Andacht in der „Stillen Woche“ zu Johannes 3,14b-15 von Henning Kiene
3,14-15

Andacht in der „Stillen Woche“ zu Johannes 3,14b-15 von Henning Kiene

Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. (Joh 3, 14b-15)

I. Stille Woche

Für meine Mutter begann mit dem Palmsonntag die „Stille Woche“. Sie wusch in dieser Woche keine Wäsche, auf dem Radio liefen Sender, die ernste Musik übertrugen, am Gründonnerstag gab es Spinat, am Karfreitag waren die Mahlzeiten karg. Diese Woche war anders, als andere Wochen des Jahres. Und der Osterschmuck blieb bis zuletzt im Keller. Der Strauß mit den aufblühenden Forsythien stand in einem kühleren Raum bereit. Für uns war es selbstverständlich, dass am Karfreitag eigentlich nichts los war. Mit kindlicher Langweile hangelten wir uns durch diesen Tag. Die „Stille Woche“ war verordnet, es gab keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit. Die Bibel berichtete von Dingen, vor denen wir Kinder sowieso viel Respekt hatten: Jubel auf den Straßen, dann Verrat, der Prozess gegen Jesus, Tränen, Festnahme, der Hahn kräht, das Leiden wird zum roten Faden der Geschichte, dann der Tod Jesu. Selbst ohne häufig zur Kirche zu gehen, wir wussten es einfach.

II. „ungläubig der Worte, die ich da tippte“

In der vergangenen Woche habe ich an die Stillen Wochen meiner Kindheit denken müssen. An die ruhigere Musik, die im Radio lief und die Kinderbibel, die wir zur Hand nahmen. In mir erwachte wieder eine kindliche Protestfrage: Wie kann man Stille anordnen wollen? Gibt es eine Pflicht zur Stille? Das ist doch paradox. Schließlich kann man dem Meer nicht befehlen, die Wellen mögen schweigen. Wer kann der aufgewühlten Seele befehlen: „Nun sei doch endlich mal stille!“ Heute sehne ich mich nach solcher Stille. Ein äußeres Innehalten ist geeignet, ein inneres Innehalten vorzubereiten. Ich möchte die Gedanken sortieren, nach den Abgründen, in die ich hineinsehen musste, still sein zu dürfen. Die Bilder von Hubschraubern, die die Fachleute über einem Trümmerfeld abseilen, den Gedanken an die Eltern, deren Kinder nicht zurückkehren werden und dieses Erschrecken über den jungen Copiloten, möchte ich aus der Welt schneller Fragen und eilig gegebener Antworten herauslösen können. Es gab so viel Gerede, es hat so voreilige, geschwätzige Talkbeiträge gegeben. Und ich weiß, es sind viele Menschen, die in diesem Wortschwall und der Bilderflut einfach einmal innehalten möchten. Ein Journalist von „Die Welt“ schreibt über die Pressekonferenz, in der erstmals von dem absichtlich eingeleiteten Landeanflug, der in die Katastrophe führte, berichtet wurde: „Ich war vorbereitet auf eine Eilmeldung, denn eine PK (Pressekonferenz) kann immer eine ergeben, aber nicht auf diese. Dann fing ich an, den Aufmacher zu schreiben, ungläubig der Worte, die ich da tippte. Nein, Spaß macht es gerade nicht, aber wir funktionieren.“[1]

Das Funktionieren ist für uns alle wichtig. Aber dieses Funktionieren zehrt an den Kräften. Viele Menschen brauchen in diesen Tagen mehr Kraft, als ihnen aus ihren eigenen Kraftreserven heraus zur Verfügung steht. In den vielen Gesprächen, die wir in der vergangenen Woche hier geführt haben, war spürbar, dass alles, was wir über den Flug der Germanwings gehört und gesehen haben, einfach alle Dimensionen des Vorstellbaren gesprengt hat. Selten gab es so viel Erschrecken über eine Tat, die in ein Unglück führte. Die Abgründe, in die wir sehen mussten, führen selbst die, die nicht persönlich betroffen sind, an ihre Grenzen heran. „So etwas geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus“,[2] sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie sprach für uns alle.

