"Der Glaube hat seine handwerkliche Seite" - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Eberhard Schwarz
16,23

"Der Glaube hat seine handwerkliche Seite" - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Eberhard Schwarz

Der Glaube hat seine handwerkliche Seite
  
  NB: Zwischen den Predigtteilen schlage ich vor, das Lied EG 589 (Regionalteil Württ.) „Meine engen Grenzen“ in zwei Teilen zu singen.
  
  Apostelgeschichte 16,23-34
  
  23 Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen.
  24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.
  25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.
  26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab.
  27 Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.
  28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!
  29 Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.
  30 Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?
  31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!
  32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.
  33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen
  34 und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.
  
  Liebe Gemeinde,
  
  ein Handwerk, so heißt es, sei eine durch Gewohnheit erlangte Geschicklichkeit: kein Handwerk ohne Übung, ohne Lehrzeit, ohne Erfahrung. Das gilt nicht nur für Bäcker und Maler, für Mechaniker und Installateure, für Maschinenbauer oder Webdesigner. Es gilt für alle Berufe – auch für die der Kopf- und Mundwerker. Überall braucht es Übung und Erfahrung.
  
  Heute hören wir eine Geschichte aus dem Schatzkästlein der frühen Christenheit, die uns erzählt, dass sogar der Glaube seine handwerkliche Seite hat. Ein Handwerk, bei dem man durch Gewohnheit nicht nur Geschicklichkeit, sondern sogar Türen in die Freiheit finden kann. 
  
  Die Geschichte – sie spielt in Griechenland, genauer: in Philippi. Das ist die erste Stadt Europas, in die Paulus gemeinsam mit seinem Gefährten Silas das Evangelium bringt. Mühsam ist aller Anfang. Da gibt es eine Sklavin mit hellseherischen Fähigkeiten, die durch diese Begabung ihrem Herrn einen schönen Nebenverdienst einbringt. Ungeschickterweise läuft sie dem Apostel in die Arme und dann hinterher. Und der ist es schließlich, der sie von diesen Gesichten ganz und gar kuriert. Nicht nur die Kundschaft der Hellseherin ist darüber empört – allem voran ist es der geschädigte Besitzer. Er bringt den Apostel vor Gericht und lässt ihn ins Gefängnis werfen.
  
  Da sitzt er nun mit Silas, seinem Mitarbeiter. In Dunkelheit und Ketten, mit blutig geschlagenem Rücken und mit den dazugehörenden Schmerzen. Nicht genug, dass es Nacht und Finster ist. Weil den Philippern diese seltsamen Reisenden nicht geheuer sind, beauftragt man den Kerkermeister, sie gleich in das unterste Verließ zu werfen und in den Block zu legen. Sicher ist wie immer: sicher.
  
  Dann kommt die Nacht. Eine dieser elenden Gefängnisnächte. Das Fluchen, Jammern, Rufen, das Sich-Empören der anderen Gefangenen – zuerst übertönt es alles; dann wird es leise und leiser. In manchen Zellen hört man nach und nach den Atem der Schlafenden. Auch dem Kerkermeister sind längst die Augenlider schwer geworden, als etwas Ungewohntes und doch ganz Selbstverständliches geschieht: da heben sich um Mitternacht aus dem Hochsicherheitstrakt leise Gebete und Gesänge in den Himmel.
  
  Vielleicht haben Silas und Paulus in ihrer jüdischen Tradition das Maariv, das Nachtgebet, gesprochen und gesungen: Psalmen und Lesungen aus der Bibel, die jeder Fromme kennt. Geistliches Handwerk. Und jeder Fromme weiß zugleich, dass es bis Mitternacht gebetet sein muss. Beten kann man auch in Ketten:
  
  Unsere Grenzen – vor dir, Gott.
  Wandle sie in Weite.
  Unsere  Ohnmacht - vor dir, Gott.
  Wandle sie in Stärke.
  Unsere Angst - vor dir, Gott.
  Wandle sie in Wärme.
  Unsere Verlorenheit – vor dir, Gott.
  Wandle sie in Heimat.
  
