​Die Frage nach dem Leid - Predigt zu Hiob 19,21-27 von Christoph Dinkel
19,21-27

​Die Frage nach dem Leid - Predigt zu Hiob 19,21-27 von Christoph Dinkel

Die Frage nach dem Leid

Die Frage nach dem Leid ist eine der Grundfragen der Menschheit. Sie begegnet in vielerlei Form: Warum muss ich leiden? Ist es gerecht, dass Menschen leiden? Hat das Leiden einen tieferen Sinn? Schickt Gott das Leiden? Wie geht man um mit einem Menschen, der leidet? – Die Frage nach dem Leid kann einen ganz allgemein bewegen, wenn man erlebt wie andere Menschen krank sind oder einen schweren Verlust erleiden. Die Frage bekommt aber eine andere Wucht, wenn man selbst es ist, der mit Krankheit, Verlust oder Niederlagen fertigwerden muss. Aber auch wenn es einem selbst gut geht, kann einem das medial sichtbar werdende Leid anderer Menschen nahegehen. Große Unglücksfälle wie der Germanwings-Absturz, der Amok-Lauf von Winnenden oder die Attentate in Paris und im Nahen Osten nagen an unserem Vertrauen in die Stabilität der Welt und ihrer Ordnung. Sie untergraben bei so mancher und manchem das Sinnvertrauen und den Mut zu leben.

In der Bibel wird das Leid der Menschen an vielen Stellen zum Thema. An erster Stelle wäre das Leiden Christi zu nennen. Aber schon im Alten Testament spielt die Frage nach dem Leid eine prominente Rolle, am prominentesten im Buch Hiob. Aus diesem Buch ist unser heutiger Predigttext entnommen. Er soll ab 2017 neu in die Reihe der Predigttexte aufgenommen werden. Ich werde ihn erst später vorlesen, denn um den Text zu verstehen, muss man einiges zu Hiob wissen.

Zu finden ist das Hiobbuch im Alten Testament. Die namensgebende Figur Hiob kommt unter dem Namen Ayyub auch im Koran vor. Eine historische Person sollte man hinter Hiob nicht vermuten. Schon in der Antike nahm man an, dass es sich um eine literarische Figur handelt. Jedem, der das Hiobbuch liest, fällt auf, dass es höchst verschiedenartige Texte enthält. Es ist erkennbar nicht aus einem Guss. Das Buch beginnt und endet mit der sogenannten Hiobslegende, einer weisheitlichen Lehrerzählung, die in Prosa verfasst ist und eine Verwandtschaft zu Märchen und Mythen erkennen lässt. In diesen Prosa-Rahmen sind ausführliche poetische Texte eingefügt, allesamt Reden von Hiob und seinen Freunden, teils den Psalmen sehr ähnlich.

Hiob ist ein frommer Mann und meidet das Böse. Er hat sieben Söhne und sieben Töchter. Er hat tausende Schafe und Kamele, Rinder und Esel, zahllose Diener, Knechte und auch sonst großen Reichtum. Hiob liebt Gott. Es geht ihm rundum gut – und Gott ist stolz auf den frommen Hiob.

Doch dann kommt der Satan im Spiel. Er gehört zu den Gottessöhnen im Himmel und sagt zu Gott: Hiob ist nur so fromm, weil es ihm so gut geht. Ginge es ihm schlecht, würde er vom Glauben abfallen. Satan verführt Gott also zu einer Wette – und Gott lässt sich darauf ein. Der Satan darf Hiob alles nehmen, nur ihn selbst soll er schonen. Der Satan nutzt die Chance und mit einem Mal ereilen Hiob all die Botschaften, die als Hiobsbotschaften bekannt geworden sind: Ein Bote meldet Hiob, dass Feinde kamen und alle seine Rinder und Esel geraubt und die Knechte erschlagen haben. Der nächste Bote meldet, dass Feuer vom Himmel fiel und Schafe und Knechte verbrannt hat. Der dritte Bote meldet einen feindlichen Überfall auf die Kamele und den Tod der Kamelknechte. Schließlich kommt noch ein vierter Bote: Ein Sturm brachte das Haus zum Einsturz, in dem die Söhne und Töchter Hiobs feierten. Alle vierzehn sind tot.

