Auf der Suche nach dem Glück – Aufbruch in Gottes Welt, Predigt zu Markus 10, 17-27 von Maximilian Heßlein
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Auf der Suche nach dem Glück – Aufbruch in Gottes Welt, Predigt zu Markus 10, 17-27 von Maximilian Heßlein

Liebe Gemeinde,
da bricht einer auf. Er geht davon. Traurig und betrübt, er fühlt sich unverstanden, und wahrscheinlich ist er gerade ziemlich allein. Er geht – einer ungewissen Zukunft entgegen. Weg von Jesus, weg aus der Gemeinschaft des Heilands, weg aus der Liebe und der Geborgenheit Gottes. Und Jesus Christus weint ihm offensichtlich keine Träne nach.
Das Erschrecken, Ihr Lieben, unter den Jüngern ist groß. Da geht doch jemand aus der Gemeinschaft weg. Und jetzt?
Manchmal meine ich, dieses Erschrecken auch heute noch wiederzufinden unter den Jüngerinnen und Jüngern Jesu; besonders dann, wenn die Kirche sich um das Verschwinden ihrer Mitglieder Gedanken macht, um sich stetig verringernde Kirchensteuerzahlen und losere Bindungen oder abbrechende Traditionen. Es herrscht in weiten Teilen eine große Angst und Unsicherheit um die Zukunft unserer Gemeinschaft.
Und wissen Sie, womit die Kirche dann antwortet, vielleicht haben Sie das in den letzten Jahren an den verschiedenen Stellen auch miterlebt oder davon gelesen: Sie startet einen Reformprozess und nennt den „Kirche im Aufbruch“. Es wird nach Möglichkeiten gesucht, das kirchliche Leben in Deutschland zu erhalten.
So geschehen in den vergangenen sieben Jahren. In ganz Deutschland. EKD-weit. Hilflos wird nach Verbündeten gesucht, dass selbst der Papst als solcher erscheint. Und die Erkenntnis wird hochgehalten, dass alles für die Vergangenheit richtig war, jetzt aber nicht mehr trägt und man jetzt schnell und zielgerichtet weiterentwickeln müsse.
Kirche im Aufbruch, Ihr Lieben? Ja, wohin läuft sie denn?!
Wissen Sie, ich erlebe da mittlerweile eine sehr in der Welt gebundene und verhaftete Organisation, die in großen Teilen, den Blick für die Sorgen, Nöte und Bedürfnisse der Menschen verliert, die ihr anbefohlen sind. Und was machen diese Menschen? – Sie laufen davon. Fertig und aus und weg sind sie.
Und manchmal tut es mir geradezu körperlich weh, zu sehen, wie wir dann in den Gemeinden von einem Sparprogramm zum anderen getrieben werden, egal wie wir an Ort und Stelle wirtschaften – Sie werden das in absehbarer Zeit auch bei uns in der Christusgemeinde merken, in anderen Gemeinden ist es längst soweit - , wie wir uns professionalisieren müssen und einem ganz eigenen Leistungsprinzip unterstellt werden. Bitte die Zahl der Taufen steigern, noch mehr Trauungen, noch mehr Angebote für bestimmte Milieus und Events, die sich über die Gemeindegrenzen hinaus bewegen. Da werden für teures Geld soziologische Studien in Auftrag gegeben und Reformzentren gebildet, in denen es im besten Wirtschaftsdeutsch um Qualitätsentwicklung (!) im Gottesdienst geht.
Zugleich wird an anderer Stelle gespart, dass es vielen Gemeinden mittlerweile die Luft zum Atmen abschnürt. In der Folge werden Stellen zuerst im menschennahen Gemeindebereich, in den Sekretariaten, in der Hausmeisterei, endlich auch in den Pfarrstellen, abgebaut. Die Wertschätzung für die geleistete Arbeit geht dabei gleich mit den Bach runter.
Denn die Gemeinden sollen ja bitte zu immer größeren Einheiten fusionieren. Die Pflege der Schätze des kirchlichen Lebens wird auf tönerne Füße gestellt.
Die Kirche, Ihr Lieben, droht, unter diesem Druck ihr Gesicht zu verlieren. Der Wert einer Gemeinde an Ort und Stelle wird klein geredet. Da geht nichts mehr zusammen.
Die Evangelische Kirche ist in ganz Deutschland auf der Suche nach ihrem Glück und ihrer Zukunft in dieser Welt. Aber sie tut das vor allem unter ökonomischen, finanziellen Gesichtspunkten. Nur so wird sie noch gedacht und nicht mehr unter dem Wort, das uns den Auftrag gibt: „Folge mir nach; denn bei Gott sind alle Dinge möglich“.
