Ein Jahr des Herrn - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Karin Latour
4,16-21

Ein Jahr des Herrn - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Karin Latour

Ein Jahr des Herrn

Liebe Gemeinde am Neujahrstag 2015,

Wir kennen alle dieses Bild aus dem Lebensmittelgeschäft: Da stehen Kinder, manchmal auch Erwachsene vor dem Stand mit den bunten Überraschungseiern.
Sie nehmen eines in die Hand und schütteln es nahe am Ohr, sie wiegen es in der rechten Hand, schütteln es wieder, testen ein anderes in eben derselben Weise, vielleicht noch eins, bis sie sich entscheiden. Nein, sehen können sie nicht was darinnen ist, aber es ist als könne ihr Hineinhorchen den Inhalt offenbaren: Bunte Spielzeugfiguren oder kleine Plastikteile, aus denen man irgendetwas zusammensetzen kann mit viel Geschick und Geduld. Die Erwartung beim Öffnen ist groß- manchmal dann aber auch die Enttäuschung.

So ein bisschen mag es uns heute am 1. Tag des neuen Jahres gehen wie den Kindern. Sehen können wir noch nicht was vor uns liegt- aber wir wüssten es  schon ganz gerne. Vielleicht möchten wir es gerne ein wenig schütteln, das Neue Jahr, und horchen- vorsichtig und erwartungsvoll- was mag es uns bringen, neugierig auf das, was kommt. Manche aber vielleicht auch ängstlich. Denn anders als beim bunten Spielzeug unserer Kinder im Überraschungsei ist Tauschhandel ausgeschlossen. Wir können das, was uns erwartet nicht ins Sammelbord stellen oder bei Nichtgefallen in den Abfalleimer werfen. Was da in diesem neuen Jahr für uns drin ist - es wird uns begleiten, wird Teil unseres Lebens werden.

Bleiben wir gesund?
Werden wir einander am Jahresende noch haben dürfen?
Behalte ich meine Arbeitsstelle?
Finden die Kinder Arbeit?
Kann ich alleine und selbstständig in meiner Wohnung bleiben oder muss ich in ein Heim?
Natürlich haben wir auch Pläne, Wünsche, Projekte für das gerade angebrochene Jahr. Wir freuen uns auch auf bevorstehende Ereignisse.
Aber da sind eben auch viele Fragen und Unsicherheiten im Raum, wenn wir in Gedanken durch das neue Jahr wandern, das vor uns liegt.
Im ganz Persönlichen und auch im Großen:

Gibt es ein Ende der unzähligen Konflikte und Kriege?
Kommen neue Konflikte hinzu?
Wie wird es weitergehen mit all den unzähligen Menschen, die überall auf der Welt auf der Flucht sind?
Welche Katastrophen werden die Menschen in diesem Jahr heimsuchen?
Not und Armut, die das Leben und die Zukunft vieler ganz persönlich bedrohen und in Frage stellen.
Ängste und Sorgen, wenn wir an die Zukunft des Landes und der Welt denken.

Vielleicht sind wir darum heute hier zusammengekommen, weil wir nach einem Wort suchen, das uns Halt gibt und Orientierung, etwas, das man mit hineinnehmen könnte in den Alltag um sich daran festzuhalten, um klar zu sehen, um getrost und fröhlich wie die Kinder in das neue Jahr zu ziehen. Nein, nicht naiv, nicht die Augen vor dem verschließend , was um uns ist, aber doch mit der Gewissheit: wir sind ja nicht allein, in dem, was kommt, sondern haben einen Herrn, der uns Wegweisung gibt und Trost, Kraft und Mut heute, an der Schwelle des Neuen Jahres.
Und es ist tatsächlich ein Wort des Anfangs, das über unserem Neujahrstag 2015 steht. Ein Wort mit dem eine neue Zeit beginnen soll.  

Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei sein und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“
Und als er das Buch zutat, gab er es dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ (Lukas 4,16-21)

Jesu Antrittspredigt, so werden diese Worte auch genannt. Und der Evangelist Lukas nimmt uns mit in jene Synagoge in Nazareth.
Wir können förmlich sehen wie Jesus aufsteht, die Schriftrolle nimmt. Ob die Stelle zufällig war? Ob er sie bewusst ausgewählt hatte? Ob sie an jenem Sabbat „dran“ war so wie unsere Losungen oder Lesungstexte?
Wir wissen es nicht, aber Jesus liest dieses Wort aus dem Buch des Jesaja.
Er liest die wahrscheinlich sehr bekannten Worte des Propheten, die von der Hoffnung sprechen auf einen, der kommt und mit dem eine neue Zeit beginnt.
Ein Jubeljahr, ein Gnadenjahr, wie es nach der Thora alle 49 Jahre gehalten werden sollte, in dem Schulden erlassen und Gefangene in ihre Heimat zurückkehren sollen. Ein Erlassjahr, ein Jahr der Freude in jeder Hinsicht. Und seit Jesaja war diese Hoffnung nicht mit einem bestimmten Jahr verknüpft, sondern: alle Ungerechtigkeit und alles Leid sollte ein Ende haben, wenn ER kommt. Der Messias. 
In der Synagoge waren nun alle Augen auf Jesus gerichtet. Es ist als könnten wir eine Stecknadel fallen hören! Und Jesus sagt: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor Euren Ohren!“