  EG 589,1-4 Meine engen Grenzen
  
  Ein Handwerk ist eine durch Gewohnheit erlangte Geschicklichkeit. Singen kann man lernen. Beten kann man lernen. Der Glaube hat seine handwerkliche Seite. Was die Gefangenen und schließlich auch den Gefängnisaufseher in Philippi in dieser Nacht aufweckt, das ist kein Wut- und Wehgeschrei, kein Klage- und Jammerlied. Das ist die Abendliturgie. Paulus und Silas, zwei Reisende in Ketten, die ihr geistliches Handwerk ausüben mitten in Unfreiheit und Not.
  
  In diesem Gestus des Sich-zur-Nacht-Bereitens erscheint ein winziges Stück befriedetes Leben zwischen Nacht und Morgen. Die anderen schlafen; ihr Handwerk ist getan. Für Paulus und für Silas beginnt nun eine andere Arbeit.
  
  Dinge, die wertvoll sind, sind nie ganz einfach, hat Fulbert Steffensky in einem Gespräch gesagt. Solche Dinge seien auch nicht sofort und billig zu haben.  Man müsse etwas dafür tun. Das gelte auch für den Reichtum geistlichen Lebens. Spiritualität – das sei vor allem Handwerk und nicht Genialität. Und ein Handwerk brauche ein paar Regeln: Regelmäßigkeit, Wiederholung, Treue zur Sache. Die Christen haben es von den jüdischen Frommen übernommen. Unsere Vorfahren haben es uns vorgemacht: Morgens wurde ein Gebet gesprochen, die Mahlzeit wurde gesegnet mit einem Gebet, der Abend mit dem Segen abgeschlossen  ... Das sind poetische Gesten, die man nicht als ein Muss ansehen sollte, sondern vor allem in ihrer Schönheit. Sie besitzen – wie jeder poetische Gestus die Fähigkeit, über sich hinauszuweisen.
  
  Ida Wells-Barnett lebte von 1862-1931. Sie war eine der mutigen schwarzen Frauen, die zeitlebens gegen die Lynchjustiz des Ku-Klux-Klan kämpfte. Einmal, als in Elaine, Arkansas, zwölf Männer wegen falscher Beschuldi­gungen ins Gefängnis geworfen werden, geht sie in den Gottesdienst und sieht dort ein armes Häuflein klagender Frauen und Männer. Sie setzt sich und hört einfach zu. Dann, nach einer Weile, steht sie auf und ergreift das Wort:
  
  „Ich habe euch jetzt seit fast zwei Stunden zugehört. Ihr habt über ... die Vergebung eurer Feinde und über die Gewissheit, dass man euch im neuen Jerusalem willkommen heißen wird, geredet, gesungen und gebetet. ... Aber warum betet ihr nicht dafür zu leben und fordert, freigelassen zu werden? ...
   ... Hört auf, über das Sterben zu reden; wenn ihr glaubt, dass euer Gott allmächtig ist, glaubt daran, dass er mächtig genug ist, diese Gefängnistüren zu öffnen, und sagt's auch“. Und sagt’s auch!
  
  In dem Abendgebet im Gefängnis von Philippi ist es gesagt. Dieser leise Gesang in Lob und Fürbitte, dieses Hinausgreifen in die Weite des Himmels – trotz gefesselter Hände, trotz geschundener Glieder – das löst in dieser Nacht ein Erdbeben aus.
  
  Jede Hinwendung zu Gott ist ein Schritt zur Überwindung von Angst und eine Bekräftigung von Vertrauen. Jede Hinwendung zu Gott ist ein Blick hinaus über den eigenen Horizont. Jede Hinwendung zu Gott ist schon in sich eine Inkarnation von Mut. ‚Muot’ in seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet den Sinn, den Geist, das Innere Wesen eines Menschen. Menschen fassen sich ein Herz. Jedes so gesungene Lied ist eine Gestaltwerdung von Hoffnung und von Veränderung.
  