III. neue Tonspur

Manches, was ich höre und sehe, fügt der Stillen Woche eine neue Tonspur hinzu. Die Abgründe von Verrat und Schuld können tiefer nicht sein. Man sieht in ein Meer der Trümmer. Das ist das Bild der diesjährigen Stillen Woche. Sogar in vielen Auferstehungsikonen der Orthodoxen Kirche sehe ich diese Perspektive, die den Abgrund frei gibt. Da zeigen die Ikonenmaler Jesus Christus. Der ist nicht bei den Toten geblieben. Der hat sein Kreuz über den Abgrund gelegt. Das Reich des Todes bleibt zu seinen Füßen sichtbar, es wirkt aber, als wäre der Abgrund hinter dem Kreuz versperrt.[3] Solche Sperre suche ich.

Das wäre eine Stille Woche, die ich mir selber verordne: Sich in die Welt solcher Bilder, die Überwindung dieser Abgründe anzeigen, hineinziehen zu lassen. Aus der Stille der kommenden Feiertage heraus, gilt es die Kraft zu gewinnen, die mich nach mehr fragen lässt, als nach dem, was denn nun genau geschehen ist. Will ich nur diesen furchtbaren Bildern, die ich sehe, alleine diesen Nachrichten, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen, folgen? Da muss sich doch auch eine Dimension in dieser Stillen Woche entdecken lassen, die einen ganz kleinen Schritt weiter führt. Nicht, dass die Katastrophe geringer werden würde, oder das Schreckliche sich abmildern ließe, sondern dass das Schreckliche nur im Lichte einer anderen Botschaft erschiene. So wie unsere Kinderbibel ja auch die Härte des Weges Jeus keineswegs milderte, aber wir wussten, wohin das führen wird.

IV. Für uns gestorben

Da wurde in der letzten Woche ein Grundlagentext des Rates der EKD veröffentlicht. Der Titel passt in diese Stille Woche: „Für uns gestorben“[4]. Und die Autoren schreiben: „Deutlicher als je zuvor hat die Theologie des 20. Jahrhunderts den Weg des Gekreuzigten in die Leidensgeschichten unserer Welt eingezeichnet. Die Sünde als Entfremdung des Menschen von Gott, von seinem Mitmenschen und von sich selbst steht in einem ursächlichen Zusammenhang zu diesen Leidensgeschichten. Ihre Ergebnisse sind in letzter Konsequenz die schuldhafte Zerstörung des Geschaffenen, das Verderben des Lebens und der Tod als Inbegriff einer nicht mehr zu überbietenden Beziehungslosigkeit.[5]“ Es ist so, als legten theologische Sätzen eine Tonspur an das an, was die Medien zu mir hin übertragen. Sie deuten das, was ich erlebe. Und die Denkschrift fährt fort: „Gott ist dem entgegengetreten. Nur er ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen und den Menschen und seine Welt aus der … Dynamik des Unheils herauszuholen.“[6] Das ist eine genaue Beschreibung der Stillen Woche meiner Mutter, die Dinge des Lebens in der Reihenfolge zu belassen, in die sie gehören. Leise Töne anschlagen, sich Ruhe gönnen, Radio leiser stellen, sich auch die Zeit so dehnen zu lassen, dass sich der Moment der Langweile einstellen kann.

Das ist die Stille Woche, im ursprünglichen Sinn: Sich einordnen, sich anschließen, an diese Spur, die Gott gelegt hat: Nur Gott ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen. Das muss man doch wissen. Vermutlich hat meine Mutter nicht viel darüber nachgedacht, sie hatte es aber so gemacht: Der Osterschmuck blieb im Keller, der Strauß mit den Ostereiern wurde erst am Ostersonntag auf den Tisch gestellt. Wir Kinder mussten die Stille ertragen lernen. Da blieb der Blick in die Abgründe, die dieses Leben kennt. Da mussten wir hineinsehen. Aber der Osterschmuck stand dann doch bereit.


[4] Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

[5] ebd. Seite 119-120

[6] ebd. Seite 120