Der Schrei gegen die Angst - Predigt zu Johannes 16,23b-33 von Matthias Riemenschneider
16,23-33

Der Schrei gegen die Angst - Predigt zu Johannes 16,23b-33 von Matthias Riemenschneider

Der Schrei gegen die Angst

Predigttext: Joh 16, 23b -33 (nach Luther):

23bWahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben.
24Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei.
25Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Zeit, dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater.
26An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will;
27denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin.
28Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.
29Sprechen zu ihm seine Jünger: Siehe, nun redest du frei heraus und nicht mehr in Bildern.
30Nun wissen wir, dass du alle Dinge weißt und bedarfst dessen nicht, dass dich jemand fragt. Darum glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist.
31Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt ihr?
32Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.
33Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

I. Der Schrei der Angst

Liebe Gemeinde,

„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
‚In der Welt habt ihr Angst…‘ – „Der Schrei“ ist das wohl bekannteste Bild des norwegischen Malers Edvard Munch. Unter einem dunklen, unheilschwangeren Himmel – mit schweren unruhigen Strichen gemalt – sehen wir ein mumienhaftes Gesicht: ganz Schrei – ganz Angst. Ein großer  existentieller Angstschrei – auch in Vorahnung des kommenden Ersten Weltkrieges. Das Bild „Der Schrei“ zählt zu den Vorläufern der entstehenden Kunstgattung des Expressionismus.

Es ist wie Munch sagte, ein ‚abstraktes Selbstbildnis‘. Die Hände halten den Kopf, und sie verstärken so noch den lautlosen Schrei. Niemand hört ihn. Niemand nimmt die Angst wahr. Ein gutbürgerliches Paar schlendert ungerührt weiter, ein normaler Abendspaziergang auf einer Brücke. Die Masten der Schiffe im Fjord gleichen Kreuzen auf Gräbern.

Munchs Bilder lösten um die Jahrhundertwende bei einer Ausstellung in Berlin einen Skandal aus. Denn seine Gemälde entlarvten den Geist einer ganzen Epoche, sie entblößten, was hinter der militaristischen Fassade, jener Allianz von Thron und Altar, hinter Großmannssucht und Fortschrittsgläubigkeit steckte: die pure Angst, die mit diesem lautlosen Schrei offenbar wird.

Die wilhelminisch geprägte Gesellschaft zu Beginn des letzten Jahrhunderts ertrug es nicht, dass ihr in diesen Bildern ein Spiegel ihrer eigenen Zerrissenheit, der greifbaren Lebensangst vorgehalten wurde, die sich hinter der Großmachtpolitik und der riesigen militärischen Aufrüstung verbarg. Paul Tillich nannte das beginnende 20. Jahrhundert zu Recht das „Jahrhundert der Angst“.

II. Das Kriegsende vor 70 Jahren

Am Freitag jährte sich zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges. Diesen 8. Mai 1945 als einen Gedenktag der Befreiung zu deuten hat sich in unserem Land erst in den vergangenen Jahren durchgesetzt. Dies liegt sicher auch mit daran, dass nur noch wenige eine eigene Erinnerung an die letzten und besonders schrecklichen Monate und Wochen dieses Krieges haben. Wer die Angst in den Bombennächten, den unglaublichen Terror der SS-Rollkommandos gegen die eigene Bevölkerung und dann die Wirren der Nachkriegszeit erlebt hat – das Leben in den zerstörten Städten mit dem Hunger, den Entbehrungen und der Sorge, was die Zukunft bringen wird, für den war es sicher schwer, das Ende des Krieges als eine Befreiung wahrzunehmen. Eher werden diese Menschen sich in der Erinnerung an das Kriegsende in der Figur des Bildes von Edvard Munch wiederfinden: ein lautloser Angstschrei in einen dunkel unheilschwanger sich verfinsternden Himmel.

