"Für mich gestorben?", Predigt zu Hebräer 9, 15.26b-28 von Reinhold Mokrosch
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"Für mich gestorben?", Predigt zu Hebräer 9, 15.26b-28 von Reinhold Mokrosch

„Für mich gestorben“?
I.
Liebe Karfreitagsgemeinde!
„Mit diesem Text kann ich nichts anfangen!“ sagte mir unverblümt ein Kollege aus der Philosophie, als ich ihn nach seiner Meinung zu diesem Text fragte. „Jesus Christus hat sich selbst geopfert, um die Sünden der Welt aufzuheben“, rekapitulierte er. „Das verstehe, wer will, ich nicht! Er ist für uns gestorben. Warum? Eigentlich hätten wir unserer Sünden wegen die Todesstrafe verdient, aber Christus hat sich für uns geopfert und uns damit von unserer Todesstrafe erlöst. Er hat mit uns einen neuen Bund geschlossen. Ist das nicht wunderbar?“, schloss er zynisch seine Rede und verdrehte die Augen.
Als ich nichts sagte, fragte er mich direkt: „Sag mal, glaubst Du diesen Quatsch?“ Ich schaute ihm in die Augen und er fuhr fort: „Ich meine: Was soll das? Wieso ist Christus für mich gestorben? Was ist das für ein Blödsinn! Welche todeswürdigen Sünden habe ich denn begangen? Für mich gestorben!? Unsinn! Lehn’ ich ab! Ihr Karfreitags-Protestanten wollt mir nur ein schlechtes Gewissen einreden. Unredlich ist das! Fies ist das!“ Er glühte vor Wut.
Ich bat um Einsicht: „Versteh doch die damalige Symbolik: Blut galt als Symbol für Leben und alles Leben gehörte Gott dem Schöpfer, also auch alles Blut. Das nannte man symbolisch den ersten Bund Gottes mit der Menschheit. Die Menschen hatten aber mit ihrer Gewalt, Ungerechtigkeit und Hass diesen Bund gebrochen und ihr eigenes Blut, was Gott gehört, verunreinigt. Deshalb - so glaubte man damals heilsgeschichtlich – hatte Gott einen Neuanfang geplant: und zwar so, dass ihm das verunreinigte Blut der Menschheit exemplarisch zurückgegeben werden sollte, damit er neues Blut schaffen könne.“ Mein philosophischer Kollege spielte interessiert: „Ja und?“ „Und dazu war der Menschensohn Christus ausersehen, der, wie man glaubte, die ganze Menschheit repräsentiere. Er starb, gab damit das Blut der Menschheit Gott zurück und Gott schuf durch Christi Auferstehung neues Blut und – wie es im Hebräerbrief heißt – einen neuen Bund und eine neue Menschheit. Das ist nur zu verstehen, wenn man es symbolisch versteht. Verstehst Du das?“  -  Mein Kollege winkte ab und bemühte Goethe: „Die Worte hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Er lehnte alles ab. Die Karfreitagsbotschaft hatte keine Chance bei ihm.
Können Sie ihm folgen, liebe Karfreitags-Christen? Sprach er nicht aus, was viele Menschen über Karfreitag denken? Können wir wirklich begreifen, warum Christus „für uns, für mich“ gestorben ist? Ist es nicht der anstößigste Tag im Kirchenjahr, liebe Mitchristen? Schon die ersten Christen vor 2000 Jahren mussten sich verspotten lassen: ‚Ihr betet einen Verbrecher an!’ wurde ihnen nachgesagt. Und irgendein Schulbub hatte im 1. Jahrhundert mit seinem Messer an eine Wand in Rom ein Kreuz mit einem gekreuzigten Esel geritzt und davor einen anbetenden Jungen gemalt mit der Unterschrift: ‚Marc, der Christ, betet einen Esel an!’ Solche Kritik wiederholte sich 2000 Jahre lang immer wieder bis heute. Wer versteht schon die Karfreitagsbotschaft? Ist sie überhaupt verstehbar?
