Auf die Finger schauen - Predigt zu Römer 2,1-11 von Markus Kreis
2,1-11

Auf die Finger schauen - Predigt zu Römer 2,1-11 von Markus Kreis

Liebe Gemeinde,

die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Ein simpler Satz. Dem Sinn nach schon dem Paulus geläufig. Und doch dauernd der erhobene Zeigefinger! Warum nur der erhobene Zeigefinger? Das einzige, was an des Predigers Weste weiß ist, ist doch das Beffchen. Der erhobene Zeigefinger – das ist halt die sicherste Form von Einfluss, den ein Pfarrer noch hat.

Wenn auch unsere Zeit von Kirche kaum noch etwas weiß, dies eine ist den meisten Leuten heute gewiss: Die von der Kirche sagen, was gut und was böse ist. Die haben den Anspruch zu wissen, was moralisch in Ordnung geht. Und was nicht.

Für die einen ist dieser Anspruch auf moralische Wahrheit ein Witz. Sie kennen ihn zwar noch, aber sie finden ihn alles andere als in Ordnung. Gerne verweisen sie dabei auf die Kirchengeschichte: Kreuzzüge, prassende Päpste, heimliche Beziehungen zwischen Mönch und Nonne, Kampf gegen offensichtliche Wahrheiten bis hin zur Tötung von deren Verfechtern. Verschwörungen im Vatikan. Offene Zusammenarbeit mit den Nazis und so weiter und so fort.
In ihren Augen hat die Kirche diesen Anspruch verwirkt. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute.

Andere wiederum finden diesen Anspruch schon ein Stück weit in Ordnung. Aber nicht so sehr für sich persönlich. Nur für ihre Kinder. Genauer gesagt: für die Kindererziehung überhaupt. Die Kirche bringt den Kleinen bei, was richtig und was falsch ist, was gut und was böse. Dazu ist die Kirche gut und ihr erhobener Zeigefinger.

Denn in das echte große Leben passen sie irgendwie nicht so recht rein – die christlichen Ermahnungen. Sie scheinen zu einfach, wo unsere Zeit so kompliziert ist. Man weiß gar nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Was gut und was böse.

Würde man sich einfach so an Jesu einfache Gebote halten, dann hätte das komplizierte Folgen für unser kompliziertes Leben: die andere Backe auch hinhalten, sieben mal siebzig mal vergeben, sich die Augen ausreißen, wenn man sich in jemand anders verguckt, teilen statt beiseite zu schaffen und so weiter. Nicht auszudenken, was das mit unserem Leben anstellen würde.

Und dann gibt es welche, denen ist die Kirche noch nicht scharf genug. Verweichlicht, der Welt zu angepasst, dem Zeitgeist nachgebend. Die wissen jederzeit ganz genau, was Gott will. Und halten sich entsprechend daran. Die finden es schade, dass man nur einen Zeigefinger an der rechten Hand hat – man bräuchte schließlich eher Hundert. Man könnte den von der linken dazu nehmen – diese Geste würde aber leider nicht recht verstanden werden.

Warum der erhobene Zeigefinger? Der bringt doch nur eine Menge Ärger und Probleme ein. Paulus hat ihn wie eine Nervensäge unter den frisch gewonnen Christen erhoben. Seine Nachfolger erhoben nicht nur den Zeigefinger, sondern das Schwert. Die Kirche kämpfte mit viel Gewalt für ihre Friede heischenden Ansprüche. Heute ist der Zeigefinger schlichtweg aus der Mode. Nur ältere Erwachsene benutzen ihn, um auf dem Smartphone ihre Mitteilungen einzutippen. Oder um ihre Bildchen und Filmchen zu verbreiten. Jüngere benutzen dazu ihre zwei Daumen.

Warum der erhobene Zeigefinger? Ganz einfach: Weil Gott selber ihn erhebt. Deshalb müssen Christen davon reden. Ganz unabhängig davon, um welche Gebote und Verbote es genau und im Einzelnen geht. Sogar dann, wenn sie zuallererst und am besten sich selbst ermahnen würden. Also eher Adressaten der Ermahnung wären als ihre Absender. Ja, sogar dann, wenn sie sich damit eine gewaltige Menge Spott, Ärger und Probleme einhandeln.
Denn dieses göttliche Erheben geschieht nicht so offensichtlich. Obwohl es sich mit Sicherheit ereignet, von Mal zu Mal, stetig und dauernd. Und doch geschieht es oft genug im Verborgenen. So dass die Betroffenen es kaum bemerken. Wie gesagt, wenn die Welt sonst auch kaum noch etwas von der Kirche weiß – der erhobene Zeigefinger ihrer Vertreter scheint im Gedächtnis zu bleiben.

Aber wie sieht es mit dem göttlichen Zeigefinger in uns persönlich aus? Wenn wir angesprochen sind? Kirchlicher und göttlicher Zeigefinger sind nämlich nicht von vornherein dasselbe.

Gott redet uns ins Gewissen – wieder und wieder. Oft hören und erhören wir ihn, oft aber auch nicht. Beziehungsweise erst dann, wenn die Sache gelaufen ist. Dann kann sich Gottes Stimme plötzlich wortgewalttätig ins Gewissen drängen. Und lässt keine Ruhe. Stupst einen laufend an mit ihrem Zeigefinger.

