Die ideale Gemeinde – Predigt zu Apg 2,42-47 von Esther Kuhn-Luz
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Die ideale Gemeinde – Predigt zu Apg 2,42-47 von Esther Kuhn-Luz

„Die erste Gemeinde“ ist dieser biblische Text aus der Apostelgeschichte überschrieben.

Meine Güte, welche Idealzustände! Menschen, die alle zu einer Gemeinde dazu gehören und füreinander sorgen, miteinander teilen, die fürsorglich miteinander umgehen und einen Blick haben für soziale Gerechtigkeit. Sie verkauften Güter und Habe, verkauften ihre Immobilien und was sie sonst hatten. Jeder bekommt das, was er und sie nötig haben. Niemand geht leer aus, niemand hat zu viel. Einmütig waren sie – verstanden sich in ihrem gemeinsamen Glauben an den auferstandenen Christus als eine Gemeinschaft. Sie trafen sich regelmäßig, um miteinander Gottes Wort zu hören – im Tempel in Jerusalem. Denn das blieb „Haus Gottes“ – auch für diejenigen, die sich zu Christus bekannten. Denn Jesus selbst hatte doch auch hier gelehrt und war mit vielen Menschen im Gespräch gewesen. Aber sie trafen sich auch in den Häusern, reihum. Sie aßen miteinander – nicht nur die Freunde, sondern alle wurden irgendwo eingeladen. Sie teilten das Brot und erinnerten sich dabei immer an denjenigen, der ihnen das beigebracht hat: Wenn wir Brot teilen, dann werden wir satt. Dann denken wir immer auch an den, der für uns Brot des Lebens geworden ist.

Sie beteten miteinander, waren voller Dankbarkeit, lobten Gott und beteten auch füreinander.

So muss Gemeinde sein!

Ist so Gemeinde? Ja, vielleicht in kleinen Gemeinschaften, auch in Klöstern.

Wir kennen das anders – hier in Rottweil, und überall in der Landeskirche. Ja, wir, die wir hier sitzen, verstehen uns als Gemeinde. Wir zahlen Kirchensteuern, um die Arbeit der Kirche zu unterstützen: die Seelsorge, die Diakonie, die Bildungsarbeit, die Kirchenmusik. Wir unterstützen mit dem Geld auch die kirchlichen Häuser, in denen Menschen in der Gemeinde und in Akademien zusammen kommen. Die Kirchensteuer – eine kleine Erinnerung daran, dass „sie untereinander teilten, je nachdem, wie es einer nötig hatte“ (V. 45b).

Aber dass wir hier mit über 7000 evangelischen Gemeindegliedern in der Rottweiler Kirchengemeinde so füreinander sorgen, wie es in der Apostelgeschichte beschrieben wird, das kennen wir nicht. Dazu sind wir zu viele. Wir haben aber Strukturen aufgebaut, die dafür da sind, dass anderen Menschen geholfen wird.

Ideal sind wir nicht als Gemeinde, aber auch wir – und damit meine ich alle Gemeinden der Christen und Christinnen in der weltweiten Ökumene – wir „bleiben beständig in der Lehre der Apostel“ (V. 42a). Das Angebot ist jeden Sonntag da: sich von Gottes Wort Orientierung und Stärkung geben zu lassen. Den Gottesdienst als einen Ort der „seelischen und prophetischen Stärkung“ zu verstehen, wie wir das von Fulbert Steffensky letzte Woche gehört haben.

Wir beten füreinander und miteinander und feiern auch regelmäßig miteinander Abendmahl, wir teilen das Brot.

Das alles sind „Erinnerungen“ an die erste Gemeinde der Christusnachfolgenden in Jerusalem. Diese vier Kennzeichen einer christlichen Gemeinde, die Lukas aufzählt: in der Lehre des biblischen Wortes bleiben (griechisch: didache) und in der Gemeinschaft (griechisch: koinonia), im Brotteilen (griechisch: klasis tou artou) und im Gebet (griechisch: Proseuchai) Gemeinschaft zu erfahren. Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Das sind die „notae ecclesiae“ geworden. Die Kennzeichen einer Kirche. Wo das stattfindet, findet Kirche statt.

Spannend, dass das nicht an einen Ort gebunden ist, sondern viel mehr ein Handeln beschrieben wird: Kirche ist dort, wo auf Gottes Wort gehört wird, Gemeinschaft erlebt wird, Brot geteilt wird, Menschen im Gebet verbunden sind.

Brotbrechen“ (V. 42b) heißt es in der Apostelgeschichte immer wieder anstatt „Brotteilen“. Das erinnert an die Eröffnung einer jüdischen Feier mit Gebet und Segen. Und gleichzeitig ist es ein Symbol dafür geworden, dass Jesus als Brot gebrochen wurde, damit viele satt werden. „Er brach das Brot“. Daran haben ihn auch seine Jünger wieder erkannt.