Mit dem großen zeitlichen Abstand, den wir heute haben, lässt sich dieses Datum leichter mit den Erfahrungen der Befreiung verbinden: alle Ereignisse in diesen schrecklichen Monaten des Jahres 1945 sind in der Folge eines sinnlos von Deutschland losgetretenen Krieges passiert, der unendliches Leid über viele Menschen brachte. Und so bedeutet auch für viele Menschen in Deutschland das Ende des Krieges eine Befreiung von einem Terrorregime, das letztlich auch der eigenen Bevölkerung das Lebensrecht absprach. Eine Befreiung, die es Deutschland und Europa ermöglichte, einen Neuanfang zu wagen, in dem das Leben jedes Einzelnen geschützt und seine Freiheit geachtet wird. Auch wenn der 8. Mai kein Feiertag mit großen Jubelfeiern ist, so ist er doch ein Datum der Befreiung, das wir dankbar in Erinnerung behalten sollten.

III. Sonntag Rogate:

33Dies alles habe ich euch gesagt“ – lässt der Evangelist Johannes Jesus sagen – „damit ihr in meinem Frieden geborgen seid. In der Welt wird man euch hart zusetzen, aber verliert nicht den Mut: Ich habe die Welt besiegt!“ (So die Gute Nachricht) Oder wie es in der vertrauten Übersetzung bei Martin Luther heißt: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Johannes lässt in diesen Worten den Auferstandenen Jesu reden, aber so, dass er Jesus in eine Gesprächssituation des Abschieds mit seinen Jüngern stellt, die noch vor Ostern spielt. So beleuchtet unser Predigttext eine doppelte Perspektive: Nach Ostern ist gleichzeitig vor Ostern.

Und dies ist doch auch unser Blick auf Ostern. Wir blicken zurück auf die große Befreiungstat Gottes an Ostern – und gleichzeitig warten wir noch auf die vollständige Erfüllung seiner Verheißungen.

Der heutige 5. Sonntag nach Ostern mit dem schönen Namen Rogate ist dem Gebet gewidmet. Der Wochenspruch aus Psalm 66, der das Leitmotiv für unseren Gottesdienst vorgibt, spricht von der Güte Gottes, die er nicht von dem Beter abwendet. Auch Jesus spricht in unserem Bibeltext nicht nur von der Angst, sondern von der Freude: „24Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei.“

In diesen Worten drückt sich eine Freude zum Leben aus, mit der wir beschenkt werden. Diese Lebensfreude ist auch eine Frucht des Gebetes. Die Angst, die ebenso ein Begleiter unseres Lebens ist, soll uns nicht den Blick auf Gottes Güte verstellen, der uns zu einem umfassenden Leben in dieser Welt ermutigt. In den Worten Jesu an seine Jünger ist eine Ermutigung enthalten, eine Ermutigung gegen die Angst und eine Hilfe zur Lebensfreude, eine Ermutigung zum Gebet.

In dieser Ermutigung steckt gleichzeitig auch eine Befähigung. Jesus fordert die Jünger auf, sich mit ihrem Gebet direkt an Gott zu wenden. Er selber will nicht als Mittler auftreten, der sich fürbittend zwischen Gott und seine Gemeinde stellt. Im Osterereignis hat die Gemeinde die Kraft von Gottes Liebe erkannt. Ein Band, das nun so fest ist, dass das Gebet unmittelbar werden darf. „23bAmen“ sagt Jesus, „ich versichere euch: Der Vater wird euch dann alles geben, worum ihr ihn bittet, weil ihr es in meinem Namen tut und euch auf mich beruft.“ (nach Gute Nachricht)

Eine eindrückliche Anweisung, wie wir beten können und dies mit dem abschließenden Amen bekräftigen können, stammt von Martin Luther. In seiner 1535 verfassten Schrift „Eine schlichte Weise zu beten, für einen guten Freund“ schreibt er: „Zuletzt bedenke, dass du das Amen jederzeit stark machen und nicht zweifeln sollst, dass Gott dir gewiss mit aller Gnade zuhört und Ja sagt zu deinem Gebet; und bedenke ja auch, dass du nicht alleine da kniest oder stehst, sondern die ganze Christenheit, alle frommen Christen bei dir und du unter ihnen in einmütigem, einträchtigen Gebet, welches Gott nicht verachten kann. Und lass nicht ab vom Gebet, bis du gesagt oder gedacht hast: Wohlan, dies Gebet ist bei Gott erhört, das weiß ich gewiss und fürwahr. Das heißt: Amen.“

