Die Fenster bleiben rund
3, 21-28

Die Fenster bleiben rund

Herr, segne unser Reden und Hören. Amen.

Liebe Gemeinde, mögen Sie Dickschädel? – Nein? – Ich auch nicht.
Aber ich sag Ihnen was: Ich stehe hier mitten in einem Dorf voller Dickschädel!
Und ich liebe sie alle. – Die meisten von ihnen gehören zu meiner Gemeinde.

Es gibt hier ein altes Sprichwort. Das sagen die Leute heute noch:
„Die Fenster bleiben rund!“

Früher hatten ’s die Evangelischen in Österreich sehr schwer. Mit ihrem Glauben.

Nachdem sich die Reformation in weiten Teilen des Landes rasch ausgebreitet hatte, setzte nach einigen Jahrzehnten die Gegenreformation ein und mündete schließlich in Gewalt.
Die Protestanten standen plötzlich vor der Entscheidung: Glaube oder Heimat! – Entweder ich verlasse mein Heimatland oder ich werde wieder „brav“ römisch-katholisch. An die 200.000 Evangelische wurden in dieser Zeit ins Exil vertrieben.

Seit 1781 durfte man durch das „Toleranzpatent“ Josefs II. seinen evangelischen Glauben wieder leben. Unter strengen Auflagen und Einschränkungen, versteht sich.
Die Evangelischen durften z.B. keine Gebäude bauen, die einer Kirche ähnlich gesehen hätten.
So hat man „Bethäuser“ errichtet – ohne Turm, ohne Glocken, ohne Rundbogenfenster, kein Eingang zur Straße hin.
Ein solches Bethaus bauten auch unsere Naßwalder, aber sie dachten gar nicht daran, sich an alle Auflagen zu halten.
Doch die Obrigkeit kontrollierte streng …!

Und die Fenster blieben rund!
Schwemmmeister und Dorfoberhaupt Georg Hubmer aber war nicht nur berühmt für seine Durchsetzungskraft und für seinen gesunden Hausverstand. – Er war auch ein schlauer Fuchs!
Er hatte tatsächlich einen persönlichen Fürsprecher gefunden: Erzherzog Johann, des Kaisers Bruder! Der hatte ihm eine Audienz bei seiner Majestät Franz II. eingefädelt. Der Kaiser soll schließlich zu Hubmer gesagt haben: „Man lasse mir meinen Raxkönig in Ruhe!“
So blieb das bescheidene Bethaus in Naßwald das einzige mit runden Fenstern in der gesamten Donaumonarchie.

Das Bethaus konnte man übrigens bald direkt von der Straße aus betreten. Hubmer hatte nicht etwa den vorgeschriebenen Hintereingang wiederrechtlich nach vorne verlegt. Nein, er hatte einfach die Straße auf die andere Seite verlegen lassen.
Sogar die streng verbotenen Glocken konnte man schließlich läuten hören. – Natürlich nicht in einem angebauten Turm aus Stein. Ein kleines Stück weit entfernt vom Bethaus stand unversehens ein hölzernes Gerüst, von dem drei Eisenglocken erklangen. – Man musste ja schließlich ein Feuerwarnsystem haben und zu den Ortsversammlungen rufen können …
Es gibt noch etliche solcher Naßwalder Geschichten.

Ja, ich liebe diese Dickschädel.

Aber diese  Dickköpfigkeit kommt ja nicht von ungefähr.
Ohne sie hätten sie sich damals gar nicht behaupten können.
Ein buchstäblich notgedrungener „Glaubens-Dickschädel“ also, - dessen Ursprung wohl in die Zeit des Geheimprotestantismus zurückreicht.

Die Zeiten des konfessionellen Gegeneinanders in diesen Breiten sind mittlerweile längst vorbei – auch hier in Naßwald. – Gott sei Dank!
Längst ist Naßwald nicht mehr nur lutherisch bevölkert. – Konfessionsverbindende Ehen sind heute kein Problem mehr. – Die katholische Pfarrer oben in Schwarzau im Gebirge oder unten in Gloggnitz zum Beispiel sind meine Freunde. Gelegentlich feiern wir miteinander Gottesdienst.

