weil eine Krankheit alle Lebenskraft beanspruchte, weil die Kriege und Anschläge in ihrer rasenden Gier verschlangen, was zuvor in Jahren, Jahrhunderten, Jahrtausenden gebaut und gewachsen war – Kultur und ein Dach über dem Kopf, Zusammenleben der Verschiedenen, Neugier und Respekt vor dem Fremden, Hoffnung auf Neues, Vertrauen zum Nächsten.

Morgen ist der Anfang ein Jahr her.
Aber morgen fangen wir wieder an.
Morgen fangen wir wieder an, von vorn neue Tage und Nächte zu zählen.
Morgen fangen wir dort an, wo wir heute aufhören: mit Gebet und Gesang, mit einem Gottesdienst.

Wir sind zusammen im Dunkeln und haben doch Licht. Es ist verheißen:
Gottes Wort ist wie unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Weg. (Ps 119,105)
Das ist nicht besonders hell. Keiner ist heute Abend geblendet worden auf dem Weg an seinen Platz in unserer Kirche. Und jetzt wird es noch augenfälliger, weil alle anderen Lichter erloschen sind.

Dennoch: Wir sind zusammen im Dunkeln.
Wir sind am Ende eines Jahres, in dem Menschen die Finsternis ausgebreitet haben.
Soll man überhaupt Rückblick halten auf dieses Jahr? Haben wir nicht einen erhellenden Ausblick viel nötiger?
Hören wir nochmals auf ein anderes Wort aus dem Jesajabuch, ehe wir das Jahr 2016 verlassen und ein neues Jahr beginnen:

So spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: In Umkehr und Gelassenheit werdet ihr gerettet, in der Ruhe und im Vertrauen liegt eure Stärke. (Jes 30,15)

Wir hören dieses Wort, aber wir sehen es nicht einfach so kommen.
Im Jesajabuch wird betont und herausgestrichen, dass dieser Glaube ganz gegen den Augenschein gerichtet ist. Der Augenschein von damals ähnelt unzähligen Nachrichten in diesem Jahr. Im Jesajabuch wird ein Bild gebraucht, dass wir im Dunkeln sofort vor unserem inneren Auge sehen, dass uns in den Ohren klingt:
Ihr habt auf Gewalt vertraut und auf Arglist und weil ihr euch darauf verlassen habt, darum wird diese Schuld für euch sein wie ein Riss, der zum Einsturz führt, der aufbricht an einer hohen Mauer: Überraschend, plötzlich kommt ihr Zusammenbruch. Und wenn er sie zerbricht, wird es sein, als zerbreche ein getöpferter Krug, in Stücke zerschlagen, rücksichtslos. Und in seinen zerschlagenen Stücken wird man keine Scherbe finden, um Feuer von der Feuerstelle zu nehmen oder Wasser aus dem Tümpel zu schöpfen. (Jes 30,12-14)

Rache und Vergeltung haben auch 2016 keinen Frieden gebracht. Gewalt und Arglist haben auch in 2016 das Überlebensnotwendige zerstört. Und wir mussten wieder und wieder mit ansehen, wie Gewalt eskaliert, wie wahllos der Terror beim Töten ist.

Wie aber glauben gegen den Augenschein?
Seit alters erzählen Menschen Geschichten mit gutem Ende, um die besseren Alternativen zu den Realitäten nicht zu vergessen, die Hoffnung in den Kindern anzupflanzen, das Vertrauen in die Zukunft bei den Alten zu hegen und zu pflegen. Es sind nur zweimal drei Worte, aber damit wir sie gegen den Augenschein behalten können, müssen wir gute Geschichten dazu erzählen.