Hiobsbotschaften. Haben Sie einmal eine solche Hiobsbotschaft hören müssen? Die Welt verdunkelt sich. Der Boden unter den Füßen wird weggezogen. Kann es wirklich wahr sein, fragt man sich. Und mit zunehmendem Entsetzen stellt man fest, dass das Unheil wirklich ist. Hiob geht es nicht anders. Es heißt: „Da stand Hiob auf und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt und fiel auf die Erde und neigte sich tief.“ Das sind Gesten des Entsetzens und Riten der Trauer. Doch dann spricht Hiob und sagt: „Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ (1,20-22) Hiob hält Gott die Treue, er verliert seinen Glauben nicht. Der Satan verliert die Wette. Aber was für Sätze sind das: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt! – Sind das wirklich menschliche Sätze? Ist das die Lösung? Eine solche Gottergebenheit?

Die Geschichte geht weiter. Der Satan versucht es mit verschärften Maßnahmen. Nun geht es Hiob selbst an den Kragen. Er bekommt am ganzen Körper Geschwüre und Ausschläge. Alles tut weh und er sieht grässlich aus. Seine Frau spottet über ihn: Na, glaubst du immer noch an Gott? – Doch auch dieses Mal bewährt sich Hiobs Frömmigkeit. Seine Frau fährt er an: „Du redest wie die törichten Weiber reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (2,10) – Wieder sagt Hiob Sätze von einer schier übermenschlichen Größe und Gottergebenheit. Sollen wir so mit unserem Leiden umgehen? Wäre das die richtige Frömmigkeit, der rechte Gottesglaube?

An dieser Stelle der Geschichte ist man geneigt, das Buch zuzuschlagen und zu denken: Schön, dass Hiob so ein Held ist. Ich bin es nicht. Mit mir hat Hiobs Frömmigkeit nichts zu tun. Doch wer dann weiterliest, wird überrascht. Denn plötzlich werden ganz andere Töne angeschlagen. Hiob erhält Besuch von drei Freunden. Sie haben von seinem Unglück gehört. Sie erkennen Hiob erst gar nicht, so entstellt ist er von seiner Krankheit. Doch dann klagen sie mit ihm und setzen sich zu ihm. Sieben Tage und sieben Nächte sitzen sie stumm bei Hiob und reden nichts, „denn“, so heißt es, „sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.“ (2,13) – Hiobs Freunde können schweigen, sie können sein Unglück mit ihm aushalten. Sie texten ihn nicht zu. Sie nehmen einfach wahr, teilen den Schmerz und bleiben Hiob nahe. Hiobs Freunde machen erst einmal alles richtig. Ihr Verhalten ist bis heute Vorbild für die Seelsorge: Der Leidende hat Vorrang. Er spricht als erster. Bevor man dummes Zeug sagt, sollte man lieber den Mund halten.

Der erste, der spricht, ist Hiob. Und was er sagt, passt gar nicht zu der Schilderung des Hiobs in der Legende. Hiob redet lange und er beginnt so: „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt! […] Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? […] Was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und wovor mir graute, hat mich getroffen.“ (3,3-25) – Der Hiob, der hier spricht, trägt zwar denselben Namen, aber seine Haltung ist eine ganz andere. Und tatsächlich ist der Mittelteil des Hiobbuches unabhängig von der Legende entstanden, die den Rahmen des Buches bildet. Erst später wurden die Teile von einer Redaktion zu einem Buch zusammengefügt. Aber auch dieses Buch wurde noch weiterbearbeitet und ergänzt. Immer neue Autoren erweiterten die Vorlage durch ihre eigene, manchmal ähnliche, manchmal abweichende Sicht der Dinge.

