Auf schmalem Grat - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Olaf Waßmuth
18, 9-14

Auf schmalem Grat - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Olaf Waßmuth

Liebe Gemeinde,

über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
In letzter Zeit besonders. Meine erste Zugfahrt seit Corona: Der ICE ist ordentlich voll und bei vielen hängt der Mund-Nase-Schutz nur locker am Kinn. Sogar bei der Zugbegleiterin! So bringt das wirklich nichts, denke ich. Ich habe meine Maske natürlich ordnungsgemäß aufgesetzt und vor der Reise extra gewaschen. Warum kapieren die andern eigentlich nicht, dass es beim Corona-Schutz auf jeden ankommt? Es regt mich auf.

Über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
Da hat wieder einer sein SUV haarscharf neben unsere Garageneinfahrt gestellt. Ich würde mir nie so ein Riesenauto kaufen, das massenhaft CO2 in die Luft bläst. Und unser Nachbar, der meistens alleine unterwegs ist, behauptet, er fühlt sich einfach sicher darin. Klimaschutz geht uns alle an, lieber Nachbar! Das sage ich allerdings nicht, sondern denke es bloß.

Über manche Leute kann ich nur den Kopf schütteln.
Über Donald Trump und alle, die ihn unterstützen, sowieso. Auf Facebook habe vor ein paar Wochen auch ich „Black Lives Matter“ gepostet. Gerne zitiere ich Martin Luther King. Schlimm, wie tief die Diskriminierung der Schwarzen in den USA immer noch verwurzelt ist. „Und wie ist das bei Euch?“ fragt eine amerikanische Kollegin auf Facebook zurück: „Was tut Ihr gegen Rassismus?“ Dazu fällt mir erst mal nichts ein.

Es gibt so einige Punkte, da bin ich überzeugt, ich habe Recht. Bin ich nicht gut informiert? Handle ich nicht so verantwortungsvoll wie möglich?
Ja, vielleicht habe ich Recht. Und doch: wer Recht hat und das Richtige tut, wandelt manchmal auf schmalem Grat.

9 Jesus sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Liebe Gemeinde,
Jesus erzählt eine Geschichte, der man nicht entkommen kann. Ganz schnell gleichen wir als Hörerinnen und Hörer dem Bibelleser in einem Gedicht von Eugen Roth:

Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin!

Menschen vergleichen sich mit anderen. Ständig. Ganz schnell tappt man in die Falle. Ganz schnell ist gerade der, der starke Überzeugungen hat, vor allem von sich selbst überzeugt.

Um das zu zeigen, wählt Jesus zwei Gruppen, bei denen man zu seiner Zeit zu wissen meinte, wer die Guten und die Bösen sind. Die Pharisäer waren die religiöse Elite. Wir assoziieren mit ihnen heute oft Heuchelei, was auch an dieser Geschichte liegt. Tatsächlich waren Pharisäer, die Mitglieder einer Laienbewegung, aber durchaus ernst meinende und konsequente Menschen. Ihnen lag viel an einer Erneuerung des Judentums durch persönliche Frömmigkeit. Darin waren sie gar nicht so weit von Jesus entfernt. Die anderen, die Zöllner, waren Steuereintreiber, nicht selten korrupt, die sich von der verhassten römischen Besatzungsmacht ein paar Privilegien erkauft hatten. Das muss man nicht sympathisch finden. Jesus aber stellt Gut und Böse auf den Kopf: Der Pharisäer erhebt sich vor Gott über andere Menschen und spricht sich selbst gerecht; der Zöllner ist demütig und erwartet alles von Gott.

Die christliche Leserschaft hat sich, wie im Gedicht von Eugen Roth, gerne mit dem Zöllner identifiziert: Wie gut, dass wir nicht so selbstgerecht sind wie jener Pharisäer; wir wissen es wenigstens noch und stehen dazu, dass wir Sünder sind. Besonders der evangelische Teil der Christenheit neigte zu etwas, was man „Sündenstolz“ nennt: Wir haben Gott nichts zu bieten, aber – ha! – uns ist unser menschliches Elend wenigstens bewusst! – Und schon schnappt die Falle der Geschichte wieder zu…

Heute dürfte es kaum noch möglich sein, sich mit Frömmigkeit und religiöser Praxis zu brüsten. Aber Rechthaberei und Überheblichkeit blühen auch jenseits davon. Je polarisierter eine Gesellschaft ist, desto größer die Gewissheit der einen, den anderen überlegen zu sein. Die anderen, das sind die Idioten, die auf Fake-News, Populismus oder Hetze reinfallen.

Von einer Sache überzeugt zu sein, ohne sich dabei über andere zu erheben – das ist eine Gratwanderung. Der Versuch, demütig zu bleiben, ohne sich dann darauf etwas einzubilden – dabei kann einem schwindelig werden. Letztlich ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Darum hat Martin Luther die Christenmenschen als solche beschrieben, die immer „gerecht und Sünder zugleich“ sind. Manche sagen: das ist protestantischer Pessimismus. Ich finde: Das ist der Realismus von Menschen, die sich selbst ganz gut kennen.

Jesus mutet den Menschen, die ihm begegnen, den Moment des Erschreckens über sich selbst zu. Der ist nötig. Aber dabei bleibt es nie. Die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner zeigt: Man kann, man darf, man soll mit leeren Händen vor Gott stehen. Welche Anforderungen wir selbst und andere auch immer an uns stellen: Vor Gott genügt es, ehrlich und hoffnungsvoll um seine Barmherzigkeit zu bitten.

