Auf der Achterbahn der Seligpreisungen - Predigt zu Matthäus 5,1-10 von Wolfgang Vögele
5,1-10

Auf der Achterbahn der Seligpreisungen - Predigt zu Matthäus 5,1-10 von Wolfgang Vögele

"Als [Jesus] aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. (...)
Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind."

Sommerabend

Liebe Schwestern und Brüder,

spätestens wenn es kälter und stürmischer wird, am Reformationstag Ende Oktober, wird die Einsicht unausweichlich, daß mit Frost und Schneeflocken der Winter kommen wird. Diese gute Gelegenheit will ich nutzen, um ein letztes Mal an Wärme und Sonnenstrahlen des Sommers zu erinnern. Wegen der Hitze waren die Mittagszeiten unerträglich. Erst wenn die Sonne sich dem Untergang zuneigte, kamen verschwitzte Menschen aus dem Schatten heraus und bevölkerten sanft Parks, Liegewiesen, Fußgängerzonen und Biergärten.

Ich genoß es sehr, mich an solchen Sommerabenden, wenn die Luft ein wenig abgekühlt war, unter die Menge zu mischen. Ich mochte es, mich abends auf eine Bank im Schloßpark zu setzen, ein ungelesenes Buch in der Hand, und wahrzunehmen, was um mich herum geschah: die spielenden Kinder, die mit Begeisterung im Brunnenwasser plantschten; die Freundinnen, die sich, auf eine Decke gelagert, lebhaft miteinander unterhielten; die Jungs mit den Skateboards, die ein Zitroneneis schleckten; das verliebte Paar, das Federball spielte; der ältere Mann im weit geschnittenen schwarzen Baumwollanzug, der seine Chi Gong Übungen praktizierte und sich um die Blicke der Menge nicht scherte; die beiden Abiturienten, die sich mit zwei Flaschen Bier zuprosteten; die vorsichtigen Mütter, die sich um ihre schlafenden Babies im Kinderwagen kümmerten und die Ruhe genossen; die beiden gebrechlichen Damen, die mühsam mit ihrem Rollator unterwegs waren.

In der Wärme und im orangenen Licht des vergehenden Abends konnte man Ruhe und Leben spüren und riechen und tiefen Atemzügen genießen. Alles war in geduldiger, friedlicher Bewegung, keinesfalls in Aufregung. Allmählich kehrten die Geduld und die Gelassenheit ein, die einen in Hitze überstandenen Tag kennzeichnen. Das Schwierige des Hitzetags lag hinter den Menschen, der Rest bis zur Dunkelheit, war Genießen und Ausruhen gewidmet.

Ich mußte die Augen nicht offen halten, um die Gegenwart der vielen Menschen zu spüren. Und ich fragte mich: Wo unter diesen vielen Menschen sind die Friedfertigen, von denen die Seligpreisungen reden? Wo die Leidtragenden? Wo die Friedensstifter? Wo die Menschen, die nach Gerechtigkeit streben? Ich wußte nicht, wer sie waren. Aber ich war mir sicher: Sie befanden sich auch in dieser Menschenmenge, die ein Sommerabend im Schloßpark zusammengebracht hatte.

Was ist auf dem Berg geschehen?

Der Evangelist Matthäus hat aus der Bergpredigt eine größere, theatralische Szene gemacht. Oft ist das gemalt worden: Der heilige Redner auf dem Berggipfel stehend, um ihn herum wie eine Leibwache die Jüngergemeinschaft, weiter weg die große Menge des Volkes. Oft ist das gemalt worden, leider sehr oft kitschig, zu viel falsche Demut, zu viel übertriebener Glaube, so als müßten die Volksmenge auf den Bergpredigtbildern ausdrücken, was den Gottesdienstbesuchern fehlt.

Viele Menschen finden heute reine Wortbeiträge, Vorträge, politische Reden und auch Predigten langweilig. Ihnen reicht das Wort nicht mehr. Mindestens die Bebilderungsmaschine von Powerpoint muß noch dazu kommen, so als würden die Redner ihren eigenen Worten nicht mehr trauen. Dann projizieren sie die Zerstreuung lieber auf einen Bildschirm. Denn die Augen des Zuhörers lassen sich leicht ablenken.

Ich bin ganz überzeugt, daß Jesus von Nazareth seinen eigenen Worten und ihrer Wirkung getraut hat. Genauso bin ich überzeugt, daß er die Worte der Bergpredigt, insbesondere die Seligpreisungen nicht gebrüllt hat. Er mußte dazu auch nicht wild mit den Armen rudern. Er brauchte die bunten Bilder von Powerpoint nicht. Ich stelle mir vor, daß Jesus von Nazareth die Seligpreisungen der Bergpredigt mit ruhiger, klarer, unaufgeregter Stimme  gesprochen hat. Kein Einpeitscher, kein Aufwiegler, kein Krawallbruder, keiner, der Hetzparolen geifert oder sich des zackigen Kommandotons bedient. Ich stelle mir auch vor, daß die Menschen am Fuß des Berges, seine Zuhörer nach den Seligpreisungen nicht applaudiert haben. Die Seligpreisungen sind stille, tröstende Worte. Das fehlende rhetorische Getöse nimmt ihnen nichts von ihrer nachhaltigen Wirkung.

