"Der gerechte Richter" - Predigt zu Johannes 8, 3-11 von Eberhard Busch
8,3

"Der gerechte Richter" - Predigt zu Johannes 8, 3-11 von Eberhard Busch

Der gerechte Richter
Zum Verständnis dieser Geschichte ist es erhellend, zuerst auf eine andere biblische Geschichte zu achten. Auf dem Höhepunkt seiner Verhaftung im Garten Gethsemane, bevor er ans Kreuz kam, hat Jesus einen Satz gesprochen, in dem er das Geheimnis des Karfreitags nennt. Er sagt da: „Siehe, die Stunde ist da: der Menschensohn (Jesus Christus) wird nun in Sünderhände ausgeliefert.“ Das redet vom Schrecklichen dieses Tages: dass er, der Heilige, jetzt der Willkür und Bosheit der Menschen preisgegeben wird. Denn an ihm werden sie jetzt ihr abgründige Verkehrtheit aufdecken. Aber derselbe Satz spricht zugleich von dem wunderbar Heilsamen dieses Tages: dass er, der Hohe, nicht zurückschreckt vor der dunkelsten Bosheit der Menschen. Ihr will er sich aussetzen. Er will trotzdem bei ihnen sein und sich für sie hingeben. Er tut es nicht, um ihre Bosheit gutzuheißen, aber um sie zu überwinden.
„Der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert.“ Angesichts dessen können wir uns nur schämen über das Böse, das in so vielen Menschen verborgen ist, und wohl auch in uns, und das zuweilen garstig nach außen ausbricht. Wenn wir einmal dessen gewahr werden, da können wir nur erschrocken an die Brust schlagen, nicht zuerst an die anderer, sondern zuerst an die eigene. Da beginnen wir zu beten zu dem Hohen, der sich nicht zurückzieht vor uns Bösen – mit dem Lied Paul Gerhardts zu reden: „Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat, gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.“ Wir dürfen uns darauf  verlassen, dass er solches Gebet erhört und uns gibt, was wir nicht verdient haben: „den Anblick seiner Gnad“.
In der Geschichte, auf die wir in dieser Predigt besonders hören, geht es freilich umgekehrt zu. Da ist vielmehr ein Sünder ausgeliefert in die Hände von guten Menschen. Denn dass es sich in jener Frau um eine Sünderin handelt, das leidet keinen Zweifel. Sie ist „auf frischer Tat“ ertappt, wie es heißt. Und wie wird es jetzt dieser Sünderin in der Hand jener guten Menschen ergehen? Dass sie gute Menschen sind, davon sind wenigstens sie selbst überzeugt. Sie haben sich selbst nichts vorzuwerfen. Sie werden wohl sagen: „Sicher, wir sind auch nicht gerade Engel, aber wer ist das schon? Damit fallen wir doch nicht auf. Wir bemühen uns immerhin, anständig zu sein, und wissen, was sich gehört.“ Kurz, diese Leute sind von der Art, wie wir sie kennen: Es kommt nicht darauf an, jeden Sonntag in die Kirche zu rennen. Hauptsache, ich tue recht. Nicht wahr, man stolpert bei uns förmlich über lauter gute Menschen. 
Wie wird es nun der Ehebrecherin, dieser bei einem offensichtlichen Fehler erwischten Person ergehen in der Hand dieser guten Menschen? Insgeheim haben sie wahrscheinlich stille Lust am Treiben dieser Anderen, die Männer mehr als die Frauen. Aber nach außen legen sie die Stirn in Falten und zeigen mit dem Finger auf sie. Die Entrüstung über solche Gestalten ist das tägliche Brot solcher guten Menschen. Sie brauchen solche Negativfiguren, um sich vorteilhaft davon abzuheben. Und so reden diese Guten gern von Buße. Aber immer ist Buße hier etwas, was sie von Anderen erwarten. Ach, nicht genug, dass wir uns über sie entrüsten. Sie müssen verschwinden aus der Mitte dieser guten Menschen, auf Nimmerwiedersehn. So geht es den offensichtlichen Sündern, wenn sie solchen guten Menschen ausgeliefert sind.
