Am Ende: Gottes Erbarmen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Martin Weeber
9,1-8.14-16

Am Ende: Gottes Erbarmen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Martin Weeber

„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“

Der Apostel Paulus entfaltet eine ganz grundlegende Einsicht an einem sehr speziellen Beispiel.
Die grundlegende Einsicht gilt für alle Menschen.
Das Beispiel ist das Verhältnis zwischen Christen und Juden, oder wie man auch sagen kann: Zwischen Kirche und Israel.
An diesem Beispiel liegt Paulus freilich etwas. Hier schlägt sein Herz.
Denn er war erst Jude und wurde dann Christ.
Aber als Christ blieb er eben doch auch dem Judentum ganz eng verbunden.
Das ist jetzt alles sehr grob gesprochen, aber trifft doch den Kern der Sache.

Führen wir uns zunächst einmal die grundlegende Einsicht vor Augen:
„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“
So übersetzt Martin Luther. Bei aller Liebe zu Luthers Sprachkunst: Eine neuere Übersetzung ist vielleicht leichter verständlich. So übersetzt die Basisbibel:
„Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.“

Das hört sich gut und fromm an.
Aber es widerspricht doch unserer Alltagserfahrung.
Wir wissen doch, dass es oft sehr wohl darauf ankommt, ob wir etwas wirklich wollen und ob wir uns dafür wirklich abmühen.
„Anstrengungsbereitschaft“ nennt man das, was da verlangt ist.
In vielen Zeugnissen ist davon die Rede.
Anstrengungsbereitschaft: Das will die Lehrerin ihren Schülern beibringen. „Streng dich an, halte durch, lass nicht nach.“
„Lerne, schaffe, leiste was – dann kannste, haste, biste was.“
So sagt es das Sprichwort.
Ohne Fleiß kein Preis, ohne Anstrengung kein Erfolg.

Das ist auch protestantischen Christen über die Jahrhunderte hinweg eingetrichtert worden, und zwar mit Erfolg.
Leute, die sich in der Geschichte auskennen, sagen einem, dass deshalb in vielen protestantisch geprägten Gegenden der Wohlstand immer bemerkenswert hoch war.
Da ist was dran. Man spricht vom „protestantischen Leistungsethos.“

Aber gleichzeitig wurde uns Protestanten auch stets die Botschaft von der freien Gnade Gottes verkündigt:
Gott erweist uns seine Gnade ganz unabhängig von unseren Leistungen.

Irgendwie sind das zwei Seiten einer Medaille.
Und es ist auch genauso wie bei einer Medaille, wie bei einer Münze: Man kann nicht beide Seiten zugleich betrachten. Entweder man betrachtet die eine Seite, oder man betrachtet die andere Seite: Bild oder Zahl.
Dennoch gehört beides zusammen.

Neulich habe ich ein Ehepaar besucht. Ein nachträglicher Goldhochzeitsbesuch.
Ein sehr schönes Haus, wirklich geschmackvoll eingerichtet, schöne Bilder an der Wand. Ich kannte die beiden bis dahin nicht. Der Ehemann begann, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Und es wurde deutlich: Er hat immer viel gearbeitet, hat viel geleistet. Er kam aus kleinen Verhältnissen, aber er hat sich durch Fleiß und Klugheit nach oben gearbeitet. Seine Anstrengung war von Erfolg gekrönt.
Das ist die eine Seite der Medaille.
Irgendwann im Gespräch sagte er dann aber noch etwas. Er sagte: „Wir haben viel Glück gehabt. Wir sind dankbar.“
Das ist die andere Seite der Medaille.
Er war sich ganz klar dessen bewusst, dass es in seinem Leben viele gute Wendungen gegeben hatte, die gar nichts mit eigener Anstrengung zu tun hatten. Er sprach davon, wie ihn in seinem Leben der CVJM geprägt habe, der „Christliche Verein junger Menschen“. Und es wurde schnell deutlich, dass er die glücklichen Wendungen seines Lebens keinem anderen zuschrieb als Gott.

Am Ende kommt es doch darauf an, dass Gott es gut mit uns meint.
„So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“
Oder noch einmal in der moderneren Übersetzung:
„Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.“

Zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören zusammen.
Wie sie genau zusammengehören, das ist ganz schwierig zu beschreiben.
Vielleicht so: Wir sollen uns anstrengen. Wir sollen unsere Fähigkeiten nutzen.
Aber wir sollen immer daran denken, dass es Gott ist, der uns unsere Fähigkeiten verleiht.
Und er verleiht sie uns ja im wahrsten Sinne des Wortes.
Denn wir verfügen nicht dauerhaft über sie.
Irgendwann lässt es nach mit unserer Kraft oder mit unserer Klugheit oder mit unserem Geschick.

