Der Gute Hirte - Predigt zu Johannes 10,11-16 von Matthias Wolfes
10,11-16

Der Gute Hirte - Predigt zu Johannes 10,11-16 von Matthias Wolfes

Der Gute Hirte.

„Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden.“

[Jubiläumsbibel 1912]

Liebe Gemeinde,

man macht sich nicht immer bewußt, dass auch solche Stücke unserer Glaubenswelt auf Vorbehalte stoßen, von denen man im allgemeinen denkt, sie gehörten zum unverzichtbaren Grundbestand. So gibt es zum Beispiel etliche Gläubige, die mehr oder weniger starke Bedenken tragen, das Vaterunser zu beten. Selten werden solche Bedenken im Gemeinderaum ausgesprochen, aber sie sind dennoch da; sie sind oftmals sogar Ausdruck einer besonders tief bewegten religiösen Seele. Niemand sollte der Versuchung nachgeben, hierüber ein absprechendes Urteil zu fällen.

Ein weiteres Motiv, mit dem Manche nicht gut klar kommen, ist die Vorstellung, im Zusammenhang mit Gott ließe sich in irgendeiner Weise von „Person“ sprechen. Für sie ist Gott gerade im Gegenteil diejenige Instanz, die alle personale Beschränktheit (oder auch Identität) überschreitet.

Zu den ganz grundlegenden, aber doch eben nicht ohne jede Einschränkung akzeptierten Glaubenbildern gehört nun auch das vom Guten Hirten. Mit ihm wollen wir uns in den kommenden Minuten etwas beschäftigen.

I. Der gute Hirte

Der gute Hirte – dem Johannesevangelium zufolge übernimmt Jesus also eine Bezeichnung, die wir in der alttestamentlichen Überlieferung vielfach im Blick auf Gott finden.

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (Psalm 23, 1).   

Es ist nicht unsere Aufgabe, dem Bild hier auch nur in groben Zügen nachzugehen, nicht einmal im Blick auf die unterschiedlichen Verwendungsweisen und Bedeutungen im Neuen Testament. Uns interessiert die Sache selbst: Jesus als der gute Hirte.

Was aber kann nun speziell an diesem Bild stören? Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist zum einen der Umstand, dass hier einer für sich in Anspruch nimmt, den Anderen Weg und Richtung weisen zu können. Und es ist zum anderen das komplementäre Moment, dass diese Gewiesenen offensichtlich so vorgestellt werden, dass sie aus eigener Einsicht ihr Leben zu gestalten nicht für fähig gehalten werden. Die Figur des guten Hirten setzt, man wird es so sagen müssen, ein zutiefst antiaufklärerisches Menschenbild voraus.

Wir versagen es uns auch an dieser Stelle, weiter zu gehen, aber dass das polare Modell von Lenker und Gelenktem, von Einsichtigem und Einsichtslosen, vom souveränen Inhaber der Gesamtübersicht einerseits und orientierungsbedürftigem Blickfeldbeschränkten andererseits, – dass dieses Modell einen inneren Widerstand wachruft, das kann nicht verwundern. Man möchte kein „Schaf“ sein.

Und dennoch: Das Bild zählt zu den wichtigsten und auch bekanntesten unserer Glaubensüberlieferung. Viel stärker als die innere Gegenstimmung ist in der Welt der Christenheit die vertrauensvolle Anerkennung von Jesu Hirtenschaft verbreitet. Jesus ist der Gesandte Gottes, weil er Hirte der Glaubenden ist. Als „Hirte“ und nicht bloß als Glaubensbruder ist er der Sohn Gottes, der Herr, Heiland und Erlöser. Glaube bedeutet für viele Christen genau dies: Sich dem Hirten Jesus in letztem Vertrauen, das heißt, einem Vertrauen aus dem Grunde der Seele heraus anzuschließen, sich ihm also in letzter Hinsicht sogar preiszugeben.

Es ist klar, dass es einen solchen Hirten nur in der Einzahl geben kann. Wenn Jesus sich selbst als „guten Hirten“ bezeichnet, dann handelt es sich dabei um den guten Hirten.

II. Der gute Hirte

Liebe Zuhörer, wenn Sie meine Ausführungen gehört und durch eigene Gedanken ergänzt haben, so wird Ihnen die Offenheit unseres Themas bereits deutlich vor Augen stehen. Was mich betrifft, so knüpfe ich an diese Überlegungen auch keinerlei systematischen Anspruch. Es geht mir allein darum, an diesem Sonntag unser christliches Nachdenken auf Bild und Wort vom „Guten Hirten“ zu richten. Viel zu vieles strömt einem zu, Fragen stellen sich, und es geschieht das, was in unseren Gottesdiensten auch geschehen soll, dass nämlich der Glaube in Bewegung gerät, indem er sich selbst betrachtet.

Was sollen wir etwa sagen zu dem Wort „gut“ in der Wendung vom „Guten Hirten“? Was macht einen Hirten zum guten Hirten? Wer ist es, der hiernach fragt, wer, der antwortet, und wie soll die Antwort eingelöst werden. Geht es speziell in der Rede Jesu wirklich um die Gutheit seiner Hirtenschaft oder geht es um den Anspruch, dass es sich dabei um eine gute Hirtenschaft handele? Mir scheint, das letztere, dass Jesus diesen Anspruch gegenüber den Gläubigen erhebt, ist mindestens ebenso bedeutsam wie die Art und Weise, in der dieser Anspruch eingelöst oder bewährt werden könnte.

