Anfänge sind prägend - Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Titus Reinmuth
16,9-15

Anfänge sind prägend - Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Titus Reinmuth

Anfänge sind prägend.

Liebe Gemeinde,

(1) Wie hat das eigentlich angefangen? War „aller Anfang schwer“ – oder wohnte schon dem Anfang „ein Zauber inne“? Oft sind die ersten Erfahrungen entscheidend. Paare können zurückblicken: Wie hat es angefangen mit uns? Da ist etwas, das wir heute noch spüren. Oder hin und wieder entdecken. Vieles wird sich im Lauf der Jahre geändert haben, manches ist längst verschüttet, anderes ist hinzugekommen – aber es gibt Zeiten, da spürt ein Paar die Kraft des Anfangs.

Auch andere Anfänge können prägend sein. Eine Kirchengemeinde feiert das 20jährige Jubiläum ihres diakonischen Projekts, den Aufbau eines Heilpädagogischen Zentrums in Pskow, Russland. Wer war am Anfang dabei? Was waren die ersten Ideen, die bis heute tragen? Damals kamen zur richtigen Zeit die richtigen Leute zusammen. In dieser Arbeit mit behinderten Kindern und Jugendlichen gelang es auch, das Evangelium ins Gespräch zu bringen, ein Bild vom Menschen, das von der Liebe Gottes geprägt ist – einer Liebe, die nicht danach fragt, ob einer gesund ist oder krank, reich oder arm, voll leistungsfähig oder in irgendeiner Hinsicht behindert. Anfänge sind prägend. In anderen Gemeinden ist es die Tafel oder der Hospizdienst oder der Projektchor. Menschen kommen zusammen und fangen an.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag  ist auch eine Anfangsgeschichte. Sie erzählt davon, wie es in Europa mit unserer Kirche angefangen hat. Diese Anfangserzählung hat Lukas aufgeschrieben, sie steht in der Apostelgeschichte, im Kap. 16, Verse 9-15. Da heißt es:

9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. 11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. 14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so dass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.

(2) Ein historischer Moment. Paulus und seine Mitarbeiter gehen von Kleinasien nach Europa. Davor ist berichtet, wie Paulus mit seinen Leuten in einigen Orten Kleinasiens abgewiesen wurde. Die Menschen dort wollten vom Evangelium nichts hören. In mehreren Orten ging das so, die Lage war einigermaßen aussichtslos. Paulus und seine Mitarbeiter schlugen jetzt eine neue Richtung ein: von Kleinasien nach Europa. Aber nicht, weil sie in der letzten Zeit in der Region keinen rechten Erfolg hatten mit ihrer Sache, sondern weil sie sich irgendwie von Gott zu diesem Schritt beauftragt wussten. Paulus hatte einen Traum, so wird es erzählt. Im Traum erscheint ihm ein Mann aus Mazedonien und der bittet ihn: Komm herüber und hilf uns!

Paulus spürt, dass Gott ihn beruft, nach Europa zu gehen. Er landet in der Provinzhauptstadt Philippi, einer römischen Kolonie. Eine lebendige Stadt mit viel Kultur, in der auch das wirtschaftliche Leben blüht. Die Männer um Paulus bleiben einige Tage dort, heißt es.

Und dann ist erzählt, wie in Philippi eine erste Gemeinde entsteht. Merkwürdig unspektakulär und leise geht das vor sich. Es beginnt am Ufer eines Flusses mit einer Gruppe von Frauen. Da im Freien, wo die kleine jüdische Gemeinde ihre Gebetsstätte hat. Keine starken Führungspersönlichkeiten treten hier auf, sondern ein etwas angeschlagener, weil zuletzt nicht sonderlich erfolgreicher Paulus hat sich auf den Weg gemacht. Keine kämpferische Großveranstaltung auf dem Marktplatz wird hier organisiert, sondern gleichsam am Wegesrand ergibt sich ein ruhiges Gespräch mit einer Handvoll Frauen. Es ist Sabbat und die Frauen sind runter zum Fluss gegangen, um dort zu beten. Paulus und die seinen kommen hinzu und kommen mit den Frauen ins Gespräch. Wahrscheinlich über Gott und die Welt. Über Jesus Christus und den Sinn des Lebens. Das Evangelium kommt ins Gespräch.  Irgendwie fängt es an zu wirken bei den Frauen unten am Fluss. Sie haben sich Zeit genommen, die Arbeit ruhen lassen, Abstand gefunden vom Trubel dieser quirligen Stadt.

Die Frauen hören zu, und eine von ihnen, Lydia, achtet besonders auf das, wovon Paulus redet. Gott hat ihr das Herz geöffnet, heißt es. So fängt das an. Kaum zu glauben, aber das Gespräch am Fluss mündet in eine Taufe. Sie zeigt Lydia und allen anderen, die sich taufen lassen: Ich gehöre dazu. Gott sieht mich neu an. Bei allem, was mich umtreibt: die Sorge um mein Haus, um Handel und Geschäfte; die Sorge um die Menschen, für die ich verantwortlich bin; die Sorge um das, was ich leisten kann und was nicht; bei allem, was mich umtreibt: Gott sieht mich an. Ich gehöre dazu. So fing das an - damals in Philippi.