Also – ideal fing die Geschichte der christlichen Gemeinde an. Sozial gerecht und einmütig.

Stimmt das denn?

Wir kennen aus den Briefen des Apostel Paulus so viele Konflikte der Gemeinden.

Da hat jemand den anderen finanziell übervorteilt, also betrogen. In einer anderen Gemeinde trafen sich nur noch diejenigen, die begütert waren – und wollten mit den armen Menschen nichts mehr zu tun haben. Dann gab es jede Menge Konkurrenz und Machtkämpfe – wer ist der „Bestimmer“? Wer hat den bessern Glauben? Wer hat die Macht?
Menschliche Geltungsbedürfnisse waren in den christlichen Gemeinden genauso da wie in der nichtchristlichen Welt.

Und trotzdem.

Der Schreiber der Apostelgeschichte beschreibt den Anfang der christlichen Gemeinde als eine ideale Gemeinde. Und vielleicht ist damit gar nicht so sehr eine historische Realität beschrieben, sondern vielmehr eine Idee, wie sich Menschen zueinander verhalten sollten. Sie alle glauben an den auferstandenen Christus, der in seinem Leben – ganz unabhängig von dem Ansehen der Person – in vielen Begegnungen und Gesprächen die Menschenliebe Gottes spürbar werden ließ.

Der Bericht in der Apostelgeschichte über das Leben der ersten Christen ist ein in die Vergangenheit verlegter Zukunftstraum.

Und eine gute Zukunft kann man nur gestalten, wenn es einen guten Anfang gibt.

Wir erzählen uns unsere Geschichten so, dass es einen guten Anfang gibt. Das tun wir in unserer Biografie. Unsere Lebensgeschichte soll einen guten Anfang haben – und manche verändern im Nachhinein auch manches, um sich selbst Mut zu machen. Wenigstens der Anfang war gut.

Nachher werden wir hier im Gottesdienst sechs Kinder taufen – das ist auch eine Erinnerung an einen guten Anfang: Dass das Leben in Gott beginnt und deshalb einen guten Anfang hat.

Das gilt auch für die Geschichten, die von großen Aufbrüchen erzählen, die Menschen in die Freiheit geführt haben: vom Exodus über die Arbeiterbewegung, von der Theologie der Befreiung – auch der feministischen Theologie – bis hin zur großen Friedensvision Europas in der EU.

Auch wenn die Anfänge nie ganz ideal waren – die Geschichten darüber wurden als ideale Anfänge erzählt. Denn die Anfänge unserer Geschichten geben uns Orientierung und Kraft und Verheißung, wohin unsere Wege gehen können.

So ist das ja auch in den Anfangsgeschichten der Bibel.

Die Schöpfungsgeschichte erzählt von den guten Anfängen. Bei jedem Schöpfungswerk Gottes heißt es: „Und Gott sah, dass es gut war.“

Im Johannesevangelium lesen wir eine andere Geschichte eines guten Anfangs:

Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“

Es gibt keine Welt ohne Gottes Wort, meint Johannes. Und in Gottes Wort gibt es immer wieder Anfänge, weil es am Anfang war.

Auch die Weihnachtsgeschichten sind solche guten Anfangsgeschichten. Mitten in der Armut, mitten in der Nacht, mitten in der Dunkelheit, mitten in der Hoffnungslosigkeit fängt Neues an. In einem zarten Kind. Der Anfang aller Anfänge.

Auch dieser Bericht von der ersten Gemeinde der Christusnachfolgenden – eine christliche Gemeinde und Kirche hat sich ja erst später gegründet – auch dieser Bericht über ein ideales Zusammenleben der ersten Christen und Christinnen ist so eine Schöpfungsgeschichte, ein guter Anfang! Damit wir eine Orientierung haben, wie es sein sollte.
Die Erinnerung sagt: „Es war einmal“. Weil es einmal so sein soll. Der geglückte Anfang verspricht das glückende Ende. Als Utopie. Einen Ort, den es noch nicht gibt, den wir aber ersehnen.

Weder damals noch heute gibt es die „ideale Gemeinde“. Aber mit dieser Beschreibung aus der Apostelgeschichte haben wir eine Idee, wie Gemeinde sein könnte.
Deswegen regt sich ja zum Glück auch so viel Protest, wenn gerade in Kirchengemeinden zu viel Geld für Luxus ausgegeben wird und zu wenig für soziale Projekte. Weil das so im Gegensatz steht zu dieser Beschreibung: Sie teilten alles, je nachdem wie es einer nötig hatte.

Deswegen sind ja in einer Kirchengemeinde zwar nicht Konflikte, aber zerstörerische Machtauseinandersetzungen so verheerend, weil sie gar nichts mehr davon zeigen, wie eine Gemeinde in Christus einmütig ist. Obwohl es doch der eine Christus ist, nach dem sich alle Christen und Christinnen nennen.