Liebe Gemeinde,

wie Jesu Hörer damals vor allem diesen letzten Satz gehört haben? Dem anfänglichen Beifall und der Anerkennung folgt innerhalb weniger Verse bei Lukas die Ablehnung durch seine Hörer in der Synagoge, ja, die ersten Gedanken:  Dieser Jesus muss weg. Und sie werfen ihn aus dem Ort.
Wie wir diese Worte hören?
Ja, sie stehen im Lukasevangelium zu Beginn der Wirksamkeit und des öffentlichen Auftretens Jesu.
Und wir, beinahe 2000 Jahre später, hören und haben vor Augen all diese Geschichten von ihm, seine  Predigten, die Wunder und die Menschen, denen er zugewandt war.
In diesen Worten, die Jesus aus Jesaja liest, hören wir verdichtet sozusagen seinen Weg, den wir vielleicht von Kindesbeinen aus all den bibl. Geschichten kennen. Wir hören in diesen Worten seine Sendung, das wofür er steht, woher er kommt und warum, von wem er kommt und wozu. Am Anfang sein „Programm“.
Mit ihm beginnt eine neue Zeit.

Liebe Gemeinde,
hat wirklich eine neue Zeit begonnen?
Und wie sieht diese Zeit aus?
Wartet die Welt nicht immer noch, dass es endlich besser, gerechter, friedlicher zugehe? Wartet sie nicht immer noch so wie zu Jesajas Zeit, zu Jesu Zeit, zu allen Zeiten? Oder haben wir das Warten aufgegeben?
Wo ist das Gnadenjahr, das Jubeljahr? „Seht die gute Zeit ist nah“, haben wir vor wenigen Tagen gesungen! Aber wo ist sie?
Unsere Flüchtlingsheime sind über und übervoll, weil immer mehr Menschen weltweit auf der Flucht sind, auf der Flucht sein müssen! Gewalt und Terror haben nicht aufgehört, sondern wuchern an immer neuen Stellen und präsentieren sich mit immer neuen schrecklichen Gesichtern und Methoden.
Armut, Hunger, Krankheiten, nein, ich will nicht alles noch einmal aufzählen, worunter diese Welt auch im Jahr 2015 leidet.
Wo, Jesus, ist dieses Wort erfüllt vor unseren Ohren?

Da ist es erfüllt vor unseren Ohren, wo wir, wo Menschen es eingelassen haben. Wo Menschen es angenommen haben. Wo diese Worte konkrete Konsequenzen  haben.
Bei Jesus selbst, der sich – so wie er es versprochen hat- der Armen, der Blinden, der Zerschlagenen, der Schwachen und Kleinen angenommen hat, gepredigt und sie  in der Begegnung verändert hat.
Und in seinen Worten, ist es nicht so, trifft er nicht nur unsere Sehnsucht nach Heilwerden und Frieden und Gerechtigkeit, in der das Kleine und Schwache einen Platz haben darf- er lebte die Erfüllung vor. Es waren nicht leere Versprechungen, sondern tatsächlich der Anfang von etwas ganz Großem,
Neuem.
Nein, die Welt hatte sich auch mit seinem Kommen nicht von einer Stunde zur anderen verändert, schlagartig, aber eine andere Sicht des Lebens wurde möglich und hat mit ihm begonnen.
Seine Worte, ja, sie treffen unsere menschliche Sehnsucht – und halten sie wach und verändern  Menschen und bewegen und verwandeln. Und halten auch den Glauben wach, dass es nicht nur Sehnsucht bleibt, sondern, dass sie Wirklichkeit werden.
Ich habe in diesem Jahr, nein eigentlich in meinem ganzen Leben so viele Menschen gesehen, die sich nicht abfinden mit Not, Ungerechtigkeit und Leid, die nicht sagen: „Kann man nichts machen- ist halt so“, sondern die sich von Jesus im wahrsten Sinne des Wortes „anstecken“ lassen.
Sie gehen in Flüchtlingsheime, sammeln  Geld und Kleidung, besuchen Kranke und Alte, bleiben bei Sterbenden, begegnen Menschen ohne Unterkunft und Einkommen in Würde und lindern Not, setzen sich ein für den Frieden im Großen und im Kleinen…Beispiele so vieler engagierter und meist absolut bescheiden und unspektakulär helfender Menschen, für die Jesu Worte - wenn auch im Kleinen, an ihrem vielleicht bescheidenen Ort „Programm“ sind.
Nein, durch Jesu Kommen in unsere Welt hat sie sich nicht schlagartig weltpolitisch geändert.  Aber da, wo Menschen sich haben von Jesu Worten verändern lassen, wo sie nicht aufhören daran zu glauben, dass es eine andere Sprache gibt als Gewalt und Egoismus und das Recht des Stärkeren, da wo wir daran festhalten, dass den Armen das Evangelium gepredigt wird … da hat diese neue Zeit, diese andere Zeit begonnen.