Ein prägender Anfang. Sanft und unauffällig breitet sich das Evangelium aus. Allein der Schluss der Erzählung verblüfft. Lydia, die Frau, Muss Paulus und die anderen Männer bedrängen, in ihr Haus zu kommen und zu bleiben. Sie nötigt Paulus und seine Mitarbeiter, zu bleiben, heißt es. Was soll das bedeuten? Wir können nur noch ahnen, was dahinter stand. Es ging wahrscheinlich darum, ob das Haus einer Frau die Basis einer christlichen Gemeinde sein kann. Also die Anlaufstation für die Wanderprediger auf ihren Missionsreisen und die Mitte der christlichen Gemeinde am Ort. Unsere Geschichte erzählt: Nachdem Lydia getauft ist, lädt sie Paulus und die anderen in ihr Haus ein. Der Text spricht von ihrem Haus. Das heißt: ein erwachsener freier Mann, der sonst der Hausherr wäre,  gehört offenbar nicht zu diesem Haushalt. Lydia ist selbständig. Sie geht als Purpurhändlerin ihrer eigenen Arbeit nach und steht ihrem eigenen Haus vor. Wenn sie Paulus nötigt, dazubleiben, geht es offenbar nicht nur um eine vorübergehende Gastfreundschaft. Es geht um mehr. Es geht um die Ansiedlung der ersten christlichen Gemeinde in Philippi. Die christlichen Männer weigern sich zunächst, dem Haus der Lydia die entsprechende Anerkennung zuteil werden zu lassen. Sie haben sie gerade noch getauft, aber die Rechte, die sich aus der Taufe ergeben, wollen sie Lydia nicht zuerkennen. Gut möglich, dass Lydia mit einem alten Taufbekenntnis argumentiert hat, das wir aus dem Galaterbrief kennen. Oft wurde es bei Taufen gesprochen. Es lautet:

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus.

Wer also aufgenommen ist in die Gemeinschaft mit Gott, der darf erleben: Ich bin ein Kind Gottes, wie alle anderen auch. Jetzt zählt nicht mehr, woher ich komme: Ob ich Jude oder Grieche bin. Es spielt auch keine Rolle, wo ich in dieser Gesellschaft stehe: Ob ich Sklave bin oder frei. Und es zählt auch nicht mehr, ob ich Mann bin oder Frau. Das Evangelium hat Folgen für das Leben.

So entwickelt sich eine zunächst unauffällige Begegnung am Rande der Stadt zu einer kleinen Revolution – eine etwas andere Gemeinschaft entsteht. Lydias Glaube war zwar etwas sehr Persönliches, eine Sache des Herzens, aber dieser Glaube blieb überhaupt nichts Privates, sondern er hatte Folgen für eine ganze Gemeinschaft. Und davon musste Lydia den Paulus und die seinen wohl erst überzeugen. Die Gemeinde wird zu einer Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, das heißt von Nahen und Fremden, von Armen und Reichen, von Männern und Frauen. Dafür hat am Anfang Lydia gesorgt, als sie den Männern um Paulus sagte: Wenn ihr anerkennt, dass ich glaube, so kommt in mein Haus und bleibt.

(3) So hat es damals angefangen. Was ist prägend an diesem Anfang? Was sind die Wurzeln einer christlichen Gemeinde?

Es ist zum einen die persönliche Begegnung zwischen Menschen. Da ist Paulus. Paulus stellt sich nicht auf den Marktplatz, sondern geht zu einer Gruppe von Frauen am Rande der Stadt. Denen erzählt er vom Glauben. Das Evangelium kommt ins Gespräch. Und da ist Lydia. Lydia kann zuhören. Durch all ihr Geschäftsleben hindurch, durch all ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen hindurch kann sie hören. Die Worte des Paulus werden ihr wichtig: Sie öffnen, setzen etwas in Bewegung, sorgen für eine Veränderung. Lydia und ihr Haus lassen sich taufen. Sie werden zur Keimzelle einer christlichen Gemeinde.

Und an dieser Gemeinde ist ein zweites abzulesen, das von Anfang an prägend war. Sie wird zu einer Insel inmitten dieser geschäftigen Stadt, sie ist ein offenes Haus, in dem es geschwisterlich zugeht, inmitten einer Gesellschaft, in der ganz andere Spielregeln herrschen. Eine gastfreundliche Gemeinde mit offenen Türen und Menschen, denen man abspürt: Denen ist das Herz aufgegangen. Und weil das so ist, gehen sie etwas anders miteinander um. Da zählt nicht, was einer war oder ist oder hat oder kann, sondern da heißt es: Du gehörst auch dazu.

Die Kraft des Anfangs: Wo sind heute die Orte, an denen das Evangelium ins Gespräch kommt, nicht nur im Gottesdienst, sondern irgendwo am Rand, in persönlichen Gesprächen? Und woran kann man heute sehen, wie dieses Evangelium Menschen verändert, so dass nicht mehr zählt, ob einer arm ist oder reich, einheimisch oder fremd, Mann oder Frau, gesund oder krank, voll leistungsfähig oder behindert? Beides gehört zusammen: das Wort Gottes und die Gemeinschaft, zu der es anstiftet. Amen.