Mit leeren Händen vor Gott stehen heißt nicht, die Hände in die Hosentaschen stecken. Was wir tun und sagen, wie wir leben, ist damit nicht egal. Nur weil Menschen, die nach ihren Überzeugungen handeln, so schnell von sich selbst überzeugt sind, sollte man nicht aufhören zu tun, was man als richtig erkannt hat. Unsere Geschichte legitimiert nicht den wohlfeilen und hässlichen Spott über sogenannte „Gutmenschen“. Im Gegenteil.

Einem Rassisten, Antisemiten oder Verschwörungstheoretiker muss man widersprechen. Eine Wende in unserem Lebensstil braucht Menschen, die sie vorleben und einfordern. Und unser Glaube bedarf durchaus der Menschen, die seine Traditionen und Rituale praktizieren und weitergeben, wie es die Pharisäer zu ihrer Zeit taten.

Wer versucht, das Richtige zu tun, ohne der Selbstgerechtigkeit zu verfallen, ist auf schmalem Grat unterwegs. Vier Gedanken möchte ich nennen, die mir persönlich helfen, dabei die Balance zu halten:

1. Moralische Entrüstung ist fast immer schädlich, besonders dann, wenn sie an die Stelle moralischen Handelns tritt. Das versuche ich mir immer neu zu sagen, wenn es mich juckt, einen Leserbrief zu schreiben oder einen Facebook-Kommentar abzugeben. Entrüstung schafft, anders als konkrete Kritik, keine Veränderung, sondern bloß negative Stimmung.

2. Das Zentrum der Botschaft Jesu sind nicht „Werte“, sondern Liebe, die erfahren, verkündet und weitergegeben wird. Die gelebte Liebe ist viel weniger in Gefahr, sich zu überheben als ein moralischer Anspruch. Jedes Urteil über andere muss geprüft werden, ob es diesem anderen in Liebe dient – oder ob ich mich damit bloß selbst bestätige.

3. Barmherzigkeit lebt von der Phantasie. Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre der, über den ich urteile. Nur wenig hätte in meinem Leben anders laufen müssen, dann stünde ich Pharisäer dort, wo jetzt der Zöllner steht. Gewiss, ich habe mir meine Überzeugungen selbst gebildet – aber die Voraussetzungen dafür lagen meistens nicht in meiner Hand. Mit ganz viel Phantasie kann ich mir sogar vorstellen, dass ich es bin, der sich irrt…

4. Miteinander reden ist immer besser als übereinander. Das hat Jesus vorgelebt. Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist eingebettet in sein Leben, in dem er sich immer wieder mit beiden, mit den Pharisäern und den Zöllnern, an einen Tisch gesetzt hat. Den anderen zu kennen, schließt Kritik nicht aus. Aber es beugt der Verachtung vor.

Mir helfen diese Einsichten, wenn ich in unserer Zeit mit denen zu tun habe, über die ich im Stillen – und manchmal auch laut – den Kopf schüttele. Dann denke ich daran, dass ich auf schmalem Grat wandere. Dann kneife ich mich und sage still – und manchmal auch laut –: Gott, sei mir Sünder gnädig! Amen.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Olaf Waßmuth: 

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In Corona-Zeiten kommt, zumal in den Sommerferien, vor allem die Kerngemeinde zum Gottesdienst. Die ist bei uns gut bürgerlich, eher älter, aber gesellschaftlich und kirchlich interessiert und oft überdurchschnittlich engagiert. Es sind Menschen, die viel Gutes tun und im eigenen Bewusstsein gewiss „auf der richtigen Seite“ stehen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Geschichte, die Jesus erzählt, erscheint mir überraschend zeitlos. Darum wollte ich nicht zum x-ten Mal Exkurse über Pharisäer und Zöllner halten, sondern die Zuhörer in das Spiegelkabinett führen, in dem man sich immer wieder selbst ertappt. Ja, auch ich vergleiche mich mit anderen – und wäre gerne frei davon. Die Frage „Wie komme ich da raus?“ hat mich beschäftigt. Dabei bin ich immer davon ausgegangen, dass heute moralische Selbstgerechtigkeit an die Stelle der religiösen getreten ist.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Bild des Balanceaktes zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit hat im Laufe der Vorbereitung das Bild des Spiegelkabinetts, in das Jesus uns führt, verdrängt. Ich vermute, es gibt keinen „Ausweg“ aus dem Dilemma, sondern nur vorsichtige Schritte „im Dilemma“. Das Gerechte tun und dabei nicht in Selbstgerechtigkeit verfallen, ist eine bleibende Herausforderung.  Ein Balanceakt eben.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Rückmeldung der Beraterin hat mich den Eingangsteil neu schreiben lassen, in dem das „Ich“ vorher nicht ausreichend mit meiner Person verbunden schien. Außerdem habe ich etwas Bildungsballast reduziert und versucht, den theologischen Mittelteil weniger steil zu formulieren. Das Bild der Gratwanderung, das ursprünglich nur im letzten Teil vorkam, habe ich nun mehrfach verwendet.

 

Perikope
Datum 23.08.2020
Bibelbuch: Lukas
Kapitel / Verse: 18, 9-14