Familienfotos – Predigt zu Apg 2,42-47 von Bert Hitzegrad
2,42-47

Familienfotos – Predigt zu Apg 2,42-47 von Bert Hitzegrad

Liebe Gemeinde!

Sie gehören zu unserem Leben dazu. Sie halten wichtige Momente fest, sind greifbare, sichtbare Erinnerungen. Eine Wand im Wohnzimmer ist dafür vorgesehen oder ein Regal im Bücherschrank: Familienfotos. Bilder der Kinder und Enkel, Fotos von Hochzeiten und Ehejubiläen, der Urlaub in Dänemark oder ein Gruppenbild vom Cousinentreffen. Stolz werden sie gezeigt, wenn Besuch kommt. Regelmäßig werden sie betrachtet, um die Erinnerungen wach zu halten. Aber auch immer wieder fällt der Staub darauf, der Staub der Zeit. Dann hilft ein Tuch, um sie wieder ansehnlich zu machen – die Bilder, die von den besonderen Augenblicken im Leben berichten, die Fotos, die ganze Geschichten erzählen. Geschichten von längst vergangenen Zeiten. Lebensgeschichten von Menschen, die verstorben sind. Bilder, die deshalb auch wehmütig machen.

Andere haben einen goldenen Rahmen bekommen. Das alte Schwarz-weiß-Bild aus dem letzten Jahrhundert. Der Name des Fotografen ist eingraviert, dazu die Jahreszahl 1916. In der Mitte sitzen die Urgroßeltern; für das Foto haben sie sich fein angezogen. Dazu die große Kinderschar wie Orgelpfeifen aufgestellt. Die beiden großen sind noch im Ersten Weltkrieg gefallen. Vorne rechts – der kleine Blonde, das ist der Großvater der Familie, der dann auch aus dem Osten flüchten musste und seine Frau in der neuen Heimat fand.

Ein Bild vor langer Zeit. Ein Bild von den Ursprüngen der Familie. Ein Bild im Goldenen Rahmen.

Solch ein Bild zeichnet uns heute auch der Predigttext. Und er wirkt wie mit Gold eingerahmt unter den Bildern der kirchlichen Familiengeschichte. Es ist das Bild einer einladenden, wachsenden und herzlich verbundenen Gemeinschaft in der Geburtsstunde der Christenheit. Vier Szenen stellt uns der heutige Predigttext vor Augen.

Da steht jemand zwischen den vielen Menschen, erhebt seine Hände zum Himmel und scheint das Wort an die Zuhörer zu richten. „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel.”(V. 42) Petrus und die weiteren Apostel berichten von dem, was sie in der Gegenwart Jesu Christi erfahren haben. Sie haben seine Worte noch im Ohr und geben sie an ihre Zuhörer weiter. Die Einladung Christi, sein Reich schon hier auf dieser Erde wahr werden zu lassen: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.”(Mt 5,9) Die Zuhörer lechzen nach den Mut machenden Worten. Sie können es nicht oft genug hören: „Kommt her alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.” (Mt 11,28) Und – es ist ihnen an den Gesichtern abzulesen – die Erquickung ist da, während sie den Aposteln zuhören. Sie spüren: es sind nicht nur Worte, es sind keine leeren Lehren, es sind tiefe, befreiende Erfahrungen, die sie machen – sie und die ganze Gemeinde.

Das ist in der nächsten Szene zu spüren, in der Menschen einander helfen, das geben, was sie brauchen. Niemand hält fest an dem, was er hat, niemand klammert an seinem Reichtum und Wohlstand, sondern achtet auf den, der nichts oder nur wenig hat. Das Wort, die Lehre, die Erinnerung an Jesu Wirken werden lebendig in der Liebe zum Nächsten. Die Blicke der Menschen sind dem anderen, der anderen zugewandt, offen, herzlich, fragend: „Wie kann ich Dir helfen, mein Bruder, meine Schwester?”

Diese Offenheit für die Bedürfnisse der anderen, die Frage nach dem, was notwendig ist, ist eng verbunden mit der tiefen und festen Gemeinschaft im Abendmahl. Sie reichen einander das Brot und trinken aus einem Kelch – ein Bild eines echten und tiefen Friedens. Die Gemeinschaft mit Gott durch seine Gaben wird hier sichtbar in der Herzlichkeit des Miteinanders. Sie reichen einander die Hände, weil alle zu dieser Gemeinschaft gehören und niemand herausfallen soll. Und während sie die Hände reichen, erleben sie ein Stück Himmel auf Erden. Und die Apostel bekräftigen es: „Ja, so war es, als er mitten unter uns war!”

Und auch die letzte kleine Szene auf diesem urkirchlichen Bild weist hin auf ihn, den Auferstanden, wie er bei ihnen ist: still, verborgen und doch gegenwärtig. Da sitzen sie und beten, danken und loben ihren Herrn und Meister. Er lebt nicht nur in ihren Erinnerungen, sondern sie begegnen ihm täglich, danken von Herzen und suchen Orientierung für ihr Leben. Sie stellen sich in den Machtbereich Gottes und erfahren von ihm Kraft und Stärke. Sie leben von der Verheißung: „Wo zwei drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.” (Mt 18,20)

Welch ein schönes, welch ein ideales Bild von der Kirche am Anfang! Was waren das für Zeiten! Der goldene Rahmen ist berechtigt. Aber vielleicht sitzt er auch schief. So wie bei dem Familienbild von 1916, das nicht nur die Idylle zeigt, sondern auch schmerzlich daran erinnert, dass der Erste Weltkrieg Familien zerstört hat. Und wenn die Oma von den guten alten Zeiten spricht, dann vergisst sie oft, wie mühsam und anstrengend es war, morgens in aller Herrgottsfrühe und in der Kälte des noch frischen Tages aufzustehen und das Feuer im Ofen anzufachen, damit es in der Küche langsam wieder warm wird. Heute dreht sie die Heizung auf und genießt den kleinen Luxus des Alltags.