Achterlei

Eigentlich stehen da neun Seligpreisungen. Acht davon sind grammatisch ganz gleich gebaut, deswegen hat sich die Rede von der Serie der acht Seligpreisungen durchgesetzt: die geistlich Armen, die Leidtragenden, die Sanftmütigen, Menschen, die nach Gerechtigkeit hungern, die Barmherzigen, die Menschen reinen Herzens, die Friedensstifter, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten.

Acht gilt im Christentum als eine besondere Zahl: Sieben Tage hat Gott für die Schöpfung benötigt, darunter den letzten Tag zum Ausruhen. Am achten Tag beginnt etwas Neues. Es beginnt die Fülle des Lebens auf dieser von Gott geschaffenen Welt. Es beginnt das Neue der Auferstehung, die das Seufzen der Kreaturen beendet. Deswegen sind berühmte Taufkirchen, darunter auch der karolingische (1) Teil des Aachener Doms, stets achteckig geplant worden. Denn der Tauftag ist der symbolische achte Tag, an dem mit der Taufe die Schöpfung neuen Glaubenslebens beginnt. Die acht Seligpreisungen zielen auf die Menschen, die nach dem Himmelreich, nach Gerechtigkeit und Frieden suchen. Ich bin überzeugt: Zu diesen Suchern gehören nicht nur die Getauften.

Moralische Verachtung

Man kann die Seligpreisungen leider auch im Sinne qualitativen Wachstums lesen, im Sinne eines moralischen Appells: Werdet barmherziger! Werdet friedlicher! Werdet sanftmütiger! Aber Barmherzigkeit, Frieden und Sanftmut vertragen keine Befehlssprache, auf gar keinen Fall die klerikale.

Deswegen gehören die Seligpreisungen zum Reformationstag. Der Glaube, der sich an den Seligpreisungen schult, muß unter allen Umständen verhindern, daß die klerikale Bürokratie Zugangskontrollen zum Reich Gottes errichtet (2). Denn über den Zugang zu Gottes Reich entscheidet allein Gott. Deswegen fällt jedes kirchliche Vorschriftengebäude, das den Zugang verwehren will, zuletzt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Aus Vorschriften und Verordnungsblättern lassen sich keine klerikalen Absperrbänder drechseln und keine bigotten Stacheldrahtzäune errichten. Eine Kirche, die Mauern errichtet, hat von den Seligpreisungen, von Jesus von Nazareth und von Gottes Reich nichts verstanden. Dieser Jesus, der predigend auf dem Berggipfel stand, wollte den Menschen nicht Regeln einpeitschen. In den Seligpreisungen forderte er keinen Gesetzesgehorsam. Jesus sah Gott nicht als Obrigkeit, der Gehorsam zu leisten wäre.

Preisen

Man muß auf den Namen achten: Die Seligpreisungen wollen Menschen preisen. Sie heben sie auf Worten in den Himmel. Irgendwo in der Menschenmenge, auf dem Berg, wo Jesus redet, aber auch im Park in der Sommernacht, da verbergen sich unerkannt die Barmherzigen, die Friedensstifter, die Sanftmütigen. Jede Gemeinde und jede Gesellschaft braucht sie dringend als Gegengewicht zu all den glaubenden Mauerbauern, den kirchlichen Einzäunern, den frommen Türwächtern, Türhütern und Türstehern, zu den spirituellen Grenzpolizisten, den dogmatischen Besserwissern und vielen anderen, die den Gemeinden das Leben schwer machen.

Keine Frage: Der Jesus der Bergpredigt redet auch über das Gesetz, gerade über das Gesetz, das zum Glauben verhelfen soll. Aber diese Passagen gehören für ihn nicht an den Anfang. Am Anfang der Bergpredigt stehen Loben und Preisen. Preisen ist solch ein altmodisches Wort geworden, der Prediger traut sich kaum, es aufs Papier zu schrieben. Preisen übertrifft das banale und achtlose "Gefällt mir" der sozialen Netzwerke. Wer einen anderen Menschen preisen will, der muß ihn erst kennen lernen, der muß Ahnung haben von seinem Handeln, Denken und Fühlen. Noch viel mehr gilt das, wenn Jesus sagt: Gott preist die Menschen, die barmherzig sind. Gott preist die Menschen, die leiden. Gott preist die Menschen, die Frieden stiften.