In diesem Jahr im Advent gab es für mich einen Moment, den ich nicht vergesse.
Eigentlich nur eine unscheinbare kleine Szene, die für mich aber ein wunderbares Bild geworden ist:
Menschen der Gemeinde hatten in das Übergangsflüchtlingsheim im Wald in Stenden Plätzchen und Tee, Lichterketten und Adventsschmuck geschleppt. Sie kamen mit Instrumenten und Liedern- christlichen Liedern und Winterliedern um den Flüchtlingen einen Nachmittag zu schenken- nicht nur Kleider und Schuhe und Spielzeug, sondern auch Musik und etwas von unserem Advent und der Gewissheit: „Ihr seid uns nicht egal. Wir sehen Euch und heißen Euch willkommen.“
Der ganze große ehemals kahle Raum war gefüllt mit Flüchtlingen, die erwartungsvoll da saßen. Erwachsene, auch viele Kinder. Und als sie notdürftig an einen wackligen Notenständer einen elektrischen Stern hängten und ihn erleuchteten, direkt vor den Augen eines kleinen Flüchtlingsmädchen, da ging ein „Oh“ durch diesen Raum, ein „Oh“ des Entzückens, des Erstaunens, des sich Freuens…Ein Strahlen in den Augen als hätte dieses Mädchen nie ein größeres Wunder gesehen!

Nein, natürlich hat dieses Kind nicht nur eine Odyssee hinter sich sondern vermutlich mit seiner Familie auch noch vor sich.
Aber da gibt es die Erfahrung: wir werden gesehen und Menschen begegnen uns freundlich! Diesen Moment, in dem es hell wurde- der wird bleiben.

Liebe Gemeinde, wir stehen am Anfang eines Neuen Jahres-
Eine Menge Herausforderungen kommen auf uns zu und die Fülle dieser Herausforderungen darf nicht dazu führen, dass wir uns ihnen verschließen.
Was die Jahresrückblicke im Dezember 2015 uns zeigen werden wissen wir nicht. Im Großen und im Kleinen.
Ob es ein glückliches Jahr wird, ein Jahr mit Sorgen, ob Katastrophen kommen werden und wenn ja welche, welche Ängste uns und andere Menschen auf diesem Erdenrund bewegen werden, das alles wissen wir nicht.
Wir brauchen das Jahr nicht zu schütteln wie die Kinder das Überraschungsei. Es kommt mit allem, was darin sein wird.
Aber wir haben hineingehorcht. Und haben Jesu Worte gehört, die über unserem Jahr stehen wollen:

- Da, wo Armen die gute Botschaft gepredigt wird, Menschen sich der Kleinen und Schwachen annehmen, wo Trauernde nicht alleingelassen werden, Sterbende begleitet, Fremde aufgenommen, Hungernde gesättigt werden, Kranken geholfen wird  …da wo Menschen in Not wahrgenommen werden, wir für sie beten und mit unserer Zeit und unserem Geld, wie der EKD Ratsvorsitzende in seiner Weihnachtspredigt dieses Jahres schrieb,  zur Überwindung der Not beitragen und uns öffentlich einsetzen, dass die Ursachen der Not bekämpft werden- bricht da nicht eine neue Zeit an, eine andere, eine die nicht nur Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit ist, sondern in der zumindest teilweise, ein kleines Stück Erfüllung erfahren werden kann.

Jesus hat uns gesagt, wer er ist, woher er kommt und wie sein Weg ist.
Ganz klar hat er es gesagt, ganz deutlich, ganz unmissverständlich.
Und wir dürfen dieses Wort mitnehmen in unser Neues Jahr. Und dürfen sagen: er meint auch uns. Wir dürfen ihm folgen. Uns daran festhalten. Uns trösten lassen und ermutigen.
Wenn ich malen könnte würde ich ein kleines schäbiges Haus malen ganz klein in ganz viel Weite und mit ganz viel Verlorenheit und mit ganz viel Dunkel drum herum und der Sturm der dahinfegt und die Kälte die zittern lässt und die Hoffnungslosigkeit und die Angst und die Sorge und dann würde ich mitten in dieses kleine schäbige Haus mit dem gelbesten Gelb einen Punkt setzen und diesem Bild würde ich den Titel  Du  geben,  Andrea Schwarz hat dieses Verse geschrieben mit dem Titel Heilige Nacht. Ein wunderschönes Bild. (Eigentlich ist Weihnachten ganz anders, S. 113) Für mich ist es aber nicht nur ein Weihnachtsgedicht, sondern auch eines für ein Neues Jahr.
Jesu Wort und sein Licht mögen uns und unsere Welt in diesem Neuen Jahr so begleiten und ihr und uns immer wieder den Weg zeigen, damit wir ihn nicht aus den Augen verlieren.
Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne ein gutes, ein frohes, ein gesegnetes neues Jahr. Ein Jahr des Herrn.

Amen