I. Umkehr und Gelassenheit retten
Mit Umkehr fängt es an. Übrigens: Immer wieder, jeden Tag und jedes Jahr. Es ist wohl ein sehr großer Irrtum zu meinen, es gäbe die eine große Umkehr. Ich bin mit Luther unterwegs, der das Umkehren für eine ganz alltägliche Übung hielt. Es ist ja nicht so, dass wir uns nur ein einziges Mal im Leben gründlich verfahren, das Auto vorsichtig rückwärts aus der Sackgasse herausbugsieren und dann vor allen Umwegen und Irrwegen bewahrt wären.
Umkehren gehört zum Alltag: liebgewonnene Vorurteile verabschieden, zugeben, wie sehr man sich geirrt hat, einsehen, dass man zweimal denselben Fehler gemacht hat,. Wohl auch die Tugend, zu vergessen, wer einem noch etwas schuldet. Wir sehen im Dunkeln nicht viel, aber wir hören genau: Nicht nur das Erinnern, auch das Vergessen kann eine gute Übung zur Umkehr sein. Statt sich alles aufzuladen, was man alles allen nachtragen könnte, sich gelassen zurückzulehnen und an etwas anderes, Besseres zu denken: an Gelassenheit um Beispiel.

Dann hat man Muße, eine Schnecke zu interviewen, wie der Journalist Wolfgang Reuss (1959-2006):
ich fragte eine Schnecke,
warum sie so langsam wäre.
Sie antwortete, dadurch hätte sie
mehr Zeit, die Welt zu sehen.

Wenn wir langsamer werden und auf unsere Ohren achten, haben wir mehr Zeit, gute Geschichten zu hören und weiter zu erzählen.

Liebe Gemeinde, wir sind immer noch daran, gegen den Augenschein und im Dunkeln zu glauben. Der zweite Gedanke:


II. Ruhe und Vertrauen stärken
Jetzt ist der vorletzte Moment, vor dem Geböller noch eine Geschichte über die Ruhe unterzubringen. Wann, wenn nicht jetzt? Ist es nicht immer die Ruhe vor dem Sturm?
Es war einmal ein junger Bauer, der wollte seine Liebste treffen. Er war ein ungeduldiger Geselle und viel früher zum Treffpunkt gekommen. Er verstand sich schlecht aufs Warten. Er sah nicht den Sonnenschein, nicht den Frühling und die Pracht der Blumen. Ungeduldig warf er sich unter einen Baum und haderte mit sich und der Welt.
Da stand plötzlich ein graues Männlein vor ihm und sagte: „Ich weiß, wo dich der Schuh drückt. Nimm diesen Knopf und nähe ihn an deine Jacke. Und wenn du auf etwas wartest und dir die Zeit zu langsam geht, dann brauchst du nur den Knopf nach rechts zu drehen, und du springst über die Zeit hinweg bis dahin, wo du willst.“ Der junge Bauer nahm den Zauberknopf und drehte. Und schon stand die Liebste vor ihm und lachte ihn an. Er drehte abermals und saß mit ihr beim Hochzeitsschmaus. Da sah er seiner jungen Frau in die Augen:
„Wenn wir doch schon allein wären …“
„Wenn unser neues Haus fertig wäre …“
Und er drehte immer wieder. Jetzt fehlten noch die Kinder und er drehte schnell am Knopf. Dann kam ihm neues in den Sinn und er konnte es nicht erwarten. Und drehte, drehte, dass das Leben an ihm vorbeisprang, und ehe er sich’s versah, war er ein alter Mann und lag auf dem Sterbebett.
Er merkte, dass er schlecht gewirtschaftet hatte. Nun, da sein Leben verrauscht war, erkannte er, dass auch das Warten des Lebens wert ist. Und er wünschte sich die Zeit zurück.[1]

