Angesehen - Predigt zu Lukas 1,26-38(39-45) von Kathrin Oxen
1,26-38 (39-45)

Angesehen - Predigt zu Lukas 1,26-38(39-45) von Kathrin Oxen

Elisabeth hatte die Hoffnung ja schon aufgegeben. Sie wusste, dass es so bleiben würde, mit den mitleidigen Blicken und dem Getuschel, wenn sie zusammen irgendwo hin gingen. Sie kannte die mehr oder weniger diskreten Nachfragen. Die Frage blieb ja sowieso immer die gleiche über die Jahre, abwechselnd nur in den Zeitformen. Zu Beginn lautete sie: „Wollt ihr nicht oder könnt ihr nicht?“. Und als die Jahre vergingen, eines nach dem anderen, hieß es irgendwann: „Wolltet ihr nicht oder konntet ihr nicht?“
Die Antwort war in ihrem Fall immer von schmerzhafter Eindeutigkeit. Natürlich wollen wir, aber es soll wohl nicht sein. Natürlich wollten wir, aber es sollte wohl nicht sein. Schon wieder die Vergangenheitsform. Aber die trifft es ja auch genau. Für uns gibt es keine Zukunft, bloß das bisschen Gegenwart und irgendwann sehr viel Vergangenheit. So ist das, ohne ein Kind.

Maria hatte die Hoffnung ja schon aufgegeben. Sie wusste, dass es so bleiben würde, mit den mitleidigen Blicken und dem Getuschel, wenn sie irgendwo hinkam. Sie kannte auch schon diese mehr oder weniger diskreten Nachfragen: „Musste das sein? Du hast doch das Leben noch vor dir…“
Und das ist nur der Anfang. Noch sieht es ja keiner, aber bald werden es alle sehen können. Dann kann sie es nicht länger verstecken und muss es zeigen. Ihr Gesicht, das Gesicht eines Mädchens und darunter der schwangere Bauch einer Frau. Mitleidige Blicke, Getuschel und manchmal auch ein leises Kopfschütteln. Sie ist doch selbst fast noch ein Kind.

Als ein Engel zu Maria kommt, um ihr anzukündigen, dass sie ein Kind erwarten wird, hat er ihr auch von Elisabeth erzählt. Eine Verwandte von Maria, ihre Cousine, deren Schicksal immer mal wieder zum Gesprächsthema wurde in der Familie.
Elisabeth und Zacharias, nein, da gibt es nichts Neues. Die werden wohl keine Kinder mehr bekommen. Ja, schade ist das. Nun sind sie ja aber auch schon viel zu alt dafür.
Aber der Engel sagt etwas anderes. Er sagt: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. (Lk 1,37) Und er sagt auch: Elisabeth ist schwanger, man sieht es schon, sie ist im sechsten Monat. Und da ist Maria losgelaufen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Und auch, um nicht immerzu an das andere denken zu müssen, was der Engel gesagt hat und an das sie selbst lieber noch nicht so viel denken mochte. Dass auch sie, Maria, ein Kind bekommen würde, Gott weiß, wie. Unmöglich, genauso unmöglich wie bei Elisabeth. Sie ahnt schon jetzt, was auf sie zukommen wird. Mitleidige Blicke, Getuschel, leises Kopfschütteln. Und dann ist sie bei Elisabeth und sie sieht ihr ins Gesicht, in das faltige Gesicht einer Großmutter. Und sieht Elisabeths Bauch. Das Kind bewegt sich schon, sagt Elisabeth. Unmöglich. Aber nicht bei Gott.

Elisabeth und Maria begegnen sich. Zwei Frauen, die das Allerschlimmste kennen. Eine kinderlose Frau zu sein, das war das Allerschlimmste, was einem passieren konnte, damals. Und das andere Allerschlimmste, was einem passieren konnte, damals, war ein uneheliches Kind zu bekommen. Die eine hatte es schon hinter sich, eine Vergangenheit, ein ganzes Leben voller Enttäuschung und Leere. Die andere hat es erst noch vor sich, eine Zukunft voller Ungewissheit und Fragen.