Doch bevor es in unserer Geschichte dazu kommt, passiert etwas Sonderbares: Diese guten Menschen nehmen die Sünderin, die ihren Händen ausgeliefert ist, und liefern sie den Händen Jesu aus. Eigentlich machen sie damit das einzig Wahre. Wenn man so einen Menschen gefunden hat, der ein Mühseliger und Beladener ist, mit dem kann man gar nichts Besseres tun, als ihn dem Heiland Jesus anbefehlen und ihn sozusagen vor seine Füße legen. Nur, diese feinen Leute tun das nicht aus lauteren Motiven. Tatsächlich lassen sie die Sünderin gar nicht los und überlassen sie nicht Jesus und seinem Urteil. Im Gegenteil, diese guten Menschen erwarten von Jesus nur, dass er ihr Urteil bestätige, das Urteil, das sie längst über diese Frau gefällt haben. Sie erwarten, dass er ihnen recht gebe zu ihrem Urteil über diese Missetäterin, und erwarten, dass er damit auch der guten Meinung zustimme, die sie von sich selber haben.
So gibt es ja noch manche, die vielleicht noch kräftig reden von Gott und seinem Sohn. Aber was sie von ihm erwarten, ist nur, dass er ihnen recht gebe und dass er sich vor ihren Karren spannen lässt. Was sie von ihm erwarten, ist, dass er seinen Segen gebe zu dem, was sie ohne ihn beschlossen haben. Wozu sie ihn haben wollen, ist, dass er Ja sage zu dem Maßstab in ihrer Hand und zu den damit erzielten Messergebnissen: zu ihrem guten Urteil über sich selbst und zu dem vernichtenden Urteil über den und den. Und wehe, wenn Jesus nicht spurt und nicht so tut, wie wir es von ihm wünschen. Da geht es leicht, wie es zuletzt in Kapitel 8 des Johannesevangeliums heißt: „Da hoben sie Steine auf, dass sie auf ihn würfen.“ Dieselben Steine, die für jene Sünderin gedacht waren, zielen auf einmal auf ihn. Dieselbe Entrüstung, in der sich die Leute gegen diese Frauenperson gewandt haben, trifft jetzt ihn.
Aber Jesus durchkreuzt die Unternehmung dieser guten Leute. Er schweigt sie einfach an. Er hat ihnen nichts zu sagen. Schon damit zeigt er, dass er nicht bloß die Urteile festschreibt, die sie, diese Herrn und Damen Richter, zuvor schon gefällt haben. Doch dann, so heißt es, richtet er sich auf, so dass sie ihn für einmal in seiner wahren Größe sehen. Und er unterbricht sein Schweigen mit dem einen Satz: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Damit sehen wir Jesus in seiner wahren Größe. Denn damit sagt er vor allem: „Ich bin der wahre Richter der Menschen und der Richter über ihre Sünde, und also ihr seid es nicht.“ Diese Frau ist bei diesen scheinbar guten Menschen in den falschen Händen. Sie ist bei ihm in den rechten Händen. Es ist nämlich so, wie es der Apostel Paulus schreibt (2. Kor, 5,10): „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“
Er ist der eine und letzte Richter. Darum sind all die Urteile, die wir über die Verdorbenheit der anderen fällen, buchstäblich Vor-Urteile. Wenn der eine, wahre Richter sein Urteil fällt, so bestätigt das nicht unser Vorurteil, sondern wirft es über den Haufen. „Wer unter euch ohne Sünde ist...“, sagt er. Kurz zuvor hätten alle noch den Finger aufgestreckt: „Ja, ich bin ohne Sünde.“ Aber nachdem der höchste Richter gesprochen hat, bleibt ihnen das im Halse stecken und jeder muss nun einsehen: Ich sitze in Wahrheit mit der Sünderin im selben Boot, und wer weiß, bin ich mitschuldig an dem, was sie angerichtet hat. Es tut ohnehin kaum einer je einen schweren Fehltritt, ohne dass zuvor andere an ihm schuldig geworden sind, selbst wenn es bei ihnen viel verborgener geschehen ist. Sie würden über den Anderen nicht so hart urteilen, wenn sie nicht selber hart wären.
Vor der Instanz des letzten Richters kann ich doch keines der zehn Gebote aussprechen, ohne dass es mir vergeht, den Richter zu spielen, der seine Mitmenschen anklagt, keines, ohne dass ich merke: ich bin selber Angeklagter. Jetzt dreht sich auf einmal mein Finger, der so gern auf andere zeigt, um 180 Grad und zeigt auf die eigene Brust:  „Ich selber bin ein Götzendiener und ich einer, der anderen die Luft nimmt.“ Das ist nun die wahre Buße, die immer wieder bei einem selber anfängt und bei der man zuerst vor der eigenen Türe wischt. Und es geht in ihr nicht bloß um private Sünden. Denn ich bin ja auch selber mitbeteiligt an der katastrophalen Umweltverschmutzung, die kommenden Generationen den Lebensraum nimmt, und bin mit dabei bei der Ausplünderung der Armen und Benachteiligten zugunsten unseres Wohlstandes.