Wozu da noch einen „Glaubens-Dickschädel? –
Bedarf es heute in unserem freien Europa mit seinem Grundrecht auf freie Religionsausübung überhaupt noch einer Standfestigkeit im Glauben.
Wenn ich Sie frage: Würden Sie für Ihren Glauben den Kopf hinhalten? – Sie würden vermutlich meine Frage gar nicht verstehen: Kopf hinhalten? Für den Glauben? Warum? Es tut mir ja keiner etwas.

Doch auch den Familien um den Raxkönig ist es ja um weit mehr gegangen als um ihren Wunsch nach runden Kirchenfenstern. Im Kern des evangelischen Glaubens ging es und geht es darum, wer vor Gott etwas zählt. Nur, wer fromm ist? Gibt es Bedingungen? Oder gilt Gottes Liebe vielleicht gerade denen, die an den gestellten Bedingungen immer wieder scheitern?  
So sieht es doch auch heute aus. In der Gesellschaft gehörst du in dem Maß dazu, wie du mithalten kannst, - solange du noch was auf deinem Bankkonto habe, solange du gesund bist.
Ich denke an alle die, die Jesus seligpreist: die geistlich arm sind, - die da Leid tragen, - die Sanftmütigen, - die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, - die Barmherzigen, - die reinen Herzens sind, - die Friedfertigen, - die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden – alle die haben auch bei uns wenig zu lachen. Die will eine Spaßgesellschaft gar nicht sehen!
Wir kennen solche seliggepriesenen Leute! Jede Menge! – manchmal gehören wir selbst zu ihnen!

Und auch Georg Hubmer war einer von ihnen. – Auch wenn manche sicher zu Recht behaupten, er sei – wie Martin Luther – einer gewesen, dem schnell einmal der Kragen platze, der mit der Faust auf den Tisch haute und derb und laut wurde.
Der aber für sich und die Seinen beschlossen hatte, ein bescheidenes und menschenwürdiges Leben zu führen.
Kinder zum Beispiel haben damals nichts gegolten. Junge, billige Arbeitskräfte waren es.
Was hat Hubmer gemacht: Er hat dafür gesorgt, dass Kinder und Erwachsene in Naßwald lesen und schreiben lernten. Das Bethaus war zugleich auch Schule! Die Löcher für die Tintenfässer in den Bankreihen der Kirche sind heute noch zu sehen. Alle sollten eine Grundbildung besitzen, sollten selbst die Bibel lesen können!
Auch darin waren die Naßwalder echte Evangelische: Protestantismus und Bildung und die Heilige Schrift in der Muttersprache gehören zusammen! Das wissen die Evangelischen heute noch. Daher ist das heurige Jahr, auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 das Jahr der Bildung in Österreich.

Hubmer hat in diesem Tal eine Krankenkasse und eine Sozialversicherung eingeführt, ein Schutzhaus für die Schulkinder gebaut.
Er hat im Glauben begriffen, dass wir Empfangende, dass wir von Gott Beschenkte sind, dass wir allein aus der Gnade Gottes leben, - die es gilt, weiterzugeben!
Er hat mit Paulus und mit Luther begriffen, dass alle die, die Jesus seligpreist, ihre Seligkeit nicht mit irgendeiner eigenen Anstrengung verdienen müssen, - nicht verdienen können!
„… und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. … So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 4,24.28)
Diesem evangelischen Glauben bleib Hubmer treu. Für den hielt er seinen Kopf hin. Zu dessen Ehre hatten die Fenster rund bleiben müssen.
Protestantisch war er auch in seiner Überzeugung: Ich bin Gott verantwortlich und damit an mein eigenes Gewissen gebunden.
So sind die dickköpfigen Naßwalder nicht nur Gott, sondern auch sich selbst treu geblieben.