IV. La vie en rose:

„In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Amen – sagt Jesus.
Diese Bestärkung gilt dem Trost, der Lebensfreude, die uns geschenkt ist in der Güte, die Gott nicht von uns abwendet. Die Sorgen und Ängste, die unser Leben auch begleiten, sind dadurch nicht beseitigt. Mit Gottes „Amen“ gelingt es uns vielleicht etwas besser, sie nicht übermächtig werden zu lassen, sondern ihnen einen realistischen Platz in unserem Alltag einzuräumen – in unserem Alltag, der umgriffen ist von Gottes Güte.

Manchmal begegnet uns die stärkende Kraft dieser Güte eher zufällig in unscheinbaren Situationen, die wir vordergründig gar nicht mit unserem Glauben in Verbindung bringen.
Ich erinnere gut einen Aufenthalt in Paris vor einigen Jahren. Zu jedem Aufenthalt in Paris gehört auch eine Besichtigung des Eifelturms. Von dort leiten traditionelle Reiseführer den Besucher über das Marsfeld zum Invalidendom mit dem benachbarten Museum der Militärgeschichte. Hier kann man sich ausführlich dem Studium von Gerätschaften und Maschinen widmen, die allein dazu konstruiert wurden, um den menschlichen Körper zu verstümmeln oder gar zu töten und Angst und Schrecken zu verbreiten. Auf den Kanonenrohren, die im Hof des Musee De L‘Armee ausgestellt sind, kann man so schizophrene Namen wie „Pilger“ oder „Lumpensammler“ lesen.

Auch ein sich umarmendes Liebespaar ist auf einem der Kanonenrohre zu sehen. Diese Figur brachte meine Frau und mich auf die Idee, das Eintrittsgeld für diese Sammlung menschlichen Vernichtungswahns zu sparen und stattdessen lieber einen Straus Rosen zu kaufen, den wir am Grab von Edith Piaf ablegten, einem Menschen, der für Millionen anderer Menschen nicht Angst und Schrecken, sondern Lebensfreude und Lebendigkeit bedeutete.

Edith Piaf ist auf dem Friedhof Père Lachaise im 20. Arrondissement bestattet. Einer ihrer bekanntesten Chansons „La Vie en rose“ besingt das Glück der Liebe. „Wenn er mich in den Arm nimmt - Wenn er leise mit mir spricht - Sehe ich das Leben in der Rose. - Er sagt mir Wörter der Liebe - Wörter vom Alltag, Und das bedeutet mir was.“

Am Grab von Edith Piaf liegen fast immer frische Blumen; ein Zeichen dafür, dass sie die Herzen der Menschen bis heute berührt.

Nur wenige Meter vom Grabmal Edith Piafs entfernt sind eine Reihe von Stelen, die an die Opfer des letzten Krieges und besonders an die von den Nazis in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen erinnern.

Mit dem Chanson von Edith Piaf im Ohr sah ich in den dürren Gestalten, die auf dem Denkmal für die Opfer von Auschwitz abgebildet sind, nicht nur die angsterfüllten und verzweifelten Menschen, sondern spürte auch etwas von der Lebenskraft, die durch diesen unbeschreiblichen Vernichtungswahn der Nazis nicht zerstört werden kann.

„Er sagt mir Wörter der Liebe – Wörter vom Alltag“ – und dann sehe ich das Leben in einer Rose.

Amen.

Verwendete Literatur:

Ulrich Wildermuth, „Amen, das ist: es werde wahr“. In: Für Arbeit und Besinnung 7/2015 (1. April 2015), S. 3 ff.

Martin Luther, Deutsch-deutsche Studienausgabe, Band 1, Leipzig 2012, S. 611.

Hans-Jörg Sing, Paris in seinen 20 Arrondissements, Seefeld 2004, S. 236f.