Das Hiobbuch ist erkennbar nicht aus einem Guss. Aber gerade aus der Spannung und Vielzahl seiner Perspektiven zieht das Buch Hiob seine Faszination und Überzeugungskraft. Hier wird nicht nur eine Antwort gegeben, hier kommen ganz verschiedene Meinungen, Einstellungen, Positionen zur Sprache. Und alles steht nebeneinander, damit sich die Leserin und der Leser selbst eine Meinung bilden können. Bei wirklich wichtigen Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Wirklich wichtige Fragen müssen diskutiert und aus verschiedenen Perspektiven und Positionen beleuchtet werden. Das Hiobbuch liefert keine abgeschlossene Meinung, es regt an zur Auseinandersetzung und zur eigenen Stellungnahme. – Und so ist es ja überhaupt mit dem christlichen Glauben. Er liefert keine abschließende Erklärung für das Leiden, der Glaube ist vielmehr die Kultur, mit den großen Fragen des Lebens, speziell auch mit der Frage nach dem Leid umzugehen und sich produktiv damit auseinanderzusetzen.

Auf Hiobs Klage antworten seine Freunde in mehreren langen Reden. Sie vertreten die damals üblichen gesellschaftlich verbreiteten Ansichten über das Leiden: Für irgendetwas muss Hiobs Leiden die Strafe sein, umsonst kann es ihn nicht getroffen haben. Er soll in sich gehen und sich demütig an Gott wenden, dann wird er ihm auch wieder helfen. Vielleicht ist das Leiden eine Erziehungsmaßnahme Gottes, wer weiß, wozu es gut ist? – Hiob wird von mal zu mal zorniger über die Reden seiner Freunde. Anfangs versucht er, ihre Argumente noch zu würdigen, doch irgendwann platzt es aus ihm heraus, geradezu zynisch sagt er zu seinen Freunden: „Ja, ihr seid die Leute, mit euch wird die Weisheit sterben!“ (12,2) „Ihr seid Lügentüncher und seid alle unnütze Ärzte. Wollte Gott, dass ihr geschwiegen hättet, so wäret ihr weise geblieben.“ (13,4f) „Wollt ihr Gott verteidigen mit Unrecht und Trug für ihn reden?“ (13,7) „Ihr seid allzumal leidige Tröster“ (16,2).

Haben die Freunde Hiobs mit ihrem anfänglichen Schweigen alles richtiggemacht, so machen sie nun alles falsch. Sie erklären ihm die Welt und das Leiden und für Hiob wird dies immer unerträglicher. Er fühlt sich bedrängt und verhöhnt. Zum Leiden hat er nun auch noch die Schmach, dass er irgendwie selbst an seinem Leiden Schuld sein soll. Dabei weiß er genau, dass keine seiner Taten das Leid rechtfertigen könnte, das er erleben muss. Mit letzter Dringlichkeit sagt er seinen Freunden: So merkt doch endlich, dass Gott mir unrecht getan hat. Ich schreie Gewalt und werde doch nicht gehört, ich rufe, aber kein Recht ist da (19,6f) Meine Freunde haben mich vergessen. Mein Atem ist meiner Frau zuwider, den Söhnen meiner Mutter ekelt es vor mir. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. (19,13-20) Hiob ist fertig mit der Welt und seinen Freunden, er ist total verzweifelt. Und an dieser Stelle setzt unser heutiger Predigttext ein. Ich lese Hiob 19,21-27:

Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben, zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen!

Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Hiob ist verzweifelt. Er klagt Gott an und beschimpft seine Freunde. Aber Hiob gibt nicht auf. Mit Gott hält er gegen Gott daran fest, dass Gott sein Leben, seine Gesundheit, sein Glück will. Mein Erlöser lebt. Er wird mir helfen. Ich werde Gott sehen und nicht die anderen, die mir dumme Ratschläge geben. Der Glaube Hiobs ist paradox: Er wendet sich gegen Gott und zugleich wendet er sich an Gott. Der, den er anklagt, der wird ihm helfen. Das ist keine einfache Lösung auf die Frage nach dem Leid. Aber es ist vielleicht die sinnvollste Lösung, die zu finden ist. Das Buch Hiob nimmt Hiobs Leiden bis ins letzte ernst. Es ermäßigt nichts und nimmt nichts weg davon. Das Leiden ist zu nichts gut. Es ist böse, teuflisch. Leiden soll nicht sein. Dass der Gerechte leidet, ist ein Skandal, der zum Himmel schreit. Hiob ist der Gefährte aller Leidenden, aller, die in Verzweiflung gestürzt sind und drohen zu Grunde zu gehen.

Was aber sagt Gott zu alledem? Wieder ist die Antwort des Hiobbuches keine einfache. Gott weist die Anklage Hiobs zurück. Du, Mensch, bist viel zu klein und unbedeutend als dass du den Lauf der Welt nach gerecht und ungerecht beurteilen könntest. Aber Gott weist auch die Verteidigungsversuche der Freunde Hiobs zurück: Ihr habt nicht recht geredet wie mein Knecht Hiob. (42,7) Gott steht auf der Seite Hiobs, auf der Seite des Leidenden. Gott gibt Hiob gegen dessen Freunde darin recht, dass Hiobs Leiden ungerecht ist, dass es nicht von Gott geschickt wurde, dass Gott dieses Leiden nicht will. Und so wendet sich am Ende des Buches Hiobs Geschick wieder ins Freundliche. Es ist wie im Märchen: Hiob bekommt von allem, was er verloren hat, das Doppelte wieder. Er lebt weitere 140 Jahre und wird Vater weiterer Töchter und Söhne. Seine Töchter sind die schönsten Frauen im ganzen Land, er sieht Nachkommen bis zur vierten Generation großwerden. Am Ende stirbt Hiob zufrieden, alt und lebenssatt. (42,15-17)

Hiob ist ein großes Vorbild im Glauben. Vielleicht weniger der Hiob der Legende, der das Leid mit so übermenschlicher Stärke akzeptiert und für den dann am Ende alles wieder gut wird. Den meisten dürfte der Hiob der Reden näherstehen: Der aufbegehrende Hiob, der streitende, kämpfende Hiob. Der sich nicht abfindet mit Krankheit, Niederlage, Leid, Elend, Verlust. Der Hiob, der für sich das Leben und Gerechtigkeit und Glück fordert. Der gegen alles, was ihm widerfährt, daran festhält, dass Gott es gut mit ihm, seinem Geschöpf meinen muss. Hiob findet Worte für sein Unglück, die auch wir sagen können, wenn uns das Leiden trifft und wir zu verstummen drohen. Hiob ist ein Gefährte im Leiden, ein Freund in großem Schmerz.

Und dann ist da mitten in der Klage, mitten im Kampf dieser große Satz Hiobs: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Aus der größten Verzweiflung taucht die Hoffnung auf, dass es in der Tiefe des Abgrunds Halt gibt. Der Sturz geht nicht ins Bodenlose. Am Ende ist da eine Hand, die uns hält. Am Ende ist Gott da, der uns auffängt. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt – das ist ein Satz gegen die Angst, ein Wort, das mitten in der Verzweiflung die Rettung erahnt.

Für den Umgang mit dem Leiden gibt es keine einfachen Lösungen. Das Hiobbuch hält ganz verschiedene Perspektiven auf das Leiden bereit: Ergebung und Widerstand, Erklärung und Aufbegehren. Das Hiobbuch nimmt nichts von der Schwere des Leides weg. Es lotet jede Tiefe des Schmerzes aus. Und doch verweist es uns mitten im Dunkel auf das Licht: Ich weiß, dass mein Erlöser naht. Der Sturz geht nicht ins Bodenlose. Am Ende ist da eine Hand, die uns hält. Gott fängt uns auf. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. – Amen.