„Diese Geschichte der ersten Gemeinde ist wie die Unruh einer Uhr. Sie treibt unsere Lebensuhr weiter und sagt uns, dass die Zeit des Gelingens noch aussteht und wir noch nicht in dem Land sind, in dem alle in Frieden wohnen können.“(Fulbert Steffensky, Der Schatz im Acker, S. 80f)
Aber die Sehnsucht teilen wir. Das treibt uns voran. Und das gibt uns immer wieder Motivation, uns für eine Gemeinde zu engagieren, in der etwas davon zu spüren ist, dass Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Berufen und Biografien und Prägungen, mit verschiedensten Begabungen und Verletzungen im „Gasthaus Kirche“ genährt werden können.

Mich beschäftigt aber noch etwas.

Wie kam es eigentlich dazu, dass sich Menschen veränderten, dass sie bereit waren, sich zu einer Gemeinde, einer Gemeinschaft zusammen zu schließen und füreinander zu sorgen, füreinander Verantwortung zu übernehmen?

Da müssen wir noch einmal – biblisch gesehen – einige Wochen zurückgehen. Vor acht Wochen haben wir Pfingsten gefeiert. Dieses Geschenk der Geisteskraft Gottes, die uns bewegt. Die uns hilft, mit der Unsichtbarkeit Gottes zurechtzukommen, weil wir Gottes Kraft spüren, in uns, in Begegnungen, in Worten, in Gesten.

Diese Erzählung steht direkt vor unserem Text über die erste christliche Gemeinde – übrigens noch jenseits aller Konfessionen! Auch das ist eine Erinnerung, die ein Ziel vorgibt für kirchliches Handeln in der Zukunft!
Also direkt davor wird erzählt, was der Pfingstgeist bewirkt hat: Die Menschen haben die Worte, die sie gehört haben, verstanden! In ihrer Sprache. In ihrer Muttersprache, in ihrer Herzenssprache, in ihrem Dialekt. Sie haben verstanden, dass Gott in Christus gegenwärtig war und dass er es auch bleibt. Denn der Tod hat keine endgültige Macht mehr.

Sie haben die Psalmworte gehört und verstanden, dass das auch ihre Worte sein können. „Ich habe den Herrn allezeit vor Augen. Er steht mir zur Rechten. Darum ist mein Herz fröhlich. Mein Leib wird ruhen in Hoffnung. Du wirst mich nicht dem Tod überlassen. Du hast mir kundgetan den Weg des Lebens, du wirst mich mit Freude erfüllen vor deinem Angesicht!“ (Psalm 16).

Sie haben so zugehört, dass diese Worte in der Pfingstpredigt des Petrus in ihnen etwas verändert haben. Und sie wurden mutig, auf zu hören und auf Gottes Wort wirklich zu hören.

Marianne Gronemeyer hat ihn ihrem Buch „Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens“ diesen Zusammenhang so eindrucksvoll beschrieben, wie ein wirkliches Hören uns dazu bewegen kann, aufzuhören mit dem, was uns das Leben schwer macht – und etwas in Bewegung kommt.

„Reden ist Silber – Hören ist Gold“.

„Gewicht hat im herkömmlichen Dialog nur der Sprecher, während der Hörer fast übersehen wird. Er ist oft nur die Landebahn für die niedergehenden Worte und kann sich nur Geltung verschaffen, wenn er selber das Wort ergreift. Sein Schweigen findet keine Zuhörer.“(S. 127)
Diese Art zu reden kann belehren. Aber es verändert nichts, weil nichts in Bewegung kommt, weil dem Zuhören und den Zuhörenden zu wenig Beachtung, Bedeutung gegeben wird. In einem wirklichen Gespräch ist der Redende daran interessiert, wie und ob die Zuhörenden sich bewegen lassen – und wartet auf Reaktion.
Die Kunst, zu zuhören, verändert den Sprechenden. Erst das wirkliche Zuhören gibt dem Menschen, der spricht, Bedeutung, weil erst das Zuhören eine Veränderung bewirken kann, die die reinen Worte nicht erreichen können.

Die Bereitschaft, so zuzuhören, so auf etwas, auf jemanden zu hören, dass sich in mir und mit mir etwas verändert, das war wohl das eigentliche Pfingstwunder.

Die Predigt des Petrus war das eine. Aber die Kunst, so zuzuhören, dass Menschen berührt und bewegt wurden und den Mut bekommen haben, auf das zu hören, was ihnen in Christus Orientierung und Kraft und Hoffnung gibt, das war der Ursprung der ersten christlichen Gemeinde.

Als sie das aber hörten, ging‘s ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den anderen Aposteln: ‚Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?‘“ (V. 37)

So dem Wort Gottes zuzuhören, dass wir uns berühren und bewegen lassen und einmütig im Geist Gottes füreinander und miteinander Verantwortung übernehmen – das schenke uns die Geisteskraft Gottes.

Amen.