Ein Experiment – Predigt zum 1. Johannesbrief 4,7-12 von Matthias Loerbroks
4,7-12

Ein Experiment – Predigt zum 1. Johannesbrief 4,7-12 von Matthias Loerbroks

Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der/ jede, die liebt, ist aus Gott gezeugt und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe. Darin ist die Liebe unter uns erschienen, dass Gott seinen einzig geborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin besteht die Liebe: nicht wir haben Gott geliebt, sondern er hat uns geliebt und seinen Sohn gesandt: Sühne für unsere Sünden. Geliebte, wenn uns Gott so geliebt hat, sind auch wir schuldig, einander zu lieben. Niemand hat Gott je geschaut. Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollendet.

 

Wie lässt sich Gott erkennen? Woher wissen wir überhaupt von ihm? Woher nehmen wir die Gewissheit, von ihm zu reden, zu singen und zu erzählen? Wie können wir wissen, dass wir da nicht bloß von unseren eigenen Wünschen oder Ängsten reden?

Niemand hat Gott je gesehen, stellt unser Briefschreiber lakonisch fest. Was wissen wir dann von ihm? Und zwar mit Gewissheit?

Eine verbreitete, etwas zynische Weisheit behauptet: Liebe macht blind.
Johannes ist vom Gegenteil überzeugt: Wer liebt, erkennt Gott. Wer nicht liebt, erkennt Gott nicht. Für ihn, für die ganze Bibel, folgt nicht das richtige Tun, die Liebe, aus der wahren Erkenntnis, aus dem Glauben, aus der Gotteserkenntnis. Sondern umgekehrt: Wer liebt, erkennt Gott. Gotteserkenntnis ist keine Frage der Theorie, sondern der Praxis.

Niemand hat Gott je geschaut. Aus dieser vielleicht bedauerlichen, jedenfalls unbestreitbaren Tatsache hat ein bekannter Theologe geschlossen: Wie Gott wirklich ist, was sein Wesen ist, das können wir Menschen nicht erkennen. Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut. Die Bibel geht da noch einen Schritt weiter: Nicht nur in dem, was er an uns tut, lernen wir Gott kennen, sondern auch, indem wir versuchen, das zu tun, was er von uns möchte.

Die Bibel hat schon immer gewusst, was der historische Materialismus meinte, entdeckt zu haben: Dass unsere Erfahrungen uns viel stärker prägen und beeinflussen als Ideen und Ideale. Und zwar nicht nur die Erfahrungen, die wir passiv machen, weil wir gar keine Wahl haben, sondern erst recht die, die wir erst dann machen, wenn wir aktiv werden.

Der Prophet Hosea fasst seine Kritik an der herrschenden Praxis zusammen mit den Worten: Es ist keine Treue, keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land. Das hängt für ihn zusammen, ist fast dasselbe: Treue und Liebe und Gotteserkenntnis. Und entsprechend beschreibt er den Mangel an Gotteserkenntnis: Fluchen, Lügen, Morden, Stehlen. Unsere Praxis als Einzelne wie als Gesellschaft im Ganzen öffnet uns oder verschließt uns für die Erkenntnis Gottes. Der Prophet hat ein Wort Gottes gehört und weitergesagt, das später auch ein Lieblingswort Jesu wurde: Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer (Hos 6,6). Auch in diesem Wort hängt Gotteserkenntnis mit Liebe zusammen, nicht mit Opfer, also nicht mit Religion. Wie eng für die Bibel Erkenntnis und Liebe verbunden sind, zeigt sich auch daran, dass „jemanden erkennen“ der biblische Ausdruck für miteinander schlafen ist.

Weil Gotteserkenntnis eine Frage der Praxis ist, nicht der Theorie, darum werden wir heute zu einem praktischen Experiment aufgefordert: „Geliebte", nämlich „von Gott geliebte“, „lasst uns einander lieben“. Dann werden wir was erleben, Erfahrungen machen, Erfahrungen mit Gott. Wir werden von ihm was mitkriegen. Was wir dann erleben, lässt sich nicht im Vorhinein theoretisch klären. Wir müssen erst in seine Nähe geraten. Und das tun wir, wenn wir einander lieben. Denn diese Praxis entspricht seiner Praxis. Das ist seine Art, auf die Welt zuzugehen, sie zu verändern. Wer sich ihm da anschließt, wird von ihm geprägt, wird ein Kind Gottes, ist von ihm gezeugt – wird also ihm ähnlich. Denn die Liebe kommt von ihm. Gott ist Liebe.

