"Damit euch die Finsternis nicht überfalle" - Predigt über Johannes 12, 34-36 von Martin Weeber
12,34

"Damit euch die Finsternis nicht überfalle" - Predigt über Johannes 12, 34-36 von Martin Weeber

Damit euch die Finsternis nicht überfalle.
  
  34 Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn?
  35 Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.
  36 Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.
  
  Es wäre eine reizvolle Aufgabe, eine biblische Lehre vom Licht zusammenzustellen.
  Durch den ganzen biblischen Kanon hindurch würde man fündig.
  Gleich in den allerersten Versen der Bibel begegnete man dem Licht als einem der allerersten Schöpfungswerke: „Gott sprach, es werde Licht! Und es ward Licht!“
  Aber auch im Zusammenhang der Erlösung spielt die Lichtmetaphorik eine zentrale Rolle, wenn Christus von sich sagt: „Ich bin das Licht“, und wenn er die Verheißung hinzufügt: „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Johannes 8, 12).
  Und schließlich spielt die Lichtmetaphorik in der Grundlegung der christlichen Ethik eine zentrale Rolle, wenn der Erlöser zu uns sagt: „Ihr seid das Licht der Welt.“ (Matthäus 5, 14)
  Wie eng, wie wunderbar eng rückt sich der Erlöser mit uns zusammen:
  „Ich bin das Licht der Welt – Ihr seid das Licht der Welt.“
  Von der Lichtlehre her könnte man einen ganz eigenen und facettenreichen Zugang zur Bibel gewinnen, zu diesem Buch, das trotz mancher dunkler Stellen ein durch und durch lichtvolles ist.
  Aber nicht nur für die Bibel, sondern auch für unsere Lebenserfahrung spielt das Erleben des Lichts eine ganz zentrale Rolle.
  Wenn der Tag anbricht, ersteht die Welt um uns wie neu aus dem undurchdringlichen Dunkel.
  In jedem Hellwerden scheint das Licht des ersten Schöpfungsmorgens wieder auf:
  „Morning has broken, like the first morning.“
  Die schwarze Undurchdringlichkeit gibt beim zunehmenden Licht die Dinge frei, eines nach dem anderen. Wir werden gewahr, wie wunderbar differenziert der Schöpfer unsere Welt gestaltet hat:
  Sieh nur all die Farben an und diese Formen!
  Sieh an die Zartheit der Blütenblätter, tautropfenbedeckt, sieh an den Nebel, der langsam sich lichtet!
  Mein größter Respekt gilt jenen, die all das nicht sehen können und dennoch das Leben lieben.
  Andere Quellen des Lichts scheinen sich ihnen bisweilen zu erschließen.
  Wie orientierungslos sind wir, die wir uns für Sehende halten, wenn wir plötzlich in Finsternis geraten.
  Wir tapsen unbeholfen durch unsere Wohnungen, wenn nachts einmal der Strom ausfällt, ständig in Gefahr, zu stürzen.
  Das Licht erschließt uns die äußere Welt.
  Einen Überblick gewährt uns der Gesichtssinn, der doch ohne Licht nicht auskommt.
  Ferne Berge am Horizont:
  Wie wollten wir sie auch ohne Licht wahrnehmen?
  Wie einen Überblick gewinnen in der Dunkelheit?
  
  Auch unsere innere Welt beschreiben wir in Metaphern des Lichts:
  Plötzlich sich einstellende Erkenntnisse benennen wir mit Licht-Bildern:
  Ein Licht geht uns auf. Wir „sehen etwas ein“.
  Und umgekehrt kennen wir die Verfinsterung der Seele, es wird bisweilen dunkel in unserem Gemüt.
  Nacht legt sich über unsere Gedanken, bedrohliche Nacht.
  Wie gut, wenn sich unsere Stimmung dann wieder aufhellt, wenn sich ein Lichtblick zeigt!
  Auf Licht sind wir angewiesen und können es nicht selbst hervorbringen.
  Und Licht der Welt sind wir doch nur so, wie der Mond die Nacht erhellt:
  Wir reflektieren bestenfalls jenes Licht, in das Christus uns setzt.
  