Sie denken nicht, dass es so ein graues Männchen gibt?! Ich bin ziemlich überzeugt, dass allerhand Leute an solchen Knöpfen drehen, wenn sie sie auch ziemlich gut verstecken, auf der Innenseite ihrer Jacken und Herzen.
Lebenswichtig ist ein anderer „Knopf“ in der Herzgegend. Einer, der im Fluge der Zeiten innehalten lässt. Dieser Knopf wird nicht von kleinen, grauen Männchen verteilt und er kann sehr verschiedene, sehr merkwürdige Namen haben: Gottesdienst kann er heißen oder Pilgern oder vor Sonnenaufgang aufstehen für einen langen Tag. Manchmal hat dieser Knopf auch fast unaussprechlich lange Namen, etwa: „Wirklicheinmalsolangegutenachtgeschichtenerzählenbisderletzteenkelschläftundnichtmehrumnocheinegeschichtebettelt“ oder auch „Morgensohneuhrundohnehandyundohnewanderkarteaufbrechenundunterwegsseinohneplanundprogrammbismanselbstvielleichtüberraschtfeststelltwomanangekommenist“.
Das übernächste Jahr würde anbrechen, bis ich alle von diesen Knöpfen aufgezählt hätte! Eines haben diese Knöpfe gemeinsam: es braucht das Gottvertrauen, von dem im Jesajabuch geschrieben ist.
Vertrauen ist etwas ganz anderes als Gleichgültigkeit. Darauf könnte einer kommen: Es ist doch egal, was ich tue und lasse, es ist doch gleich, ob ich müde zu dem lächle, was ich nicht ändern kann oder es bleiben lasse.
Darauf kamen schon die Zeitgenossen vor mehr als zweitausend Jahren. So ist im Prophetenbuch auch aufgeschrieben, wie Gleichgültigkeit funktioniert. Die Leute sagen:
Erschaut für uns nicht, was wahr ist, sagt uns Schmeichelhaftes, schaut Täuschungen! Weicht ab vom Weg, biegt ab vom Pfad, lasst uns in Ruhe mit dem Heiligen Israels! (Jes 30,10f)

Lasst uns doch in Ruhe! Warum sollten wir denn wählen gehen? Warum denn sich engagieren?
Weil es unser Zusammenleben stärkt!

Eine andere Ruhe ist gemeint. Ruhe, die es auch im Dunkeln aushält. Ruhe, die zu Konzentration führt. Ruhe, die der Wut, der kurzschlüssigen Aggression widersteht. Ruhe, die zu langfristiger Hoffnung befähigt: was heute und morgen unwahrscheinlich ist, kann doch in Zukunft etwas werden!
So fange ich heute Abend zuletzt noch etwas an, das nicht mehr fertig wird. Ich beginne mit einer Geschichte, die heute nicht mehr zu einem Ende kommt. Sie handelt von Zwillingen, die einerseits so gleich und doch so verschieden sind.
Die ungleichen Zwillinge
Äußerlich glichen sich die beiden Kinder wie ein Ei dem anderen, ansonsten waren sie jedoch grundverschieden. Wenn es dem einen zu heiß war, war es dem anderen zu kalt. Wenn einer sagte: „Der Fernseher ist zu laut“, verlangte der andere, die Lautstärke höher zu drehen. Der auffälligste Unterschied aber war, dass der eine zu jeder Stunde optimistisch und zuversichtlich war, und der andere immer schlecht gelaunt, miesepetrig und pessimistisch.
Als sie Geburtstag hatten, wagte der Vater der Zwillinge ein Experiment. Am Vorabend wartete er, bis seine Söhne eingeschlafen waren, und ging dann heimlich ans Werk. Nur um zu sehen was passiert, packte er das Zimmer des Pessimisten bis unter die Decke voll mit den schönsten Geschenken, mit Büchern, Spielzeug, Software und, und, und. Dem Optimisten aber legte er nur einen stinkenden Pferdeapfel ins Zimmer. Sonst nichts. Nun war er gespannt, was passieren würde.“[2]

Der Vater musste sich eine ganze Nacht lang gedulden – und Sie müssen das nun auch.
Wir werden diese Geschichte gewissermaßen in Echtzeit erleben.
Denn: Erst morgen fangen wir wieder an.
Morgen fangen wir wieder an, von vorn zu zählen.
Morgen fangen wir dort an, wo wir heute aufhören: mitten in dieser Geschichte.
Morgen, im neuen Jahr, erzähle ich, wie die Geschichte ausgeht, denn der Schluss der Geschichte ist ein guter Anfang.
Aber für die Nacht brauchen wir nun Geduld und alles, was bei Jesaja angesagt ist:
In Umkehr und Gelassenheit werdet ihr gerettet, in der Ruhe und im Vertrauen liegt eure Stärke. (Jes 30,15)
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

[1] Kurzgeschichte von Heinrich Spoerl (dt. Schriftsteller, 1887-1955).

[2] Eine der ‚Internetlegenden’ mit unbekanntem Verfasser, zu finden z.B. unter www.zeitzuleben.de, abgerufen am 20. 12. 2016.