Vergessen wir auch nicht, wenngleich uns dies nicht allzu sehr umzutreiben braucht, dass es sich mindestens im vorliegenden Falle um eine Konzeption handelt, die einem Gemeindeideal Ausdruck gibt, welches aus den Kreisen des Johannesevangeliums stammt, weniger aber aus der mehrere Jahrzehnte älteren Glaubenswelt der urchristlichen Gemeinden.

Ich will Ihnen, um aus der Not eine Tugend zu machen, sagen, worin für mich die Bedeutung des „gut“ liegt. Gut ist Jesus in seiner Hirtenschaft deshalb, weil sich in ihm für Herz und Seele des Christen der Weg zu Gott öffnet. Er ist die Gestalt, durch die der Begriff Gott für uns Farbe, Temperatur, Profil gewinnt, die das große metaphysische Prinzip zu einem Gegenüber werden lässt, zu einem Teil unserer Daseinswirklichkeit, ohne sie doch in diese Wirklichkeit zu bannen. Als „Hirte“ stellt Jesus diese Konkretheit Gottes nicht etwa dar, geschweige denn, dass er selbst sie wäre, sondern er steht für sie ein, er garantiert – wohlgemerkt: für Herz und Seele des Glaubenden – ihre Wahrheit. Um es von einer anderen Seite her zu sagen: Als guter Hirte steht Jesus nicht für einen gewissen christlichen Lebensstil, nicht für das Verhältnis von Religion und Alltagsgestaltung, nicht als Idealtyp gelungener christlicher Existenz. Sondern hier geht es um das Entscheidende: Um die Größe, um das Substantielle des Glaubens, um das Verhältnis zu Gott. Der gute Hirte ist es, an den und durch den die Glaubenden erkennen können, was es bedeutet, sein Zutrauen auf Gott zu setzen, sein Leben in seine Hand zu geben oder auch das Geschenk seiner Freiheit anzunehmen.

III. Der gute Hirte

Warum nun aber überhaupt die Idee des Hirten? Ist denn wirklich alles gläubige Leben ein Exodus? Bedarf es solcher Gestalten wie Moses oder Jesus wirklich, um seinen Weg mit Gott gehen zu können? Wenn doch das Vertrauen auf Gott im Kern nichts anderes als realisierte Freiheit ist, worin liegt dann die Bedeutung dieses Schemas?

Nun könnten wir auch an dieser Stelle weiträumigen Überlegungen Platz geben. Aber das wollen wir natürlich nicht tun. Es genügt meiner Ansicht nach, wenn wir uns klar vor Augen stellen, dass Religion ihrer Natur nach immer auch etwas mit Selbstpreisgabe zu tun hat. Als Vertrauen auf Gott geht sie nicht von der Idee der allumfassenden Gestaltungskraft des Menschen aus. Wer hingegen in dieser Idee das Credo seiner Existenz zu finden meint, wer sich selbst als den letztlich unbeschränkt wirkenden Gestalter seines eigenen Daseins betrachtet, der findet in der Welt der Religion kein Zuhause. In wessen Gemüt hingegen Gott dauerhaft wohnt, für den gilt dies deshalb, weil er sein Leben aus dem Grunde heraus bereits mit Gott und auf Gott hin führt. Der gläubige Mensch lebt sein Leben vom Grund des Glaubens her. Der Grund des Glaubens aber ist die Gewissheit Gottes.

Auch hier wähle ich, wie im vorigen Abschnitt, den Behelfsweg, indem ich Ihnen meine persönliche Auffassung zur Frage nach der Notwendigkeit des Hirten vorstelle, anstatt mich an die uneinlösbare Aufgabe zu machen, das An-und-Für-Sich dieser religiösen Vorstellung zu erörtern.

Wenn Jesus als Träger der guten Hirtenschaft bezeichnet wird, dann ist damit eben nicht blinde Gefolgschaft gemeint. Für eine Bereitschaft zu fanatischer Selbstunterwerfung ist im Christentum kein Platz. Der christliche Glaube ist ein Glaube vernünftiger Menschen. Wer glaubt, der geht seinen eigenen Weg mit Gott. Und der gute Hirte ist es, der ihm dabei beisteht, ihn ermutigt, ihn gewiss zu Zeiten auch trägt, der ihn schützt und der ihm jedenfalls die Gewissheit der Nähe Gottes gibt.

Es ist nicht paradox, sondern konsequent, wenn von hier aus Sinn und Gehalt der Rede vom guten Hirten sich auf die Besonderheit und eigene Würde des jeweils einzelnen Glaubensweges richten. Die Gemeinschaft der Gläubigen besteht nicht aus vielen Gleichförmigen, sondern sie umfasst die Vielfalt des Geistes in einer unüberschaubaren Buntheit und Vielsprachigkeit. Der gute Hirte gibt dieser Vielfalt nicht nur Raum, sondern auch Recht; er lässt sich auf keine autoritäre Einhegung ein; er ist unabhängig und frei von irgendwelchen „Richtlinien“ des Glaubens. Und deshalb weist sein Wirken auch seinerseits ins Offene. Es ist unabgeschlossen bis ans Ende der Zeit; es steht für die Vitalität des Glaubens. In diesem Sinne ist in der Gestalt des „guten Hirten“ die Zukunft des christlichen Glaubens selbst geborgen.

Amen.

Literatur:
Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft. Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko (Internationaler Merve-Diskurs. Band 252), Berlin 2003.

Klaus Wengst: Das Johannesevangelium. Teilband 1: Kapitel 1 bis 10 (Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage), Stuttgart 2004.