  Liebe Gemeinde,
  Erdbeben in der Bibel sind immer beides: Naturereignisse und Seelenerschütterungen. Das Matthäusevangelium erzählt, wie am Karfreitag die Erde erbebt und wie sich Gräber auftun. Hier, in der Apostelgeschichte springen die Kerkertüren auf – und Menschen atmen den süßen Duft der Freiheit. Mehr noch: Hier wird vor allem ein Menschenleben grundlegend verändert. Die eigentliche Hauptperson dieser kleinen Erzählung, das sind nicht Paulus und nicht Silas, das ist nicht der Besitzer der befreiten Sklavin, es sind nicht die Ratsherren von Philippi, die jämmerlich geurteilt haben; es sind auch nicht die Mächtigen der Welt, die bis heute in die Gedanken und Köpfe ihrer Untertanen hineinsehen wollen, und die sehr wohl wissen, welche gefährlichen Erschütterungen ein einziges Lied, ein einziges Gedicht, ein einziges Theaterstück auslösen kann. Wenn Gefangene singen und beten statt zu klagen und zu jammern, dann ist das stets gefährlich.
  
  Die Hauptperson in dieser Geschichte, das ist der Kerkermeister, der treu und brav sein mehr oder wenige gutes Handwerk ausübt. Er wird hier ganz als Mensch gezeigt. Er weiß, was auf dem Spiel steht, wenn die Gefangenen Lieder haben. Er weiß, dass er damit selber zwischen Macht und Macht steht. Und vor der Frage, welchem Herren er gehorsam ist.
  
  EG 589,3-4 Meine engen Grenzen
  
  Liebe Gemeinde,
  der Kerkermeister steht dort, wo Menschen von Zeit zu Zeit ankommen und sich wieder finden müssen. Er ist am Ende. Er will sich aus Verzweiflung sogar das Leben nehmen. Er ruft nach Licht.
  
  Und dieses Licht bekommt er. Als die Fackeln brennen sieht er, dass die Gefangenen noch sind, wo sie waren. Aber er sieht zugleich, dass sich irgendwie die Vorzeichen verändert haben. Paulus und Silas – und wohl auch die anderen - sie sind zwar noch dort, wo sie waren; aber nicht mehr als Gefangene, sie sind es als freie Menschen. Das hat sich verändert durch dieses nächtliche Gebet.  Sie sind frei.
  
  Das eigentliche Erdbeben, das eigentliche Wunder, es geschieht in diesem Kerkermeister: Er spürt: Es ist Gottes Stunde. Er sucht zu begreifen. „Was soll ich tun?“ So fragt er wie ein Kind. Und Paulus sagt: Glaube. Und Glaube hat hier tatsächlich etwas sehr Handwerkliches: Der Kerkermeister wäscht Wunden, pflegt Verletzungen, wirkt helfend und heilend und holt die beiden Gefangenen zu sich in sein Haus und an den Tisch.
  Frömmigkeit sei auch ein Handwerk, so habe ich gesagt. Der Kerkermeister lernt es – und er wird darin selber frei, indem er Gesten, Worte und Sätze lernt, die sein Leben neu ausrichten.
  Darin liegt eine Pointe dieser schönen, erbaulichen Geschichte aus der frühen Christenheit. Die Kirche das sei der Ort der in dieser Welt verfemten Begriffe und der ausgestoßenen Wörter (Steffensky): Gerechtigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Trost, Schutz des verfolgten Lebens, Sturz der Tyrannen, das sind die Worte und Gesten und Zeichen, die dort gepflegt und eingeübt werden. Auch in Liedern und Gebeten. Handwerklich eben. Heute, am Sonntag Kantate, üben wir in einer besonders schönen und klangvollen Weise.
  Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.