"In das Gebet Jesu eingeschlossen und von ihm Jesu getragen" - Predigt über Johannes 17, 1-8 von Mira Stare
17,1

"In das Gebet Jesu eingeschlossen und von ihm Jesu getragen" - Predigt über Johannes 17, 1-8 von Mira Stare

In das Gebet Jesu eingeschlossen und von ihm Jesu getragen
  
  Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
  
  wir beginnen heute die Karwoche bzw. die stille Woche und gedenken des Einzugs Jesu in Jerusalem. Er reitet auf einem jungen Esel in die Stadt hinein. Die Volksmenge empfängt ihn mit Palmzweigen und begrüßt ihn mit Jubelruf:
           „Hosanna!
           Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“
           (Joh 12,13). 
  Diese Begeisterung für Jesus seitens der Menschen wird jedoch nicht lange Zeit dauern. Umgekehrt, nach einigen Tagen wird er verhaftet, verhört und in den Tod ausgeliefert. Sein Volk und vor allem dessen Autoritäten fordern den Tötungsbeschluss von Pilatus. Sie schreien: „Weg mit ihm, kreuzige ihn!“ (Joh 19,15).
  
  Unmittelbar vor seiner Gefangennahme und seiner Passion betet Jesus vor den Seinen. Den ersten Teil seines Gebetes haben wir im heutigen Evangelium gehört. Dieses Gebet ist das Vermächtnis Jesu für uns Menschen.
  Er beginnt sein Gebet, indem er sich an Gott wendet mit der Anrede „Vater“. Er stellt fest, dass die Stunde seiner Verherrlichung gekommen ist und bittet den Vater:
           „Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht.“ (Joh 17,1)
  Die gegenseitige Verherrlichung wird hier zur Sprache gebracht. Der Vater wird den Sohn verherrlichen und der Sohn den Vater. Die Vater-Sohn-Beziehung und ihre Verherrlichung werden anschließend auf die ganze Menschheit ausgeweitet.
           „Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben,
           damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt.“
           (Joh 17,2)
  Die Verherrlichung zeigt sich darin, dass Jesus vom Vater die Vollmacht hat, das ewige Leben den Menschen zu schenken. Auf dieses Ziel ist das Kommen Jesu zu den Menschen insgesamt gerichtet. So sagt Jesus in der Mitte des Johannesevangeliums:
           „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10)
  Das ewige Leben definiert er in seinem Gebet folgendermaßen:
           „Das ist das ewige Leben:
           dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen
           und Jesus Christus, den du gesandt hast.“ (Joh 17,3)
  Demzufolge besteht das ewige Leben in der Gottes- und Christuserkenntnis. Im biblischen Sinn bedeutet diese Erkenntnis nicht nur das Wissen um Gott und Jesus, sondern vor allem das Vertrauen, die personale Beziehung und die Gemeinschaft mit Gott und Jesus. Das ewige Leben verwirklicht sich in Beziehung zu Gott und Jesus Christus.
  
  Jesus macht in dieser Stunde den Rückblick auf seine Sendung. Er sieht das Werk, das ihm der Vater anvertraut hat, vollendet. Denn er hat den Menschen den Namen Gottes – seines Vaters – bekannt gemacht. Der Name steht für die Identität und das innerste Wesen einer Person. Dasselbe gilt auch für Gott. Wer den Namen Gottes kennt, hat auch den Zugang zu ihm offen. Diesen Zugang hat in besonderer Weise Jesus. Er hat durch sein Leben – in Wort und Tat – das Wesen Gottes den Menschen geoffenbart. So stellt er fest:
           „Niemand hat den Vater gesehen außer dem, der von Gott ist;
  nur er hat den Vater gesehen.“ (Joh 6,46)
           „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ (Joh 14,9)
  In der Art des Lebens Jesu, in seiner Botschaft und durch seine Taten, kann man erkennen, wie Gott selber ist. Die Wundertaten Jesu werden im Johannesevangelium „Zeichen“ genannt. Denn auch durch sie offenbart Jesus, wie Gott selber zu Menschen ist.  Gott begegnet ihnen in Liebe und schenkt ihnen das Leben durch seinen Sohn.
  Auch die Worte, die Jesus von Gott, seinem Vater, empfängt, gibt er den Menschen weiter. Sie haben seine Worte aufgenommen und sind sie zur Erkenntnis und zum Glauben gekommen, dass Jesus von Gott herkommt und von ihm gesandt ist.
  Es ist auffällig, wie Jesus in dieser Stunde im Gebet Gott, seinen Vater, mit den Menschen vernetzt. Er beginnt nicht sich mit seinen Feinden auseinanderzusetzten. Er bittet auch nicht wie in Getsemani:
  „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber.“
  (Mt 26,39)
  Er bittet um die Verherrlichung in dieser Stunde, damit die Menschen zum Leben mit ihm und dem Vater kommen.
  
  Bereits aus dem ersten Teil des Gebetes Jesu können wir die Aktualität und bleibende Bedeutung dieses Textes auch für uns erkennen.
  „Vater!“ – Gott als den Vater rufend und nennend beginnt Jesus sein Gebet. Bevor er Gott „den einzigen wahren Gott“ nennt, redet er ihn voll Vertrauen als „Vater“ an. Sich selbst versteht er als „seinen Sohn“. Auch wir sind eingeladen, uns an Gott als „Vater“ voll Vertrauen zu wenden und dies in allen Situationen unseres Lebens.
  Jesu Vollmacht über alle Menschen betrifft auch uns. In dieser Vollmacht eröffnet er den Menschen den Zugang zum ewigen Leben, das in der Beziehung zu ihm und Gott, seinem Vater, besteht. Wenn Jesus von allen Menschen in seinem Gebet spricht, dann sind auch wir in sein Gebet eingeschlossen. Er schenkt auch jeder und jedem von uns das ewige Leben. Er öffnet uns die Beziehung zu ihm und zum Vater. Wir können ihm und dem Vater persönlich begegnen und in dieser Gemeinschaft bleiben und leben. So können wir bereits jetzt Jesus und Gott, seinen und unseren Vater, erkennen und damit den Anteil am ewigen Leben haben. 
  
  Liebe Glaubende, dankbar können wir zu Jesus Christus stehen, der uns die Gabe des ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit ihm und Gott, seinem Vater, schenkt. Dankbar können wir Jesus heute mit dem Hosanna-Ruf gemeinsam mit der Volksmenge bei seinem Einzug in Jerusalem empfangen. Jedoch anders als die Volksmenge damals sind wir heute eingeladen, bei Jesus, der uns das Leben und die Gemeinschaft schenkt, alle Tage unseres Lebens zu bleiben und ihn jeden Tag neu zu loben und anzurufen:
  „Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn…“