  Dass wir das Licht nicht selbst hervorbringen können:
  Dafür mag uns Heutigen das Gefühl verlorengegangen zu sein.
  Wir sind es gewohnt, Schalter und Knöpfe zu betätigen – und schon wird es hell.
  Wir machen die Nacht zum Tage, arbeiten bis Mitternacht im Schein der Schreibtischlampe, schreiben Predigten, wenn wir längst schon schlafen sollten.
  Als ob wir als Herren des Lichts auch Herren über unsere Zeit sein könnten.
  Welch eine Illusion!
  Wenn wir verstehen wollen, worauf es Christus in unserem Predigttext ankommt, dann müssen wir versuchen, uns ein wenig von unseren kulturellen Selbstverständlichkeiten zu lösen.
  Wir müssen uns ein wenig in jene Zeiten versetzen, in denen die Nacht allenfalls durch trübe Lämpchen notdürftig erhellt werden konnte, in kleinstem Umkreis.
  In jenen Zeiten war dies eine Erfahrung von elementarer Wucht:
  Das Licht kommt – aber es geht auch wieder.
  Die Nacht bricht herein – und niemand hält sie auf.
  Es gibt eine Zeit, in der wir wirken und handeln können.
  Und es gibt eine Zeit, in der wir nichts tun können: die Nacht.
  Der Tag mit seinem Licht ist die Sphäre der sich bietenden Gelegenheiten:
  Hierhin gehen, dorthin gehen. Arbeiten, säen, ernten, Handel treiben.
  In der Nacht können wir nichts tun.
  Ja, in der Nacht sind wir bedroht.
  Wir verschließen die Tür und warten auf den Morgen.
  „Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.“
  Auf diesen Aspekt zielt Jesus mit seinen Worten:
  Das Licht ist nur begrenzte Zeit vorhanden.
  Seine Worte zielen nicht ab auf den beruhigenden immerwährenden Wechsel von Licht und Finsternis.
  Sie zielen nicht ab auf die Tage, die den Nächten folgen.
  Jesus redet von dem Tage, der einmal ist und dann vergeht.
  Dieser Tag, der einmal ist und dann vergeht, dieser Tag bildet das Leben Jesu ab, und er bildet unser eigenes Leben ab.
  Unser Leben ist ein Tag, der einmal ist, der einmalig ist, und dann vergeht.
  Dass wir darauf hoffen, dass auf die Nacht des Todes einst ein neuer Tag folgen wird:
  Das tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache.
  Das Wort Jesu nimmt die Einmaligkeit und die Begrenztheit unseres Erdenlebens in den Blick:
  „Wandelt, solange ihr das Licht habt.“
  Was einmal getan ist, ist getan.
  Und was nicht getan ist, ist nicht getan.
  Das macht die Dramatik unseres Daseins aus.
  Mit großer, lichter Klarheit spricht Christus aus, was gilt:
  Unser Leben ist eine Entscheidungszeit.
  So ist es.
  Und er spricht zugleich in der ihm eigenen souveränen Gelassenheit aus, worin er die zentrale Lebensentscheidung erblickt:
  In der Entscheidung für ihn oder gegen ihn.
  Man kann lange darüber nachdenken, ob diese große Grundentscheidung eine freie Entscheidung ist, oder ob sie nicht eine Entscheidung ist, die für uns, aber nicht durch uns getroffen wird.
  Ich selber tendiere zu dieser Sicht:
  Ich denke, dass das Licht sich uns von sich aus zeigt.
  So uranfänglich wie das Schöpfungslicht aus Gott hervorgeht.
  Gott gibt den hellen Schein in unsere Herzen, nicht wir selber.
  Wir sind’s nicht, die ein Licht in unseren Herzen entzünden könnten.
  Da halte ich es ganz mit dem Apostel Paulus, wenn er schreibt:
  „Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ (2. Kor. 4, 6)
  Und dennoch bin ich froh über dieses durchaus harte Wort des Erlösers:
  „Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle.“
  Denn durch dieses Wort lädt Christus uns ein, unser Leben in klarer Bewusstheit zu führen:
  In klarer Bewusstheit seiner Grenzen, aber auch in klarer Bewusstheit seiner Chancen.
  Die größte Lebenschance: Ein Leben in seinem Licht.
  Ein Leben in seinem Licht, das niemals zu unserem Besitz und Eigentum wird.
  Auch wenn wir Licht der Welt sind: Wir sind es nur als solche, in denen sich das Licht Christi widerspiegelt.
  Über dieses Licht, das uns erleuchtet verfügen wir nicht wie über ein Werkzeug oder sonst etwas, das uns zuhanden wäre.
  Wir haben Christus nicht im Griff.
  Er bleibt der souveräne Herr.
  Er zeigt sich uns, wenn er sich zeigen will.
  Und wenn er sich uns verbergen will, so tut er’s.
  Darum:
  „Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet.“