„Eine Geschichte müsste man erzählen – etwas nie Gehörtes, Predigt zu 1. Timotheus 2,1-6 von Klaus Pantle
2,1-6

„Eine Geschichte müsste man erzählen – etwas nie Gehörtes, Predigt zu 1. Timotheus 2,1-6 von Klaus Pantle

Eine Geschichte müsste man erzählen – etwas nie Gehörtes

1 So ermahne ich euch nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, 2 für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.
3 Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, 4 welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
5 Denn einer ist Gott, und einer ist Mittler zwischen Gott und Menschen,6 der Mensch Christus, der sich zum Lösegeld für alle gab.
Dies ist das Zeugnis zur rechten Zeit.

1

Oft vermeide ich, spätabends Nachrichten zu hören oder morgens vor dem Frühstück die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Ich schütze mich davor, dass mich schlechte Nachrichten überfluten, sie mich schlecht schlafen lassen und mir frühmorgens die Laune verderben. Höre und lese ich, was über die zahllosen Probleme weltweit veröffenticht wird, überfällt mich lähmende Hilflosigkeit. Wenn ich in eine Fernsehdiskussion über aktuelle Krisen und Konflikte gerate, schalte ich um oder aus, weil ich das Gerede schwer ertrage. Und ich denke, nicht einmal ein Messias könnte „alle“ die mehr oder weniger komplexen Probleme lösen, die es gibt. Nicht einmal ein Erlöser wäre imstande, „allen Menschen“ in Not zu helfen. Dafür bräuchte es eine ganze Armada von Supermännern und Superfrauen. Aber die gibt es nur in der Welt der Marvel-Comics oder in amerikanischen Action-Filmen und nicht in der Wirklichkeit.

Was tun? Sich dem Zugriff dramatischer und bestürzender Ereignisse entziehen? Davor fliehen, in den Wald, auf einen Berggipfel oder eine einsame Insel, in die Phantasiewelten der Literatur oder in die Musik? Manchmal braucht man das, solche eskapistischen Fluchten aus dieser Wirklichkeit. Manchmal muss man den Dauerregungsbetrieb um sich herum abschalten und sich der „Diktatur der Kommunikation“ (François Cassingena-Trévedy) entziehen. Aber dauerhaft kann ich die Wirklichkeit, in der ich lebe nicht ausblenden. Ich brauche Strategien, um darin konstruktiv zu leben.

Was tun? Der Predigttext empfiehlt beten. Er legt seinen ursprünglichen Adressaten, die gewiss auch in einer Welt voller Ungerechtigkeit und Gewalt lebten „Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung“ nahe und meint damit das Gebet im Gottesdienst. Aber auch das erregt in mir Unwohlsein. „So vielfach ist Gebetssprache verschlissen und kontaminiert. Es geht kaum mehr über die Lippen, dieses „lass uns…“, „Gib uns…“ oder „Guter Vater…“ (Christian Lehnert). Zu oft gesprochen und gehört, zu Phrasen erstarrt, kosten Gebetsworte nichts und ändern nichts. Auch das Gebet kann zum routinierten Umgang mit der Hilflosigkeit werden. Im schlimmsten Fall bleibt es ein Vehikel, Unheil auf Distanz zu halten. Es müsste schon Positives wirken.

Was tun? Beten. Trotzdem. Aber wie? Eskapistisches Ausweichen in die Stille kann immer Sinn machen. Nachdenken, zum Beispiel über die Lektüre eines „Traktats über die Stille“. Vielleicht führt mein Weg nicht durch das Gebet zu einem „ruhigen und stillen Leben“, sondern ich finde umgekehrt über das Verweilen und Nachsinnen in der Stille zu einem wirksamen Beten.

2

„Eine Geschichte müsste man erzählen über etwas nur schwach und unklar, kaum und nur mit Mühe Hörbares. Aus dem Gewirr von Klängen und Geräuschen heraushören, was niemand hört, niemand sieht und niemand fühlt, etwas nie gehörtes, um es anderen zu erzählen. Die Geschichte verbirgt sich im Unhörbaren und Unsichtbaren, sie offenbart sich nur den aufmerksamen Sinnen.

Ich habe solche Sinne. Ich bin das Ohr und höre ständig, höre vollkommen, was kaum hörbar ist. Ich bin das Auge, das alles sieht.“

Dragan Velikić erzählt in seinem „Traktat über die Stille“ von seinem Weg in die Stille. Der führt ihn zu einer ganz und gar aufmerksamen Haltung, zu einem unerhört tiefen Hören und Sehen. Darin gelingt ihm ein unmittelbares Eintauchen in die Wirklichkeit und er gelangt zu einem tiefen empathischen Wahrnehmen dessen, was ist.

„Ich habe solche Sinne. Ich bin das Ohr und höre ständig, höre vollkommen, was kaum hörbar ist. Ich bin das Auge, das alles sieht.“

Mit diesen Sinnen, so schreibt er weiter, durchdringt er den Raum – zuerst vertikal: er hört im Zimmer über sich den Körper seines schlafenden Sohnes atmen; er hört das Niederfliegen der Vögel aufs Dach; er hört die Bewegung der Wolke hoch darüber, ja sogar die Stille des Alls.

Dann durchdringt er den Raum horizontal, sieht den Passanten auf der Straße nach seinem Schal greifen; er sieht und fühlt, wie sich in einem weit entfernten Haus, in dem er nie war, die Nägel einer Hand ins Betttuch krallen. Und er hört, wie weit oben im Norden das Fell eines Rentiers die Rinde eines Baumstammes streift.

Er dringt vor in die Zeit, hört durch den Alltagslärm seiner Gegenwart Geschehnisse der Vergangenheit: den Klang des Schnees, der das Dach einer Baracke von Auschwitz berührt, den Klang von Vermeers Pinsel, das Kratzen der Feder von Montaigne, den Schrei einer Frau im Traume Neros.

Er folgt den Eroberern bei ihren Raubzügen durch fremde Kontinente, in Welten und Zeiten voller Bosheit, Neid und Angst. Im Geiste bewegt er sich wieder zurück in sein eigenes Land, Serbien, in das zum Hotel umgebaute ehemalige Gefängnis in der Nachbarschaft, unter dessen Luxusrenovierung er Blutspuren sieht und in dessen Luxus-Apartments er die Schreie der ehemaligen Gefangenen hört.

Zum Benennen all dessen, was er gesehen und gehört hat, zur Geschichte, die man erzählen kann, ist es danach nur ein Schritt.  Wenn ich die Stille suche und darin ganz Auge und ganz Ohr bin, werde ich solches und anderes auch so wahrnehmen. Dann finde ich Geschichten und kann sie erzählen, wahre, wirkliche Geschichten.

„Ich kehre zu mir zurück, höre, wie sich an den Wänden meiner Blutgefäße das Fett ansammelt, sehe, wie sich mein Nierenstein bewegt, höre, wie Säure die Magenwände zerfrisst, höre auch, wie mein Samen gärt, frage mich, ob der penetrante Klang meinen Sohn aufwecken wird, lausche, beruhige mich, mein Sohn atmet gleichmäßig, das eine oder andere Jahr noch. … (Ich belausche alle Klänge), belausche den Klang meines Gehirns, höre, dass sich die Gehirnrinde deutlich hörbar faltet, dieses Sichfalten aber klingt wie ein Geheul von Widerstand wider all diese Klänge die es hört und die es wahnsinnig machen.“

Dragan Velikić beschreibt die Wahrnehmung seiner Selbst, seiner verletzbaren Leiblichkeit. Er schildert, wie er sich seines Geistes bewusst ist, der viel erfassen und manches davon kaum ertragen kann. Er erzählt, was seine Seele spürt, seine Seele, die sich öffnet und auf der Suche ist nach neuen, nie gehörten und nie gesehenen Geschichten: Heilsgeschichten, Versöhnungsgeschichten, Geschichten, die erzählen von Rettung – Rettung für unsere Welt, Rettung „für alle“!

Die Stille, die er sucht, die „Stille Gottes“, wie er sie nennt, die Stille, die er braucht, um die guten, die neuen, die unbekannten und nie gehörten Geschichten zu sehen und zu hören und dann erzählen zu können, diese Stille findet er nicht. Was er findet, sind Geschichten des Leids, der Zerstörung und des Todes.

3

Gibt es ein Beten, das mit solcher Wahrnehmung in der Stille beginnt und das Gehörte und Gesehene so zulässt und aufnimmt, ohne ihm auszuweichen? Solches Beten müsste über diese Phase der Wahrnehmung hinausgehen. Es müsste durch eine weitere Phase ergänzt werden, durch etwas, das über das Vorfindliche hinausführt und das Wahrgenommene überschreitet. Ich müsste darüber hinaus in Verbindung kommen mit einer Kraftquelle, die mir hilft, dem, was ich wahrnehme, mindestens standzuhalten. Diese Kraftquelle müsste mich aufladen mit Energie. Ja mehr noch: sie müsste mir helfen, dem, was ich wahrnehme, Positives entgegenzusetzen. Sie müsste mir helfen neue, andere, gute, bisher ungehörte und ungesehene Geschichten zu finden und in diese Geschichten hineinzugeraten. Aus den Geschichten von Zerstörung, Leid und Tod würden im Idealfall Geschichten von Rettung und Heil, Geschichten von Erlösung und Leben. Dazu bräuchte es eine andere Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, der wir uns mit und in dem Wahrgenommenen zuwenden können und in die wir mit allem, was wir sind und erfahren, hineingeraten können. Es gibt einen „Mittler“, der diese beiden Wirklichkeiten verbindet, der beide kennt und den Weg aus der einen in die andere offen hält. Zum Beispiel indem er uns eine Art zu Beten lehrt, die mehr ist als ein mechanisches Rezitieren von Floskeln. Es geht um ein Beten, das eine Lebenshaltung ist:

Vater unser im Himmel…

Ich wende meinen Blick nach oben und nehme Kontakt auf mit dieser Wirklichkeit, die meinen Horizont wie meine Ich-Grenzen übersteigt. Ich wende mich einem Gegenüber zu, einer Instanz in und außerhalb von mir selbst – und erfahre die Gegenwart dieses Gegenübers (oft noch bevor ich sie rufe) – wie auch seine Abwesenheit und Unerreichbarkeit (obwohl ich ihn rufe). Aber ich gehe davon aus, dass ich in jedem Wort, in jeder Tat, in jedem Gedanken und Gedenken, in jeder Bitte und in jeder Klage auf diese Wirklichkeit bezogen bin – dass alles auf ihn hinläuft, weil er der Urgrund und Abgrund meines Lebens ist.

Geheiligt werde dein Name...

Ich ende nicht in der Anbetung – ich beginne damit. Im bewussten Hören und Nachsprechen geschieht schon Verwandlung.  Energetische Aufladung, die Aufsprengung meines Lebenshorizontes werden erfahrbar. Ich gerate hinein in ein Empfinden, als würde ich „schwingen in einer Resonanz, deren Grund mir gar nicht verfügbar ist, zu vibrieren mit den Stimmen all derer, die vor mir waren, ja, mit ‚himmlischen Mächten’ … Unabhängig von allem was ich sagen kann, besser: durch alles hindurch, was ich sagen kann, ist eine andere Aktivität am Werk“ (Christian Lehnert).

Ich nehme wahr, was ist: die Welt und ihre Menschen wie mich selbst. Und versenke all meine Geschichten der Zerstörung, des Leids und des Todes in den Urgrund des Seins. Ich versenke sie, wie ich mich selbst dort hinein fallen lasse. Und vergesse mich – wenigstens für den Moment. Ich spreche nicht mehr meine Schwierigkeiten und Wünsche aus. Vielmehr versenke ich mich in die Wirklichkeit, die trotz aller Schwierigkeiten das Ziel meines Lebens ist. Dieses Ziel liegt jenseits des Vorfindlichen. Es liegt weit über dem Hier und Jetzt hinaus.

Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden...

Das Ziel unseres Lebens liegt in einer Welt jenseits von Gut und Böse. In einer Welt, die ist und nicht ist, die erspürt und erfahren wurde, die gesehen und herbei gesehnt wird. Das Ziel unseres Lebens ist die Wirklichkeit, in der „Gott abwischen wird alle Tränen von ihren Augen, und der Tod  nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Offenbarung 21, 4). Das ist die „Wahrheit“.

„Eine Geschichte müsste man erzählen über etwas nur schwach und unklar, kaum und nur mit Mühe Hörbares. Aus dem Gewirr von Klängen und Geräuschen heraushören, was niemand hört, niemand sieht und niemand fühlt, etwas nie gehörtes, um es anderen zu erzählen. Die Geschichte verbirgt sich im Unhörbaren und Unsichtbaren, sie offenbart sich nur den aufmerksamen Sinnen“  - und dem Glauben. Sie offenbart sich im unbedingten Vertrauen in die Wirkmächtigkeit der Kraft, die will, das ich, dass wir –„alle“! - leben. Und diese Geschichte drängt danach, „allen“ öffentlich! erzählt zu werden.

Literatur:

Dragan Velikić, Traktat über die Stille, Lettre International Heft 43 (1998), S. 95

François Cassingena-Trévedy, Götterdämmerung. Eine Bestandsaufnahme der Stille, in: Concilium 51. Jg./Heft 5 (2015), S. 523

Christian Lehnert, Miszelle zur Poesie des Gebets, in: 65 Seiten VELKD – Das Magazin, S. 11 (www.velkd.de/publikationen/download) und: Ins Offene. Über Poesie und Gebet, in: Christian Lehnert [Hrsg.], „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen…“ Über die Kunst des öffentlichen Gebets, Leipzig 2014, S. 18