Dieses ganze Streben der heutigen Zeit erinnert mich an eine Untersuchung, die in den letzten Wochen veröffentlicht wurde. Es ging sehr durch Presse und Fernsehen. Vielleicht ist Ihnen das auch begegnet: Der Freiburger Universitätsprofessor Bernd Raffelhüschen, seit einiger Zeit immer mal wieder als Experte in verschiedenen Medien zu Fragen der Zukunft unserer Sozialsysteme präsent, hat zusammen mit anderen einen Glücksatlas für Deutschland geschrieben. Er hat untersucht, wo die Menschen am glücklichsten leben und welche Faktoren dieses Glück am meisten beeinflussen.
Die Forscher sind auf folgende Formel gestoßen: Glück ist gleich G1 mal G2 mal G3 mal G4. Dabei definierten sie Glück als Lebenszufriedenheit. Und die vier Gs stehen für Geld, Gesundheit, Gesellschaft und Gene. Die entscheidenden Faktoren und damit auch die eigentlichen Güter unseres Lebens. Menschen werden zu verfügbaren oder unverfügbaren Dingen, die Intensität der Beziehung aber bleibt auf der Strecke.
Wenn diese Faktoren alle zusammenpassen, wenn genug Geld da ist, wenn keine ernsthafte Erkrankung auftritt, wenn es eine Vielzahl menschlicher Kontakte gibt und die genetische Grundausrichtung stimmt, dann sind oder vielleicht muss ich eher sagen, dann fühlen sich die Menschen glücklich und zufrieden. Dabei kamen dann durchaus nachdenkenswerte Ergebnisse heraus. Vor allem aber das Ergebnis, dass schon ein Totalausfall (kein Geld, schlechte Gesundheit, schlechte Gene, keine Freunde) genügt – so habe ich das zumindest verstanden – und das Glücksgefühl nimmt rapide ab.
Auf dieser Grundlage stellten die Forscher dann fest, dass in Hamburg mit etwas Abstand die glücklichsten Menschen leben und in Thüringen die relativ gesehen unglücklichsten.
Vielleicht deckt sich das ja auch mit Ihrer Erfahrung. Mich allerdings hat das alles eher verstört. Ist  denn Hamburg, die Stadt mit dem größten Reichtum in Deutschland, nur zufällig auch die glücklichste?
Und kann es sein, dass sich nicht etwa ein Ethiker, besser noch ein Theologe oder vielleicht ein Gesellschaftswissenschaftler, sondern mit Herrn Raffelhüschen vielmehr ein Finanzwissenschaftler mit diesen Fragen in unserer Welt beschäftigt und wundert sich dann wirklich noch jemand über diese Ergebnisse, in denen Kultur und Religion keine Rolle mehr spielen?
Liebe Gemeinde, wir leben in einer ungeheuren Leistungsgesellschaft und in wenigen Sektoren unseres Lebens spielt dieses Leistungsdenken und die schnelle Gewinnoptimierung so eine große Rolle wie im Finanzsektor. Das haben wir ja alle erfahren in den letzten Jahren.
Nun ist Leistung per se ja nichts Schlechtes, aber wenn sie das absolute und überhaupt beste ist, was mache ich dann mit den Menschen, die zu solchen Leistungen nicht mehr fähig sind oder die erst gar keine Chance eingeräumt bekommen, sich an diesen Prinzipien zu beteiligen?
Und verorte ich mich nicht mit all diesen Dingen allein in dieser Welt und ausschließlich bei mir selbst. Es geht um meinen Reichtum, um meine Gesundheit, meine Gene und meine Freunde. Kennen Sie noch die Werbung aus dem Fernsehen: Mein Haus, mein Garten, mein Auto, meine Jacht!? So kommt mir das Leben hier vor, gebunden an die allzu weltlichen Dinge des Lebens und Sterbens unter uns.
Was aber helfen denn all diese Dinge, was helfen diese vier Gs wirklich, wenn es hart wird im Leben? Wenn ich den Boden unter den Füßen verliere, mir meine Zeit durch die Hände rinnt und ich alles wie im Flug vorbeigehen sehe? Was hilft es mir, wenn ich am Abgrund stehe? Kann ich mich dann immer noch selbst verwirklichen und aus mir selbst heraus leben?
Liebe Gemeinde, diese Studie unterschlägt nach meiner Einsicht vollkommen, dass  ich mich nicht selbst retten kann, sondern dass ich manchmal die Hilfe von außen brauche. Im Ringen um mein Leben zähle ich nicht mehr. Der junge Mann unserer Geschichte weiß das, das ist der einzige Grund, warum er zu Jesus herantritt und so gerne in seine Gemeinschaft kommen möchte.
So erzählt uns also die biblische Geschichte etwas ganz anderes als der Professor aus Freiburg. Und wissen Sie, liebe Gemeinde, ich glaube, wir sind als die Kirche Jesu gerade dazu da, dieses andere in einer Welt hochzuhalten, die sich den diesseitigen Freuden und Reichtümern so sehr verschrieben hat, dass sie mittlerweile sogar unser kirchliches Leben in so großen Teilen mitbestimmt.
