"Erschüttert!", Predigt zu Offenbarung 1, 9-18 von Henning Kiene
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"Erschüttert!", Predigt zu Offenbarung 1, 9-18 von Henning Kiene

Erschüttert!
  
  Liebe Gemeinde,
  
  Winterabend in Hannover. Es regnet, Sturm zieht auf, plötzlich, wie aus heiterem Himmel ein Blitz. Es ist, als teilt der Blitz den Himmel, zerreiße die Nacht. „Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot“, mitten im Winter schloss ich meine Augen, versuchte mich vor dem, was für mich, kleinen Menschen, zu gewaltig ist zu verbergen. Dabei war mein Erschrecken über diesen Blitz aus heiterem Himmel eher oberflächlich, diese gewaltige Spannung, die sich entlud, hat mich im inneren erschüttert. Da wirkten Kräfte, über die kein Mensch gebietet, zweifellos würden die mich überwältigen. Es reicht schon viel weniger aus, als das, was der Seher Johannes zu Augen bekam, um diese Erschütterung zu begreifen, die ihn wie tot zu Boden gehen lässt.
  
  Winterabend in Hannover, letze Woche. Meine Frau, nicht weniger erschrocken als ich, schiebt ihre Hand in meine. „Komm wir gehen nach Hause!“ und der Hund ging so eng an meinem Bein, dass wir drei, von Weitem gesehen, wie eine Gestalt gewirkt haben müssen. Dieses „Fürchte dich nicht!“, das Johannes gehört hat, erreicht mich. Und die Hand, die Johannes, auf seinem leblosen Körper gefühlt hat, die ihn zurückholte in sein Leben, habe ich auch gespürt.
  
  Die ganz große Szene, die Johannes ganz am Anfang seines Wirkens als Seher vor Augen gestellt wird, wird von einer ganz kleinen, fast übersehenen Geste kontrastiert: Der Menschensohn, der eben noch blendete wie die Sonne, berührt ihn mit der rechten Hand an seiner Schulter. Dem blendenden Strahlen, der auch physischen Hitze der Szene, die er sieht, tritt die leichte, fast zärtliche Berührung gegenüber. Nach solcher Geste sehnen sich viele Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – zu Boden gegangen sind. In Erschütterungen sanft berührt zu werden, ist ein Geschenk des Himmels.
  
  Wessen Hand war es, die sich behutsam in die meine schob? Es war nicht meine eigene.
  
  Wessen Stimme sprach wirklich, als die Nachtschwester auf der II. chirurgischen Abteilung, die ihrer Patientin „Fürchte dich nicht!“ sagte? Es war, als kämen diese Worte aus der Ferne und doch erreichten sie das Herz, und verbreiteten von innen heraus Wärme.
  
  Und die Stimme, die eben noch wie das vom Sturm aufgewühlte Meer tobte, sagt zärtlich das alte Wort: „Fürchte dich nicht!“ Hundertfach hat Gott diese drei Worte gesagt. Nun wirken sie ein Wunder. Es richtet einen tief erschrockenen Menschen auf. Es wirkt gewiss auch, weil es sich so wohltuend absetzt von diesen Bildern, die sich kaum erklären lassen und die Lautstärke, die von nichts zu übertreffen ist, in den Flüsterton zu versetzen scheint.
  
  Statt den Himmels noch weiter zu öffnen und den Einblick zu vertiefen und die Bilder und deren Kraft noch stärker wirken zu lassen, macht er sich plötzlich mit eher leisen, schon lange bekannten und hochwirksamen Worten und einer zarten Berührung verständlich.
  
  Vielleicht ist es das Spiel mit solchen Kontrasten, das die Johannesapokalypse bewusst einsetzt, um ihre Trostbotschaft schon im ersten Kapitel anzudeuten. Von Anfang an wird die Trostdimension Schritt für Schritt immer sichtbar. Statt mit einem Angstbuch voller apokalyptischer Bilder und Texte anzutreten, schreibt Johannes ein Trostbuch. Seine Botschaft wirkt wie die Hand, die sich in einer Gewitternacht sanft in die meine schiebt, es ist wie eine vorsichtige Berührung an meiner Schulter, die mich aus dem Erschrecken heraushebt.
  
  Die Johannesapokalypse, die Offenbarung des Johannes, ist ein „Fürchte dich nicht!“-Buch in der Bibel. Johannes predigt für das Leben, tritt an gegen den Untergang. Denn die Offenbarung des Johannes weiß, dass Jesus lebt. Denen, die meinen, das Jahr 2012 sei ein Jahr des Unterganges, weil im Kino der Film zum Jahr „2012“ lief, irrt. Jedes Untergangsszenario, das mit der Jahreszahl 2012 verbunden wird, muss eine dreifache Prüfung durchlaufen. Wenn es zuerst (1.) sagt, das Jesus lebt, dann ist es ein christliches Szenario, wenn dann auch (2.) das Wort „Fürchte dich nicht“ in im vorkommt und schließlich (3.) eine aufrichtende Geste in sich birgt, dann verdient das Szenario christlich genannt zu werden. Werden diese drei Prüfungen bestanden sind, dann ist christlich verstandene Apokalypse nicht Untergang, auch nicht Weltuntergang, sondern ein Übergang. Denn Apokalypse muss nicht automatisch vom letzten Ende allen Leben in Wasserfluten, Datenwolken oder hochtoxischen Atomwolken sein, sondern es ist ein Beginn.
  
