Die Wirklichkeit des Kreuzes - Predigt zu Hebräer 5,7–9 von Reiner Kalmbach
5,7-9

Die Wirklichkeit des Kreuzes - Predigt zu Hebräer 5,7–9 von Reiner Kalmbach

Die Wirklichkeit des Kreuzes

Liebe Gemeinde:

Passionszeit, wir sind mitten drin, schreiten fort auf dem Weg der uns schnurgerade nach Golgotha führt, jener Ort der die Geschichte der Menschheit in zwei Teile schneidet. Passionszeit, für viele Christen eine Gelegenheit „in sich“ zu gehen, auf Dinge zu verzichten, selbst ein wenig zu „leiden“, für andere kein Grund den gewohnten Rhythmus zu unterbrechen. Passionszeit, nach was fragen wir?, um was geht es da eigentlich?, um uns?, ja, es geht um uns Menschen!, es geht um die Menschheit, um ihr Dasein in dieser Welt und ihrer Geschichte. Und Gott?, kommt er auch darin vor...?

Passionszeit: „Was geht mich das an?“, fragte und provozierte mich einmal ein junger Mann, der von sich behauptete Agnostiker zu sein. Aber an Karfreitag sah ich ihn im Gottesdienst und am Tisch des Herrn.

In der Zeit der letzten Militärdiktatur in Argentinien, zwischen 1976 und 1983, gab es einen alten Priester der politische Gefangene in den Gefängnissen besuchte. Dazu hatte ihm sein Bischoff verholfen, der noch über gewisse „Möglichkeiten“ verfügte. Dann, in stillen Nächten, nahm er Papier und Stift und malte den Gekreuzigten. Jahre später lernte ich ihn während einer Konferenz kennen. Wir waren im selben Zimmer untergebracht. An einem Abend und bei einer Flasche Wein, zeigte er mir ein Buch, das er immer bei sich trug. Auf jeder Seite war der Gekreuzigte zu sehen: junge Männer, junge Frauen, Priester, Nonnen, Arbeiter..., grausam zugerichtet und unglaublich menschlich zugleich. Auf jedem Blatt, ganz unten und in kleinen Buchstaben stand: „Gott in seiner Welt“.

Die Begegnung mit dem alten Priester hat mich tief geprägt. Seine Bilder liessen mich nicht mehr los. Und als ich den Abschnitt aus dem Hebräerbrief las, der uns für heute gegeben ist, waren diese Bilder sogleich wieder da.

Textlesung: Hebräer 5, 7 – 9

Am Hohepriester kommt niemand vorbei.

Der Autor des Briefes wirft mit Namen und Begriffen, die für uns fremd klingen und irgendwie weit weg, nur so um sich. Es ist klar, die Empfänger kennen sich aus, sie „verstehen“, was er ihnen mitteilen will. Er schreibt nicht über ihre Köpfe hinweg. Er spricht zu ihnen in ihrer Sprache. Wie Luther schon erkannte: man muss dem Volk aufs Maul schauen.

Der Hohepriester ist auf jeden Fall ein besonderer Priester, er ist praktisch eine „Schlüsselfigur“ in der Beziehung des Menschen zu Gott. Ohne ihn gibt es keine Vergebung, und darum geht es doch schliesslich. Wir wissen nur zu gut, ob bewusst, oder unbewusst, dass wir Gott „brauchen“. Der Hunger nach Religion, nach Spiritualität, ist auch und gerade im Zeitalter der elektronischen Medien, ungebrochen. Die Frage nach dem Sinn ist im Grunde die Frage nach Gott und seiner Existenz, d.h. ohne Gott geht es nicht. Und Gott ist das Synonym für Erlösung. Gott erlöst uns. Von was, von wem?, wollen wir überhaupt erlöst werden...?