Aber als sie zusammenkommen, da ist es, als träten sie alle aus dem Schatten der Vergangenheit zu ihnen beiden. Alle diese Frauen aus der Geschichte Gottes mit seinen Menschen. All die Frauen, die auch das Allerschlimmste kennen, die mitleidigen Blicke, das Getuschel, das leise Kopfschütteln.
Sara ist da, Abrahams Frau. Auch sie hat noch ein Kind bekommen zur Unzeit, nach endlosen Jahren ohne Hoffnung. Weiße Haare, ein faltiges Gesicht und ein schwangerer Bauch.
Rahel ist da, die so sehr geliebte, um die Jakob so viele Jahre gedient hat. Lange Zeit konnte sie keine Kinder bekommen und musste noch dabei zusehen, wie ihre Schwester Lea, von Gott mit einem Kind nach dem anderen beschenkt wurde.
Hanna ist da, auch sie kinderlos, mit ihren Tränen und inständigen Gebeten und dem Gesicht voller Scham und Schmerz, die Mutter des Propheten Samuel.
Und Ruth und Naomi sind da, die junge Frau und die alte, nach Israel gekommen als Asylantinnen ohne eine Zukunft und später durch ein Kind eingeschrieben in den Stammbaum des großen Königs David. So geht es zu bei Gott. Das wissen die beiden Frauen, als sie sich begrüßen, die alte und die junge. Elisabeth und Maria.

Und all diese Frauen sind in dem Lied, das Maria anstimmt. Sie singt es allein, aber eigentlich ist es doch ein Chor. Der Chor der Frauen, die das Allerschlimmste kennen, die es schon hinter sich haben oder noch vor sich. Und dieser Chor singt:

Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. (Lk 1,46-48)

Gut, dass Maria singt. Gut, dass wir sie hören können, denn zu sehen ist sie kaum hinter all den Schleiern, die die Zeit um sie gewoben hat. Elisabeth geht es genauso.
In allen Darstellungen sehen die beiden nicht gerade aus wie Frauen, die das Allerschlimmste kennen. Dort sehen sie aus wie Königinnen, die eine rot, die andere blau gewandet, in Kleidern aus prächtigen kostbaren Stoffen mit edlem Faltenwurf.

Eigentlich sehen die beiden aber anders aus. Elisabeth hat einen beigen Mantel an und einen Pullover vom Kleiderstand auf dem Wochenmarkt. Sie hat eine billige Dauerwelle und eine kleine Wohnung, weil für mehr ihre Rente nicht reicht. Elisabeth und ihr Mann sitzen am Abendbrottisch und da sind Margarine und Streichwurst und dünner Tee und wenig Worte. Der Tag ist immer gleich und die Woche auch, weil selten mal Besuch kommt, denn die Kinder sind weit weg und haben ihr eigenes Leben und müssen auch sehen, wie sie über die Runden kommen. Das bisschen Gegenwart und viel Vergangenheit.

Und Maria ist eine von den Müttern, die ihren Kinderwagen durch die Fußgängerzonen schieben und die zu enge T-Shirts anhaben in grellen Farben. Zu zweit oder zu dritt gehen sie, mit so einer Art trotzigem Stolz. Eine von diesen Müttern, die noch Mädchen sind, deren Schwangerschaft wohl eher Befürchtungen als Freude ausgelöst hat. Ein Vater ist meistens nicht so richtig dabei. Man sieht ihnen hinterher und fragt sich, ob das wirklich sein musste und welche Zukunft außer Hartz IV sie jetzt eigentlich vor sich haben. Sie sind ja selbst fast noch Kinder.

Solche Elisabeths, solche Marias, das sind die Menschen, die Gott ansieht. Da singt keine ansehnliche junge Frau, sondern ein ganz junges jüdisches Mädchen aus der Unterschicht ihrer Zeit.
Dieses Mädchen ohne Ansehen singt mit der Kraft all der Frauen, die erfahren haben, dass Gott sie ansieht. Sie singt mit der dünnen alten Stimme Saras und mit den Stimmen der Schwestern Lea und Rahel. Sie singt mit den Worten der gedemütigten Hannas und mit der Hoffnung der Asylantin Ruth auf eine Heimat. Sie singt mit der Zuversicht einer alten, armen Frau mit dem Namen Naomi.