Wir Menschen sind Weltmeister im Verdrängen. Darin sind wir so gut, dass wir es noch nicht einmal bemerken, das Verdrängen. Da kann Gott uns noch so sehr ins Gewissen reden. Da kann er uns noch so sehr und so schön mit seinem Zeigefinger anstupsen wie in Michelangelos Schöpfung. Oder wie durch Johannes den Täufer auf dem Isenheimer Altar.

Da kann Gott in uns mit den Fingern schnippen wie ein Erstklässler, der mit aller Gewalt dem Lehrer antworten will. Und befürchtet, nicht dran genommen zu werden. Wir übersehen ihn, rufen lieber eine andere Antwort auf. Betrachten uns als seine Lehrer, obwohl wir Gottes Schüler sind. Verklären unsere Gebote und Verbote zu Ansprüchen, die von Gott kommen. Ja, so sind wir Menschen.

Wir durchschauen viel weniger gut die Folgen unseres Tuns, als wir denken oder wünschen. Auch Big Data erfasst nicht alles. Nur sehr, sehr vieles. Mancher erkennt so manches vielleicht erst auf dem Sterbebett. Jeder gewiss, wenn er im Himmel vor seinen Richter Jesus tritt. Spätestens dann wird klar: „Da hab ich etwas angerichtet, das hätte ich im Leben nicht geglaubt.“ Diese Erkenntnis wird sich einstellen. Zum guten Glück nicht nur für Böses, das wir ohne einen Schimmer davon verbrochen haben. Es wird auch Gutes geben, das wir vollbracht haben. Das wir erst später erkennen.

Menschen wissen um den göttlichen Zeigefinger und übersehen ihn doch. Drängen ihn erfolgreich aus ihrem Leben. Manchmal gelingt das nur kurz, manchmal sehr lange. Und nicht immer folgt eine Strafe auf den Fuß. Und selbst dann kommt es nicht unbedingt zu Reue und Einsicht.

Gott jedoch wird Zeigefinger und Stimme todsicher erheben. Auch wenn die Sonne gleichermaßen über Gerechte und Ungerechte aufgeht. Auf dieses Feedback müssen Christen aufmerksam machen. Denn wir Menschen sind Weltmeister im unbemerkten Verdrängen und Verkennen, gerade der eigenen Blößen und Fehler vor Gott. Auch Christen werden manch überraschendes Feedback Gottes aushalten müssen.

Wir haben in die toten Winkel unseres Ichs geschaut. Schauen wir auf unsere blinden Flecken, was die Mitmenschen angeht. Genauer gesagt, auf unser Bild von deren Tun und Lassen. Auch hier gibt es Offensichtliches und weniger Offensichtliches, Verborgenes. Wir überblicken ja nur schwerlich unser eigenes Tun mit seinen Folgen und Voraussetzungen. Nicht alles, was uns am Tun und Lassen anderer misslich erscheint, ist zwangsläufig von Gott verworfen.

Jesus ist schließlich von uns Menschen gekreuzigt worden. Aus unserer Blindheit für Gottes Wollen, Machen und Vollbringen. Und dieser Blindheit sind wir nur teilweise und aus Gnade enthoben. Wer also kann in Abrede stellen, dass ein Mitmensch so oder so handelt, weil sich in ihm Gott erhoben hat? Mit Stimme und Zeigefinger? Wo doch wir bei uns selbst nicht immer sicher sein können.

Manchmal wird ein solcher Missetäter abgestraft. Dann zahlen ihm Mitmenschen sein Verfehlen heim. Er erleidet Vergeltung. Das heißt heute unter Jugendlichen übrigens Karma. Erlittene Vergeltung – auch das ist nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass einer Gottes Zeigefinger aus seinem Denken und Tun verdrängt hat.

Vieles von dem, was wir als göttliche Vergeltung oder Karma bewerten, entspringt nur der Selbstgerechtigkeit. Oder Bosheit und Niedertracht. Begleichung alter Rechnungen. Kommt also aus der Sünde. Denn es gilt: „Die Rache ist mein“, spricht der Herr. Und: sieben mal siebzigmal vergeben.

Und auch da wandeln wir uns oft flugs von Gottes Schülern und Jüngern zu Lehrern. Tauschen die Rollen. Wissen es besser. Machen Gott mit seinem Vergebungsgedöns zum Schüler und lassen ihn alt aussehen. Obwohl er doch genauso der ewig Neue ist. Erkennen unsere toten Winkel und blinde Flecken nicht.

Wie gut, dass Gott besser durchblickt. Wie gut, dass Gott Bescheid weiß! Wie gut, dass Gott Recht hat und Recht behalten wird! Wie gut, dass Gottes Gerechtigkeit seinen Leuten Vergebung zuspricht. Auch dann, wenn sie sich als Lehrer mit blinden Flecken und falschen Ansprüchen heraus gestellt haben. Gott vergibt uns. Da müssen wir ihm nur auf die Finger schauen. Am Isenheimer Altar lässt er Johannes den Täufer mit seinem Finger auf den Gekreuzigten zeigen. Amen.

Perikope
Datum 16.11.2016
Bibelbuch: Römer
Kapitel / Verse: 2,1-11