Nachdem in unserer Geschichte alle weggeschlichen sind, beschämt, dass sie abgesetzt sind als Richter ihres Mitmenschen, dass sie vielmehr selbst Angeklagte sind, da steht zuletzt diese offensichtliche Sünderin allein vor Jesus. Jetzt ist sie seiner Richterhand ausgeliefert, und es ist wahr, was Johannes Calvin gebetet hat: „Mit deinem Urteil, o Herr, stehen und fallen wir.“ Was wird er jetzt mit ihr tun? Das ist doch klar. Er hat es ja eben erklärt: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ – und er ist ohne Sünde, bildet sich nicht nur ein, er sei ein Guter. Er ist es. Wird er jetzt nach einem Stein greifen? Aber nein, er tut es nicht. Dieser höchste Richter ist vielmehr des Menschen Retter, schützt ihn vor dem, was er doch verdient hat, und spricht: „Ich verurteile dich nicht.“ Und also, selbst wenn sonst viele ihn verurteilen, obwohl sie kein Recht dazu haben, er, der einzig das Recht dazu hat, er tut es nicht. Sein Urteil lautet auf Freispruch.
Das tut er nicht, weil er die Sünde verharmlost; sondern er vergibt sie – das ist etwas anderes. Er nimmt sie nicht auf die leichte Schulter; das tun wir wohl gern. Er aber nimmt sie auf seine Schulter und trägt schwer daran. Wenn die Leute zuletzt mit denselben Steinen, mit der sie jene Frau töten wollten, nach ihm werfen (V. 59), so zeigt das: er erleidet das Todesurteil, das der Sündermensch verdient hat. Damit geschieht das, was wir zu Anfang hörten: Damit ist er in Sünderhände ausgeliefert, in die Hände von diesen guten Menschen, die aber ihm gegenüber zeigen, wie böse das Dichten und Trachten des Herzens auch solcher scheinbar guten Menschen ist ( Gen. 6,5). Und er lässt sich das gefallen. Er tut das, damit wir durch ihn freigesprochen würden – so, wie er es zu jener Sünderin sagt: „Dich verurteile ich nicht“. Damit ist er der eine Gute und ist doch ganz anders als diese guten Menschen, die die Frau verurteilen wollten. Er entrüstet sich nicht über diese Sünderin und alle weiteren Sünder. Er erbarmt sich ihrer. Er stößt sie nicht in den Abgrund. Er stellt sie auf ihre Beine und an einen neuen Anfang..
So hat er es an jener unguten Frau getan: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Wie soll das gehen? Nicht nur ein bisschen, sondern gar nicht mehr sündigen! Haben wir es nicht aus dieser Geschichte gelernt, dass wir alle Sünder sind? Ja gewiss. Aber er spricht uns davon frei, so dass die Sünde nicht mehr unser Meister ist. Er ist fortan der Meister. Und er vermag zu sagen: „sündige hinfort nicht mehr“. Aber werden wir dadurch nun etwa wie jene Menschen, die sich selbst für gut halten und dafür andere schlecht machen? Keineswegs. Hinfort nicht mehr sündigen, das heißt nicht: sich selbst für gut halten, sondern heißt: sich an den einen Guten halten, an seine Vergebung und seinen Freispruch, an seine Liebe und an seine heilsame Ordnung. Jene angeblich Guten meinen das nicht zu brauchen. Wer nach Jesu Wort nicht mehr sündigt, braucht das aber unentwegt und kann nicht mehr leben außer in der Dankbarkeit dafür. Er muss nun auch Andere nicht mehr schlecht machen. Er kann sie nicht mehr anders als in der Hoffnung sehen, dass dieselbe Gnade, die ihn freispricht, auch sie nicht verurteilen muss. Er zeigt darum nicht mehr mit Fingern auf sie, sondern streckt seine Hand aus nach ihnen und lässt sie auch dann ausgestreckt, wenn sie vorderhand zurückgewiesen wird. Er entrüstet sich nicht über sie, sondern sucht sie zu entschuldigen, Gutes von ihnen zu reden und alles zum Besten zu kehren, wie es Martin Luther gesagt hat. So geht auch ihr hin und sündigt künftig nicht mehr.
Perikope
Datum 23.06.2013
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 8,3
Wochenlied: 428 495
Wochenspruch: Gal 6,2