Selig sind die Trauernden

Einen Tag nach dem Reformationstag beginnt der November. An seinem Ende steht der Ewigkeitssonntag, wenn die Trauernden Blumen und Kerzen auf die Gräber der Verstorbenen stellen. Der letzte Oktobertag erinnert an die Wärme des vergangenen Sommers und er weist voraus auf das traurige Totengedenken.

Ich kenne eine Pfarrerin, die liest die Seligpreisungen immer wieder bei Trauergottesdiensten vor.  Als wir uns darüber unterhielten, sagte sie: "Mir helfen diese Zusagen in meiner Trauer. Ich finde mich darin wieder. Ich fühle mich durch diese Preisungen geborgen bei Gott. Und ich bin überzeugt, deswegen helfen diese Zusagen den Trauernden. Im Grunde helfen sie auch den Toten. So schlechte Menschen kann es gar nicht geben, daß sie nicht wenigsten ab und an in ihrem Leben Barmherzigkeit geübt oder ein wenig Frieden gestiftet hätten." Seitdem ich von der Pfarrerin gelernt habe, so auf die Seligpreisungen zu vertrauen, höre ich die Worte mit anderen Ohren, mit mehr Zuversicht und Vertrauen. Sie sind für mich zu einem Zeichen geworden. Gott läßt keinen Menschen allein. Das hat auch Martin Luther erkannt: Gott erweist seine Gnade ohne Vorbehalt. Und es genügt, wenn sich die Glaubenden auf diese Gnade verlassen.

Ohne Einreisegenehmigung

Selig sind die, die Gottes Gnade einfach und schlicht (ein zweites altmodisches Wort) im Herzen annehmen. Für das Reich Gottes benötigt niemand eine Aufenthaltserlaubnis, ein Visum, einen Reisepaß oder ein Gesundheitszeugnis. Selig seid ihr. Das Reich Gottes steht allen offen, die sich Gottes Gnade gefallen lassen.

Wer die Seligpreisungen ruhig und meditierend an- und nachhört, der erkennt mitten im Leben der Menschen Gottes Gnade, stets dann, wenn sich in Kleinigkeiten oder im Großen Barmherzigkeit, Gnade und Friede verwirklichen. Das ist nicht auf die wenigen Inseln frommen Glaubens beschränkt, ganz im Gegenteil. Die Seligpreisungen decken überall die kleinen Lichter im großen Schatten von Krankheit, Leiden und Unbarmherzigkeit auf. Ich bete zu Gott, daß solche Lichter auch in Syrien und im Irak brennen, bei den Menschen, die um ihres Glaubens (nicht nur des christlichen) willen verfolgt werden, bei den Menschen auf den Krankenstationen in Liberia, Sierra Leone und Guinea, die sich, gequält vom Ebolafieber, nicht mehr aufrichten können, bei den  Menschen, die im Sterben liegen und das Bewußtsein schon halb oder ganz verloren haben.

Die Seligpreisungen leiten uns an, Leiden und Unbarmherzigkeit nicht zu vergessen. Aber machen sie uns genauso gewiß, daß am Ende Leid und Elend nicht triumphieren werden. Gott stiftet Menschen zu Barmherzigkeit, Frieden und Gerechtigkeit an, ohne moralischen Zeigefinger. Das macht die Schönheit, die Reinheit (das dritte altmodische Wort) der Seligpreisungen aus: Sie zeigen Trost und Schrecken gleichzeitig. Sie zeigen beides in ihrer ganzen Macht. Und sie zeigen, daß der Trost ein klein wenig größer ist als der Schrecken.

Amen. So soll es sein.

Wenn es doch so wäre! Keine noch so schön formulierte Seligpreisung wird die Zweifel, die sich im Angesicht von Epidemien, Terror und Bürgerkriegen melden, endgültig beseitigen. Und doch stiften die Seligpreisungen eine Wirklichkeit. Sie sprechen von bestimmten Menschen, den Barmherzigen, den Friedensstiftern, den Armen im Geiste. Liebe Schwestern und Brüder, der Trost verbirgt sich nicht allein in den Worten. Der Trost verbirgt sich darin, daß Ihnen diese barmherzigen, friedfertigen und geistlich armen Menschen täglich begegnen. Lassen Sie eine solche Gelegenheit nicht achtlos vorübergehen.

Segnen Sie ihn. Amen.

(1) Zu Karl dem Großen und der achteckigen Struktur des Aachener Doms vgl. die lesenswerte Biographie von Johannes Fried, Karl der Große, München 2013, besonders 419ff..

(2) Zum Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung vgl. Wolfgang Vögele, Das Abendmahl der Aktenordner, Ta Katoptrizomena, Heft 90, 2014, http://www.theomag.de/90/wv12.htm.