Was waren das für Zeiten? So mag man auch ungläubig fragen im Rückblick auf das, was nicht gelungen ist, was aus dem goldenen Rahmen fiel. Die Apostelgeschichte ist zum Glück so ehrlich und rückt auch das eigne Bild zurecht. So einfach war es schon damals nicht mit der Hilfe für die anderen und der Selbstlosigkeit bei Reichtum und Besitz. Hananias und Saphira, wohl ein betuchtes Ehepaar, verkauften einen Acker, gaben aber nicht den vollen Erlös ab. Sie wurden ertappt und fielen tot um vor Scham. „Sie hatten alle Dinge gemeinsam.” (V42b) Diese Aussage aufrecht zu halten, war schon damals schwer. Und auch die konkrete Verteilung zeigte Probleme. Die einen beschwerten sich, dass die anderen mehr bekamen. Allzu menschlich ging es auch damals zu.

Was waren das für Zeiten? Mit Sicherheit nicht nur die goldenen Zeiten des Aufbruchs und des Neubeginns. Und es ist wohl auch nicht das Ideal und das Programm für die Kirche Gottes durch die Jahrhunderte hindurch.

Es reicht nicht aus, die alten Bilder mit einem goldenen Rahmen zu verzieren und in den Erinnerungen stecken zu bleiben.

Aber welche aktuellen Bilder hängen wir neben dieses Bild vom Anfang? Bilder von wunderschönen Kirchen, Kathedralen und Domen, die gen Himmel ragen. Doch wenn wir hineinschauen, sehen wir leere Kirchenbänke. Wo ist die Begeisterung der ersten Stunden, wo ist die Gemeinschaft derer, die füreinander einstehen, die Not lindern, das Brot brechen und miteinander und füreinander beten?

Die Kirche Jesu Christi zeigt sich heute sicherlich anders als damals. Und das ist auch gut und wichtig so. Sie muss sich immer wieder aus ihren alten Strukturen befreien, den goldenen Rahmen der Idylle und der Unveränderbarkeit ablegen und darüber nachdenken und diskutieren, welches Bild sie in einer veränderten Zeit von sich abgeben möchte. Die alten Kirchengebäude sind da sicherlich wichtige „Seh-Zeichen” am Horizont: Orte der Identifikation, Orte, wo Gemeinschaft erlebt wird, Seelsorge mit Händen zu greifen ist.

Doch wo Gemeinde lebt, wo Kirche als Ort der Gottesnähe erfahrbar wird, wo Jesus Christus mitten unter ist – da habe ich Bilder von Menschen und Begegnungen vor Augen. Es sind ähnliche Szenen wie damals in der Urgemeinde, die das Bild von Kirche ergeben. Konfirmanden zum Beispiel, die die Lehre der Apostel neu entdecken, weil sie eine Fotostory zum Glaubensbekenntnis erstellen. Ein Bild aus der Kleiderkammer für die Flüchtlinge oder vom herzlichen Miteinander beim Internationalen Café schenkt der Gemeinschaft und der Frage, wie wir die Not lindern können, eine ganz neue Strahlkraft. Und seitdem Kinder zum Abendmahl zugelassen sind und sie mit den Erwachsenen das Brot brechen, hat eine ganz neue Freude und Fröhlichkeit Einzug gehalten in unsere Gottesdienste. Das würde ich gern fotografieren – oder zumindest ein Bild in meinem Herzen mitnehmen. Und ebenso von dem Besuch im Trauerhaus, als der Sohn der Familie viel zu früh gestorben ist. Die Frage nach dem „Warum” stand im Raum, jedes Wort war zu viel. Aber nicht dieses eine Gebet, das schon zu „goldenen Zeiten” gebetet wurde, aber gerade auf dunklen Wegstrecken dem Leben neue Perspektiven gibt: „Vater unser im Himmel.”

Nein, wir müssen die Kirchenbilder von heute nicht hinter den Bildern von damals verstecken. Die alten Bilder haben uns eine Richtung gegeben. Und ich staune, dass wir weiterhin auf demselben Weg sind.

Aber wohin wird sie gehen, die Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen? Welche Bilder der Zukunft, welche Visionen begleiten uns?

Mein Bild von Kirche hat eine weit geöffnet Tür, die einlädt, nicht ausgrenzt. Eine Kirche, die Heimat und Geborgenheit schenkt, aber auch immer den Blick hinaus offen lässt. Eine Kirche, die sich nicht von den Sorgen um die eigene Zukunft gefangen nimmt, sondern die sich um die Menschen sorgt, die Schutz und Hilfe suchen.

Ich glaube, ich werde die Kinder im Kindergarten fragen, ob sie mir solch eine Kirche malen, damit ich mir das Bild dann aufhängen kann. Das wird sicherlich eine sehr bunte Kirche sein und ich ahne, dass die Kinder die Sonne und einen Regenbogen über das Kirchendach zeichnen, weil diese Kirche Gottes Nähe ausstrahlt und unter seinem Segen lebt.

Amen.