Aber woher weiß der Briefschreiber das alles? Woher weiß er, dass wir von Gott geliebte sind? Woher weiß er, dass dieses Lieben geradezu Gott selbst ist, dass er gar nicht anders kann als zu lieben?, Woher weiß er: wenn wir uns auf diese riskante Praxis einlassen, Gott kennen zu lernen, riskieren wir eigentlich gar nichts? Auch er hat ja Gott nicht geschaut, traut sich aber trotzdem zu sagen, wie Gott ist: Gott ist Liebe.

Darauf antwortet er: Die Liebe Gottes ist erschienen, also aufgeleuchtet, deutlich, klar und hell erkennbar geworden, als Gott seinen Sohn in die Welt hinein sandte, mitten hinein in eine verkehrte Welt, eine Welt, die – Religion hin oder her – von Gott und seinem Volk nichts wissen will und auch tatsächlich nichts weiß. Auch Jesus ist auf Ablehnung gestoßen, scheint den Mächtigen, sogar so gefährlich und bedrohlich erschienen zu sein, dass sie ihn umgebracht haben. Und dieser Tod schien ja zu beweisen, was wir schon ahnten: Dass Liebe zum Scheitern verurteilt ist, Frieden und Gerechtigkeit, Sozialismus, Solidarität nun eben nicht möglich sind, sondern ein blauäugiger Wunschtraum, der an der harten Realität zerbricht.

Aber gerade Jesus hat vielen eingeleuchtet. Er hat gezeigt, wer Gott ist und wie er ist. In seinen Worten und Taten wird deutlich, was es heißt, dass Gott Liebe ist.
Es bedeutet jedenfalls nicht, dass hier die Liebe überschwänglich zum Gott erklärt wird, dass Gott ein feierlicher Ausdruck für unsere höheren Gefühle, sozusagen für unsere bessere Hälfte wird.
Es bedeutet auch nicht, dass Gott im harmlosen Sinn immer lieb ist, der liebe Gott. Jesus hat gezeigt, dass Gottes Liebe ein Angriff ist auf eine verkehrte Welt, dass er dafür kämpft, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen Menschen bedrückt und gedemütigt werden. Dass seine Liebe die Grenzen überwindet und sprengt, mit denen wir uns gegeneinander und gegen Gott abschotten. Eine unserem Brief eng verwandte Schrift, das Johannesevangelium, stellt ebenfalls fest, dass niemand Gott je geschaut hat, und fährt fort: Allein in seinem Sohn hat Gott sich gezeigt. So wie sich Gott in Jesus gezeigt hat, so ist er auch. Was er tut und was er uns zu tun gebietet, zeigt uns, wie er ist.

 Die Liebe, zu der er uns verlocken und verführen will, besteht nicht darin, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat. Sogar seine Ablehnung und Zurückweisung durch Menschen, den Tod Jesu, hat er dazu benutzt, um uns zu befreien. Wenn wir Abendmahl feiern, dann tun wir das zu seinem Gedächtnis. Wir verkünden den Tod des Herrn, aber nicht als Trauerfeier, sondern als unsere Befreiung zur Gemeinschaft untereinander, als Befreiung zur Solidarität. Um lieben zu können, muss man erst Liebe erfahren haben. Wir müssen erst befreit werden von unserem Kreisen-um-uns-selbst, unserer Angst, zu kurz zu kommen, unterzugehen, von unserem Hang, uns selbst und andere zu zerstören.

Auch wenn unser Briefschreiber alle Initiative Gott zuschreibt, betont er doch, dass Gott auch uns braucht. Wie jede Liebe hofft auch die Liebe Gottes auf Erwiderung. Und seine Liebe besteht ja gerade darin, nicht ohne uns, sondern Gott mit uns sein zu wollen. So wird uns nicht nur versprochen, dass Gott in uns bleibt, wenn wir einander lieben. Johannes sagt sogar: Erst in uns wird die Liebe Gottes ganz, vollkommen, kommt sie zum Ziel. Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und ich bin Gott, heißt es im Buch Jesaja (Jes  43,10). In jüdischer Auslegung wird der Zusammenhang zwischen beiden Aussagen ganz eng verstanden: Wenn ihr meine Zeugen seid, bin ich Gott. Wenn ihr nicht meine Zeugen seid, bin ich nicht Gott.

Es kann sein, dass wir so wenig von Gott mitkriegen, wenig Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung haben, weil wir zu wenig oder zu selten das Experiment wagen, das uns Johannes heute vorschlägt: Wartet nicht ab bis euch theoretisch alles klar ist mit Gott. Versucht einfach praktisch das zu tun, was er sagt. Dann werdet ihr was erleben, Erfahrungen machen, nicht nur mit euch selbst und untereinander, auch mit Gott. Ihr werdet ihn kennen lernen.
Amen.