Jesus aber tut nur eines: Er fordert den jungen Mann auf, die Last und den Druck des Selbstverwirklichen Müssens abzulegen. Er will etwas spüren, von dessen Lust am Leben, von der Freiheit, die wir alle miteinander einmal von Gott geschenkt bekommen haben. Er will etwas erfahren davon, wie dieser Mensch als Mensch lebt und nicht als Maschine seiner Zeit und der Güter um ihn herum.
So ist seine Antwort auf die Frage des Mannes nach der Ewigkeit eigentlich eine ganz einfache: Kümmere dich nicht um die Ewigkeit, sondern lass mich das tun. Es ist Gottes Werk an dir. Du aber kannst in meiner Nachfolge mithelfen, dass es denen, die sich nicht angenommen fühlen, die um ihr Auskommen hier kämpfen müssen, dass es denen, die unter dem Druck dieser Gesellschaft zusammenbrechen, dass es denen besser geht.
Schließ dich mir an, lass Gott sich um dich kümmern und werde zufrieden in dem Dienst, den du für ihn und seine Geschöpfe tust.
Jesus kann den Mann aber dazu nur auffordern, weil er selbst sich nicht nur in dieser Welt und in der Verwirklichung seines Lebens durch sich selbst verortet, sondern weil er um die Begleitung Gottes in allen Lagen weiß. Sonst wäre sein Weg der Liebe und des Leides nicht möglich gewesen, und der Gang ans Kreuz in den Ostermorgen hinein schon gar nicht. Es ist Gottes Werk an dem, der sich bedingungslos in seine Gemeinschaft stellt und damit die freie Gemeinschaft Gottes mit den Menschen endgültig aufrichtet.
Genau in diesem Gottvertrauen, in dieser gewollten und verantworteten Herauslösung aus den Bindungen des Lebens geht Jesus Christus den Weg des Mannes in die entgegen gesetzte Richtung. Er löst den Widerspruch unseres Lebens auf und macht sich auf den Weg nach Golgatha, dem Ruf Gottes folgend.
In ihm aber erfahre auch ich meine Rettung, weil Gott sein Begleiter über alles Leid und alle Not ist und eben am Kreuz nicht das Ende sondern einen neuen Anfang findet. Das ist der Weg, in den wir alle gerufen werden.
Und wie ist das jetzt mit der Kirche in unserer Zeit? Wir Evangelischen schauen ja immer mal ganz gerne auf die Probleme, welche die Katholiken gerade haben, und merken manchmal gar nicht, dass wir schon längst auf demselben Weg sind.
Diesen neuen Anfang, den Jesus hier einfordert, könnte die Kirche der heutigen Zeit, in dem von ihr so heftig empfundenen Kreuz des Mitgliederschwundes, des verlorenen Vertrauens und des zunehmenden Bedeutungsverlustes in der Gesellschaft auch finden, nämlich das Loslassen und Absehen von den weltlichen Bindungen und das Trauen auf Gottes Wort und seine Verheißung der Gnade für alle Zukunft.
Wenn wir das nicht mehr tun, Ihr Lieben, wer soll es denn dann noch machen? Wenn wir als Kirche Jesu Christi nur noch dieser Welt hinterher laufen, uns den Zahlen preisgeben und nicht mehr an die Menschen denken, denen wir verbunden sein wollen, dann brauchen wir diese Kirche nicht mehr. Wenn wir uns nur noch um uns selbst und unsere Strukturen drehen, dann binden wir uns nach und nach selbst in dieser Welt fest und verlieren den Blick auf Gottes Möglichkeiten, und wir verlieren sein erlösendes, befreiendes Handeln an uns.
Übrigens hat da die Bekenntnissynode von Barmen 1934 in gleichwohl bedrängenderer Zeit eine wunderbare Auslegung all dieser Überlegungen gegeben. Inspiriert und geführt von Karl Barth, der in diesem Jahr 125 Jahre alt geworden wäre, bekannte sie im zweiten Artikel:
Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.
Nächste Woche ist Reformation, Ihr Lieben, wir denken an das Herauslösen aus ganz anderen Bindungen – da ist übrigens Gottesdienst bei uns – und ich frage mich, ob wir nicht doch irgendwann wieder diesen Weg einschlagen werden, weil wir endlich wieder unsere Bedürfnisse als Gemeinden und Menschen dieser Kirche artikulieren, von der Erlösung Gottes zu erfahren und seiner freien Gnade. Das ist unsere Heimat, der sichere Hafen unseres Lebens und unseres Sterbens heute und morgen. 
Ich jedenfalls möchte diese Bindungen der Welt gerne verlassen und zum Dienst in Gottes Welt weiter aufbrechen. Kommen Sie doch mit! Wir sind froh befreit! Tun wir das gemeinsam und nehmen wir seine Kirche unter unsere Füße zu freiem dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen! Amen.
Perikope
Datum 23.10.2011
Bibelbuch: Markus
Kapitel / Verse: 10,17
Wochenlied: 397 494
Wochenspruch: 1 Joh 4,21