Also: Solange wir etwas leisten können, sollen wir auch etwas leisten.
Aber das macht uns nicht als Personen aus.
Wenn wir nichts mehr leisten können, dann sind wir bei Gott immer noch gut angesehen. Und bei unseren Mitmenschen hoffentlich auch.

Aber auch solange wir etwas leisten können, ist es wichtig, dass wir uns immer wieder dem Leistungsdruck entziehen, dass wir Pausen machen, dass wir uns Erholung gönnen. Gott selber hält uns dazu an, etwa dadurch, dass er uns mahnt, Ruhetage einzuhalten, klassisch: Den Sabbat oder den Sonntag.

So weit, so gut. Nun könnte die Predigt friedlich und erbaulich enden.
Aber da ist noch das andere Thema. Und dem können wir am heutigen Sonntag, dem sogenannten Israelsonntag, nicht ausweichen.
Da ist noch das Thema, das den Paulus so sehr bewegt: Die Sache mit den Juden und mit den Christen. Paulus war Jude und ist nun Christ. Aber er hängt immer noch an seinen jüdischen Glaubensgeschwistern.

Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit.

Was ihn als Christ von seinen jüdischen Glaubensgeschwistern trennt, ist die Einsicht, dass es am Ende nicht darauf ankommt, was wir im Leben geleistet haben, sondern darauf, dass Christus uns durch seinen Tod am Kreuz erlöst hat. Christus ist für Paulus und für alle Christen der Erlöser.

Das ist der Punkt, an dem sich der christliche und der jüdische Glaube ganz deutlich voneinander unterscheiden. Da besteht ein Unterschied, den man bei aller Liebe nicht beliebig kleinreden kann.

Und dennoch ist es bewegend, zu lesen und zu sehen, wie eng Paulus sich seinen jüdischen Geschwistern verbunden fühlt. Da besteht für ihn so etwas wie eine Verwandtschaft, die man nicht auflösen kann.

Da müssten wir nun ziemlich tief in die alttestamentlichen Familiengeschichten von Abraham und seinen Nachkommen einsteigen, um die durchaus kunstvolle Argumentation des Paulus nachvollziehen zu können. Wir müssten uns der Frage stellen, warum Gott die einen erwählt und die anderen nicht. Aber zu einer wirklich einleuchtenden Antwort würden wir da nicht kommen und ist Paulus auch nicht gekommen.

Martin Luther hat einst eine große Vorlesung über den Römerbrief gehalten. Und als er zu unserem Abschnitt und zu der Frage gekommen ist, warum Gott die einen erwählt und die anderen nicht, da hat er gesagt: „Ich würde nichts dazu sagen, wenn mich nicht die Ordnung der Vorlesung und die Pflicht dazu nötigte.“ Kurzum: Er hätte den Abschnitt am liebsten übersprungen. Ein paar Zeilen weiter schreibt er dann, es sei am besten, „dass man sich um solche Gedanken nicht kümmert.“

Wichtig scheint mir hier vor allem das Eine: Paulus weiß genau, was ihn von seinen jüdischen Glaubensgeschwistern trennt, aber er bemüht sich dennoch darum, die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Sein wichtigster Gesichtspunkt ist dabei der, „dass Gottes Wort doch nicht hinfällig geworden sei.“ Gott hat Israel erwählt und diese Erwählung kann er doch nicht aufheben. Auf irgendeine Art und Weise wird doch Gott seinen Heilswillen auch im Blick auf Israel durchsetzen – und sei es erst am Ende der Zeit.

Es ist eine sehr gute Entwicklung, dass wir es als Christen immer mehr lernen, das zu sehen und zu würdigen, was uns mit unseren jüdischen Glaubensgeschwistern verbindet. Viel zu lange waren uns dafür die Augen verschlossen, mit furchtbaren Folgen.

Bei allen Unterschieden gehören wir doch alle in Gottes großen und guten Plan.
Das versucht Paulus auf seine Weise zu verdeutlichen, mit einer theologischen Genialität, der wir kaum gewachsen sind und die wir wahrscheinlich nur in Ansätzen nachvollziehen können.
Die Argumente des Paulus können wir im Einzelnen gar nicht immer leicht verstehen. Wichtig ist die Grundhaltung: Bei klarem Bewusstsein der Unterschiede einander doch nicht aufzugeben, einander im Blick zu behalten. Und darauf zu vertrauen, dass Gott am Ende weiß, wie er seine guten Absichten zum Ziel bringt.
Vielleicht hilft uns diese Haltung auch, mit Problemen umzugehen, die Paulus noch gar nicht im Blick haben konnte.