Deshalb haben sie sich auch nicht vor der habsburgischen Macht gefürchtet. Allein auf die Durchsetzung des Gesetzes hatte die staatliche Obrigkeit in Naßwald gebaut.
Aber die Jesus seligpreist, die kuschen nicht. Die folgen ihrem Gewissen, mit dem sie vor Gott bestehen wollen, - mit dem sie Mensch bleiben wollen.

All jenen, die ohne Rücksicht auf Verluste dem letzten Modeschrei nachjagen, immer höher hinaus wollen, immer weiter weg, immer mehr Action, immer mehr Spaß mit immer höherem Tempo, - denen wünsche ich, dass sie einmal einen Fuß ins alte Naßwald setzen. – Demut lernen. – Entschleunigen. – Menschengerechter zu leben beginnen. – Für sich selbst, für andere.
Ich glaube, das täte ihnen gut.
Ich wünsche ihnen, dass sie einmal auf diesem hohen Felsen stehen und von dort oben einen klaren Blick bekommen.
Was sehe ich von dort?
Von dort oben erkenne ich, dass in meinem Leben getrost auch einmal etwas hinterwäldlerisch sein darf, etwas langsamer, bedächtiger halt.
Nicht, dass die Naßwalder rückständig wären!

Die Naßwalder waren und sind bis auf den heutigen Tag alles andere. Sie sind immer noch Experten auf ihrem Gebiet, hochqualifizierte Spezialisten in der naturnahen Forstwirtschaft und im Quellschutz für die Stadt Wien. Von hier fließt das Wasser nach Wien. Die Naßwalder sind gescheit, talentiert und weltoffen. Sie schauen aufeinander. Sie schauen auch auf andere: Gerade haben sie in ihrem kleinen Dorf eine siebenköpfige irakische (oder: sunnitische?) Flüchtlingsfamilie aufgenommen! – Die Naßwalder stehen mitten im Leben.
Das Vermächtnis ihrer Vorfahren ist ihr Dickschädel.

Zusammen mit den Naßwaldern dürfen wir uns fragen:
Wofür lohnt es sich heute, seine Kraft einzusetzen, zu kämpfen, den Kopf hinzuhalten?
Wo ist mein christlicher Glaube gefordert? – Schauen Sie sich um! – Schauen Sie in die Welt! Auf das, was sie vor Ihrer Nase sehen. Und auf das, was weit hinter Ihrem Kirchturm liegt.
Und hören Sie auf Ihr Gewissen! –

Und dann entwickeln Sie Ihren persönlichen Dickkopf!

Doch um einen Dickkopf zu bilden, braucht es Bildung! – Braucht es Urteilsvermögen!
Auch da gilt es:
Weiten Sie Ihren Horizont! – Die gemütlichen Naßwalder haben‘s Ihnen vorgeführt!
Öffnen Sie sich für Neues, Fremdes, - auch und vor allem für neue und fremde Menschen! Öffnen Sie sich für die, die Jesus seligpreist!
Denn unsere Welt braucht Menschen, die den Mut haben, zu ihrem Glauben zu stehen und mit Wort und Tat das Evangelium von Jesus Christus bezeugen.

Das weist hinaus an die Schwachen und die Schwächsten dieser Welt. An die mit den leeren Händen, die Jesus seligpreist und denen Gottes bedingungslose Zuwendung gilt.
Weil wir Gnade empfangen, können wir nicht gnadenlos sein!

Wir können unseren Mund aufmachen und laut mit Paulus sprechen:
„Ich schäme mich des Evangeliums nicht;
denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht – alle, die daran glauben …“ (Röm 1,17)

Das ist es, was uns froh macht.
Das ist es, was unserer Welt ein freundliches und menschenwürdiges Gesicht verleiht.

Dafür einzutreten, wünsche ich Ihnen einen Naßwalder Dickschädel.

Amen.