Maria singt mit den Stimmen derer, die ohne Ansehen sind. Sie singt für die Elisabeths und die Marias unserer Zeit. Denn die kennen noch ein anderes Allerschlimmstes: Gar nicht mehr gesehen und wahrgenommen zu werden.
Die alten Frauen und ihre Männer, die zurechtkommen müssen mit dem, was am Ende ihres Lebens herauskommt an Rente und mit dem, was für das Leben dann noch übrigbleibt.
Die Teenagermütter aus sozial schwierigen Verhältnissen. Und all die anderen Menschen ohne Ansehen, ohne die Möglichkeit und am Ende auch ohne die Motivation, noch ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Maria singt ihr Lied für die Menschen ohne Ansehen. Sie singt mit den Stimmen derer, die keine Zukunft haben und keine Perspektive, die zu alt sind oder zu jung, die arm und ohne Einfluss sind. Und sie singt dieses Lied gegen die Menschen mit Ansehen, in ihrem Lobgesang, dem Magnificat:

Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. (Lk 1,52f.)

Gott gibt denen eine Stimme, die sonst keiner mehr hört. Und lässt sie singen gegen alle Regeln der Welt. Denn bei Gott ist nichts unmöglich. Das ist die Erfahrung von Sara und Lea und Rahel, von Hanna und Ruth und Naomi. Das haben Elisabeth und Maria am eigenen Leib erfahren, diese beiden, die schon die Hoffnung aufgegeben hatten.Und durch sie kommt diese Geschichte Gottes mit seinen Menschen auch zu uns. Durch Jesus, geboren von einem jüdischen Mädchen am Rand der damals bekannten Welt. So entfaltet sich die Verheißung Gottes für all die Menschen ohne Ansehen. In diesem Lied kommt sie zu Elisabeth und ihrem Mann am Abendbrottisch, zu den Mädchenmüttern in der Fußgängerzone und zu uns heute morgen. Zu Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise die Hoffnung aufgegeben haben, dass es immer nur nach den Regeln der Welt geht.

Maria singt. Ich höre ihr Lied. Und jetzt kann ich sie sehen. Ein junges Mädchen in anderen Umständen. Ich sehe sie, ich höre die Hoffnung in ihrer Stimme:
Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. (Lk 1,46-48)
Amen.

 

Fürbittengebet

Gott von Abraham und Sara,
wir danken dir für deine Treue, die über Generationen reicht.
Wir danken dir, dass der Glaube an dich zu uns gekommen ist durch Jesus, den Sohn eines jüdischen Mädchens.
Wir bitten dich für alle Menschen, die an dich glauben und ihr Vertrauen auf dich setzen.
Wir bitten dich: Lass den Glauben lebendig bleiben in unseren Familien und wachsen von einer Generation zur nächsten.

Gott von Lea und Rahel,
wir danken dir, dass wir nicht allein sind auf der Welt, dass wir in Beziehungen miteinander leben.
Wir bitten dich für alle Menschen, die ihr Leben auf unterschiedliche Weise miteinander teilen:
als Paare und als Familien, in der Kirchengemeinde und in der Gesellschaft.
Schenke ihnen Liebe und Verständnis füreinander, auch dann wenn es Spannungen gibt.
Wir bitten dich für alle, die sich allein fühlen, für die, die einsam geworden sind, dass sie einen Menschen finden, der ihnen zuhört und sie versteht.

Gott von Ruth und Naomi,
wir danken dir für die Freiheit und Sicherheit in dem Land, in dem wir leben und in ganz Europa.
Wir bitten dich: Bewahre uns davor, neue Grenzen zu ziehen.
Zeig uns, wo wir Nächstenliebe üben können an Menschen, die zu uns kommen auf der Suche nach Sicherheit und einem guten Leben.
Wir bitten dich um kluge politische Entscheidungen, um klare Köpfe und offene Herzen.

Gott von Elisabeth und Maria,
bei dir ist kein Ding unmöglich.
Wir danken dir, dass du uns Hoffnung gibst, Kraft und Zuversicht in allem, was uns begegnet.
Wir bitten dich für alle, deren Kraft zu Ende geht, für die alten Menschen und für die Kranken.
Lass sie geborgen sein bei dir, mit ihrer Schwachheit und mit ihren Schmerzen.
In der Stille bitten wir dich um all das, was wir nicht aussprechen können.
Du hörst unser Gebet.