II.
Ich möchte Ihnen noch ein zweites Gespräch über Karfreitag wiedergeben: Ich unterhielt mich mit einem islamischen Imam und Mufti. „Wissen Sie“, ging er mich an, „Ihren Glauben, dass Gott Mensch geworden sei, halte ich für eine unverzeihliche Beleidigung Allahs. Jesus ist ein großer Prophet gewesen und nicht mehr. Und dann noch Ihr Karfreitag“, ereiferte er sich, „Ihr Mensch gewordener Gott wurde ermordet. Unmöglich! Katastrophe! Blasphemie! Im Heiligen Qur’an steht nichts von einer Ermordung Christi. Glücklicherweise!“
Ich versuchte, ihm die Symbolik zu erklären: „Wissen Sie, damals symbolisierte Blut…“ Er winkte ab: „Kenne ich! Ihr klugen Theologen. Da ist mir Paulus mit seiner Sühne-Theorie noch lieber als Eure Blut-Symbol-Theorie! Christus ist statt Euch, die Ihr die Todesstrafe verdient hättet, gestorben. Er ist für Euch gestorben. Das verstehe ich eher, auch wenn ich’s ablehne!“  „Egal ob Sühne- oder Blut-Theorie“, wandte ich entschieden ein. „Mit unserem Bekenntnis, dass Christus für uns gestorben ist, leben wir gut und wahrhaftig.“ Und ich fügte hinzu: „Ich persönlich fühle mich erleichtert und zu neuem Leben und zum Friedenstiften ermutigt!“  „Zu Lasten einer Beleidigung Allahs! Danke, ohne uns“ entgegnete der Imam und verschwand.  -  Wieder begegnete ich einer massiven Ablehnung unserer Karfreitagsbotschaft. Diesmal nicht wie beim Philosophen, der räsonierte, dass Karfreitag eine Beleidigung der Menschen sei, sondern dass Karfreitag eine eines Beleidigung Gottes sei.
III.
Ich möchte noch von einem dritten Karfreitagsgespräch berichten: Meine Gastprofessur in Indien in den vergangenen Monaten nutzte ich zu einem (englischen) Gespräch mit einem Shiva-Kali-Priester in Kalkuttas Kali-Tempel. Gerade wurde wieder eine Ziege geopfert und wir wateten im Blut. Da begann nicht ich, sondern er angesichts dieses Ziegenopfers mit Jesu Opfertod: „Wir Hindus lehnen jedes Menschenopfer ab, auch den Opfertod Jesu Christi. Sie sehen es ja: Wir praktizieren nur noch Tieropfer.“ Ich wurde verlegen. Dass ich auch Tieropfer als grauenhaft und sinnlos empfinde, wagte ich angesichts des Opfertodes Jesu Christi nicht mehr zu sagen. „Ich sehe auch keinen Karma-Sinn in Jesu Opfertod“, fuhr er fort. „Jesus ist für uns Hindus eine große Gottheit, die uns lehrt, zu Brahma, der Weltseele, zu kommen. Aber seine Hinrichtung war sinnlos!“ Ich begann im Gewühl, Gedränge und Geschrei der unzähligen Kali-Verehrer und –Verehrerinnen wieder mit meiner Blut-Symbolik. Vergebens!  Der in strahlendem Weiß gekleidete Hindu-Priester betonte, dass wir Menschen uns selbst anstrengen müssten, um von uns selbst los zu kommen und erlöst zu werden. Da helfe kein Opfertod Christi.
Rein zufällig kam ein gelehrter Krishna-Verehrer vorbei, hörte kurz zu und meinte: Seitdem Jesus Christus sich geopfert hat, brauchen wir auch keine Tieropfer mehr. Solche Ziegenopfer sind sinnlos!“ Der Kali-Priester und ich staunten mit großen Augen! Er, weil er kritisiert wurde; ich, weil ich meinte, der Hindu habe etwas von Karfreitag verstanden.