  II.
  
  Es gibt unzählige Bilder, die einem den Glauben und gemeinsam mit dem persönlichen Glauben auch das ganze Leben an Grenzen heran führen, sie auch überschreiten. Es gibt Angstbilder. Mit ihnen setzt das Erschrecken ein. Ich sehe nicht nur den Himmel, der von Blitzen nahezu zerrissen wird. Es gibt auch ein Entsetzen, das sich niemals begrenzen lässt und das auch in der Offenbarung Bibel nicht vorkommt. Weil es gegen Gott steht.
  
  Ein Beispiel: Vor 70 Jahren beschloss die Wannseekonferenz den Mord an den Juden in Deutschland und Europa und zielte durch den Massenmord auf die ganze Menschheit. Als am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager in Auschwitz befreit wurde, war der Völkermord so weit getrieben worden, dass man zum Beispiel in Hannover von einem Wiederaufbau der Synagoge in der Calenberger Neustadt absah. Es gab keine jüdische Bevölkerung mehr, die eine große Synagoge rechtfertigte. „Wie sollen wir je wieder gregorianisch singen“, meinten viele Christen. Unglaube legte sich nah. Wenn ich das Ortsschild mit dem Namen „Bergen-Belsen“ lese, durchfährt mich immer noch ein Schreck. Anne Frank liegt in einem der Massengräber.
  
  Wenn wir in unserem Land je wieder auf die Beine gekommen sind, dann wirken auch hier fernab jeder biblischen Apokalypse diese drei Komponenten mit. Es gab (1.) eine Gemeinschaft der Kirchen in Europa, die sind unseren Vorväter und Mütter in der Zeit ihrer großen Schuld und seelischen Not mit einer Geste das Vertrauen begegnet. Die Geste hieß „Buße ist möglich“, denn es brauchte einen schweren Weg durch die Buße. Das Wort (2.) „Fürchte dich nicht!“ ermutigte viele beherzte Menschen, sich der eigenen Schuld wirklich mit aufrechter Trauer über sich selbst und über das Land, in dem wir heute leben, zu stellen. Die Botschaft (3.) „Jesus lebt“ war, das ist das Wunder, das ich immer am 27. Januar wieder spüre, auch von dem verschuldeten Massentot nicht verdeckt worden.  
  
  Lassen Sie uns heute auf diese Nahtstelle zwischen den grellen Bildern, die wie ein hart geschnittener Film wirken und den sanften Momenten achten. Da ist ein Switch, der von den riesigen Szenen und gewaltigen Worten und auch von dem Ballast, den man schuldhaft auf sich laden kann, zu den zarten Berührungen und den leisen, versöhnenden Tönen umstellt. Wie der Kniefall von Willy Brandt in Auschwitz und die Rede des damaligen Bundespräsidenten von Weizäcker mit Worten und Gesten, die Grundstimmung in uns und unserem Land neu stellen konnten. .
  
  Aber auch ohne diese heute belastende Erinnerung, die uns in der vergangenen Woche in den Kalender geschrieben ist, an den bürokratisch exakt ausgeführten Massenmord an Millionen Juden: Ich denke, diese Nahtstelle zwischen dem fast Unerträglichen und dem Leben aus einem nicht vorstellbarem Trost, kennen Sie genauso gut wie ich. Da gibt es einen Moment, in dem einen mitten in aller Unsicherheit, die es im Leben gibt, ein verlässliches Wort Gottes erreicht. Wenn sich eine Hand in die eigene schiebt und man sieht, dass die erschütternden Momenten, die einen zu Boden gehen lassen, von einer aufbauende Geste aufgefangen werden.
  
  Es gibt Gotteserfahrungen, die beginnen mit ganz tief wirkenden Erschütterungen. Die werden später aber nicht umgedeutet in ein: „war doch nicht so gemeint“. Erschütternde Bilder helfen auch zum Leben. Joachim Gauck schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Licht lässt uns sehen – auch die Dinge, die in uns geschehen. Vielleicht so: Ich nehme das Dunkel ernst, ich halte diese Sehnsucht am Leben, schlucke sie nicht hinunter. Denn ich muss aushalten, was quält, sonst entdecke ich die Sehnsucht nicht. Und ich will mich sehnen, sonst finde ich die Hoffnung nicht.“  (1)
  
  Johannes spielt mit der Offenbarung nicht mit den Kontrasten, er liefert sich ihnen selber aus. Und ich stelle mir vor, wie er, den Sternenhimmel über der Insel Patmos, auf der er lebt, über sich, von Bildern, die in ihm aufsteigen, umgetrieben, diese kleinen Gesten spürt und Gottes Wort hört: „Fürchte dich nicht!“ Und in der Mitte der Nacht, wenn die Bilder am grellsten sind, ihn eine Hand berührt, die ihn aus dem schweren Schlaf erweckt.
   
Anm. (1): Joachim Gauck, Winter im Sommer - Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009, 3. Auflage, S. 140