Hier in Lateinamerika spriessen die neuen Kirchen und religiösen Bewegungen nur so aus dem Boden, wie die Pilze nach einem warmen Herbstregen. Ihre Prediger, Verzeihung: „Hohepriester“, treten im Nadelstreifen auf, anstatt aus der aufgeschlagenen Bibel lesen sie vom Lap mit dem Apfel-Logo. Sie reisen im Flugzeug in der ersten Klasse und schlafen in Hotels mit fünf Sternen. Ihre Tempel füllen sich mehrmals wöchentlich bis auf den letzten Platz. Jeder will dazugehören, schliesslich wird hier die Erlösung aus dem Jetzt gepredigt: schluss mit den Geldsorgen!, den Schulden, den Eheproblemen, den Konflikten mit den Kindern! Gibst du Gott 10 Dollar, so bekommst du von ihm 100 zurück, so einfach ist das. „Hör auf zu leiden!“, ist das Motto, das man dir an jeder roten Ampel, an jeder Hausecke in die Hand drückt. Sie haben die Macht und Möglichkeiten der neuen Medien schon längst entdeckt, sie besitzen Fernsehkanäle und Radiolizenzen und sind auf jeder Buchmesse zu finden. Und ihre Beziehungen zu den Politikern sind ohnehin besser als die unseren. Kein Wahlkandidat kann sie ignorieren, die meisten von ihnen buhlen regelrecht um ihre Gunst.

Ja, am Hohepriester kommen wir nicht vorbei, ohne ihn geht’s nicht!

Und wir Deutschen sollten dies doch wissen, einst hiess der Hohepriester Adolf Hitler. Er opferte auf dem Altar der Geschichte ein ganzes Volk, das von Gott erwählte Volk! Und damit nicht genug, am Schluss opferte er sogar sein eigenes Volk...

Und damit kommen wir zum Eigentlichen: es geht um das Opfer. Opfer hat immer mit Schmerz zu tun, mit Leiden, Verzicht. Man ist bereit etwas zu opfern, um etwas zu bekommen, eine Gegenleistung. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Reaktion meiner Konfirmanden, wenn wir die Geschichte von Abraham lesen, der seinen Sohn Isaak „opfern“ will, um damit das Wohlwollen Gottes zu bekommen. Manche der Konfirmanden sehen darin ihr eigenes Gottesbild, ihre Vorstellung von Gott bestätigt: Gott „verlangt Opfer“, droht uns mit Strafe, zumindest aber stellt er uns auf die Probe. Wir sind bereit „Opfer“ auf uns zu nehmen, unglaubliche Anstrengungen zu unternehmen, um erlöst zu werden, um uns selbst zu erlösen.

Das alles ist doch so weit weg von Karfreitag. Die Passionszeit und alles was wir damit verbinden, hat darin keinen Platz. Das Kreuz Christi, das Kreuz in der Welt, wird in diesen Kirchen nicht gepredigt, es existiert einfach nicht, es ist ihnen ein Ärgernis, steht ihnen im Weg. Und das ist auch verständlich, schliesslich weist die Predigt vom Kreuz  auf eben jenen der da hängt...

Dennoch, ob es diesen Hohepriestern passt, oder nicht...

am Kreuz kommt niemand vorbei

Ich muss wieder an den alten Priester denken, an seine Gekreuzigten, an die schmerzverzerrten Gesichter, die verdrehten und gekrümmten Körper, zerschundenen Glieder, die tonlosen Schreie: „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“. Wie würden seine Bilder heute aussehen?, welche Gesichter, welche Menschen? Und dann blättere ich in seinem Buch. Ein Jugendlicher aus einem Armenviertel, die Drogen haben seinen jungen Körper ausgezehrt, seine Augen blicken in eine nicht vorhandene Zukunft. Auf einem anderen Blatt sehe ich eine Frau, die vergeblich bei der Polizei Zuflucht und Hilfe vor ihrem prügelnden Mann sucht. Ein alter Mann sucht nach etwas Essbarem in einem Container hinter einem Restaurant. Nach einer Sitzung in Kirchenangelegenheiten gehe ich durch die Strassen von Buenos Aires. Es ist Winter, kalt und feucht. In einem Hauseingang sehe ich, zusammengekauert und in alte Decken gehüllt, eine Mutter und ihre vier kleinen Kinder. Auch dieses „Bild“ ist in seinem Buch...

Vielleicht entdecke ich auch Bilder aus anderen Weltgegenden, aus Syrien und dem Irak. Zerschossene Häuser, Menschen auf der Flucht, in Panik. Umherirrende Kinder die ihre Eltern suchen, vergeblich. Jugendliche, Kinder, mit Waffen ausgerüstet, bereit den Heldentod zu sterben.

Ja, das Kreuz ist überall, kennt keine Grenzen, keine kulturellen oder gesellschaftlichen Unterschiede.

Einmal hat man mir vorgeworfen, ich würde Jesus zu vermenschlichen, schliesslich sei er Gottes Sohn. Ja, das ist nur zu verständlich. Diese Abwehrhaltung gegen Schwäche und Angst, Dunkelheit und der abgrundtiefen Verzweiflung, diese Verdrängung der Schmerzen, der Verlassenheit..., der leidende Gott, der schreiende, verlassene Gott, verbannt in die hinterste Ecke unsere Vorstellung, eingewickelt in dogmatische Lehrsätze, da kann er keinen Schaden mehr anrichten. Dennoch, an den Tränen und den Schreien dessen, den der Verfasser als Gottes Sohn und einzigen Hohepriester beschreibt, können wir uns nicht vorbeimogeln.

Passionszeit: eine Gruppe Gemeindeglieder trifft sich abends, nach getaner Arbeit, zu einer Passionsandacht. Ich schaue in müde Gesichter und frage mich, was sie wohl dazu bewogen hat, zu dieser späten Stunde hierher zu kommen. Ich weiss, dass die meisten, um über die Runden zu kommen, zwei Jobs haben. Jeder bringt einen Gegenstand mit, der für ihn sein persönliches Kreuz symbolisiert. Wir legen diese Dinge auf den Boden und formen daraus ein grosses Kreuz. Da sehe ich einen kleinen Stein von dunkler Farbe, ein gefaltetes Blatt Papier, ein Brief wohl, eine grobe und auseinandergerissene Kette, ein paar Fotos, eine kleine Kerze ohne Flamme, auch ein einfaches Holzkreuz liegt da auf dem Boden, dann legt ein älterer Mann einen alten verrosteten Nagel auf den Boden.

Ich lade die Anwesenden ein, die Geschichte ihrer Kreuze zu erzählen. Eine Frau nimmt den zusammengefalteten Brief, es ist der Abschiedsbrief ihres Mannes, der sich vor vielen Jahren das Leben nahm: „dieser Brief erdrückt mich fast, manchmal kann ich kaum noch atmen. Ich werde ihn tragen, solange ich lebe und mit jedem Tag wird er schwerer.“ Mich interessiert die Kette, möchte gerne wissen, was sie bedeutet. Eine jüngere Frau, sie ist noch nicht lange in der Gemeinde, sagt: „ich war gefangen in meiner Ehe, angekettet, habe alles erduldet. Er hat mich geschlagen, anfangs nur ab und zu, dann immer öfter. Meine Mutter sagte ich müsse einfach mehr Geduld mit ihm haben. In meiner vorigen Gemeinde sagten sie mir ich sei zu rebellisch, müsste mich unterordnen, schliesslich ist der Ehemann das Haupt der Familie. Bis ich dann jemanden aus dieser Gemeinde kennenlernte. Er hat mich eingeladen und dann habe ich einen ganz anderen Jesus entdeckt, einen Jesus der mit mir leidet. Ich nahm allen Mut zusammen, ging zu einer Anwältin und jetzt habe ich die Kette zerbrochen. Die Kraft dies zu tun habe ich vom Kreuz bekommen...“

Diese einfachen Leute haben es „er“griffen: Jesus am Kreuz ist keine Erfolgsgeschichte. Gott übergab sich selbst den Menschen, der Welt, ohne Sicherungsseil und Netz. Die ganze grausame Macht ist über ihn hereingebrochen, verlassen von den Seinen, verlassen von sich selbst. Nur so, das Ende durchschreitend, war Erlösung möglich. Der Mensch Jesu ist der Sohn Gottes. Der um Rettung fleht („Vater, es ist dir alles möglich. Nimm diesen Kelch von mir, doch nicht , was ich will...“), ist der, der als Retter gepriesen wird. Der sich schlagen und töten lässt, ist der, der sich ganz Gott anvertraut, der ihn vom Tod erretten kann. Wo ist Gott? Dort hängt er, am Kreuz! Im Flehen und Schreien, in der absoluten Verlassenheit senkt sich die Dunkelheit auf ihn herab. Das ist Gottes Geschichte: so weit, so tief lässt er sich fallen. Der, der Mensch war in seiner Angst und Gottesangst, wird zum Gott in gänzlicher Hingabe, zum Urheber des ewigen Heils.

Dieses Geheimnis lässt sich nur im Glauben ergreifen. Er verbindet die Leidenden und Schreienden mit dem, der für sie litt und weinte und nach Gott schrie. Weil er uns so nah ist und bleibt, rufen und beten wir ihn an.

Amen.