Hatte er wirklich etwas von Karfreitag verstanden?
IV.
Ein letztes Erlebnis möchte ich Ihnen mitteilen, das für mich wie eine Offenbarung wirkte: Ich predigte in Kalkutta in einer christlichen Slum-Kirche. Auf dem Boden saßen im Lotus-Sitz Dutzende schöner und im herrlichen Sari gekleidete Slum-Witwen mit ihren Kindern. Sie waren erst 20 bis 30 Jahre alt. Ihre Männer waren in den vergangenen Wochen und Monaten an Tuberkulose, der weiterhin grassierenden Slum-Epidemie, gestorben. Nach indischem Ritus dürfen sie nicht wieder heiraten. Die Christen haben elendigerweise diesen Ritus mit übernommen. Grauenhaft!
Eine Frau schrie während des Gottesdienstes ihren Schmerz hinaus. Und Sekunden später lachte sie und rief ihre Dankbarkeit und Freude über diese Gottesdienst-Gemeinschaft, über ihr Kind und über den strahlenden Sonntag heraus. Sie wirkte auf mich echt und authentisch. Ich spürte plötzlich: Der Karfreitagsschmerz und der Osterjubel können zusammenfallen.  Erleben wir so etwas öfters im Alltag?, fragte ich mich, dass Schmerzensschrei und Freudenschrei kurz aufeinander folgen, ja zusammenfallen können? Ja, antwortete ich mir selbst. Wenn ich im Leid getröstet werde, dann kann mein Schmerz in Freude übergehen. Dann kann Karfreitag unmittelbar zu Ostern führen.
Die 23-jährige verwitwete Inderin hatte erlebt und ausgedrückt, was ich kompliziert zu erklären versucht hatte und was der Philosoph, der Imam und der Hindu-Priester brüsk abgelehnt hatten: dass Karfreitag und Ostern zusammenfallen können; dass Schmerz und Leid in Dankbarkeit und Freude umschlagen können; und dass Gott aus verzweifeltem Leben getröstetes, neues Leben schaffen kann. Das ist möglich! Gott kann aus Leiden Freude schaffen! Ich erinnerte  mich an einen schwer kranken 60-Jährigen, der einmal geäußert hatte: Ich bin dankbar für meine Krankheit. Zum ersten Mal in meinem Leben hat sich meine Frau liebevoll um mich gekümmert.
V.
Deshalb lautet unsere Karfreitagsbotschaft: Freude ist trotz Schmerz und Leid möglich; Frieden ist trotz Unfrieden und Krieg möglich; Gerechtigkeit ist trotz Unrecht und Ungerechtigkeit möglich; und Glück ist trotz Unglück und Not möglich. Wir Christen glauben, dass Gott am Karfreitag die alte Welt überwunden und Ostern einen derartigen Neuanfang mit einer neuen Schöpfung begonnen hat, dass Freude, Frieden, Gerechtigkeit und Glück trotz Leid, Unrecht und Unglück möglich sind. Seit Karfreitag und Ostern sind Frieden, Gerechtigkeit und Glück möglich. Freilich müssen wir uns dafür einsetzen.
Dietrich Bonhoeffer hatte trotz der „Maskerade des Bösen“ diesen Glauben, dass Frieden und Gerechtigkeit möglich seien, gehabt. Nur mit diesem Glauben konnte er bis zu seiner Ermordung für Frieden kämpfen.
Liebe Gottesdienstbesucher! Geht mit dieser Botschaft in Euren Alltag! Frieden, Gerechtigkeit und Glück sind möglich, weil Gottes und Christi Geist die gesamte Wirklichkeit durchdringen. Wir sind aufgerufen, diesem Geist zum Durchbruch zu verhelfen.
Denn der Friede Gottes ist höher als alle Vernunft; und er bewahrt unsere
Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen