Gedanken zur Jahreslosung von Christiane Kohler-Weiß
13,14

Gedanken zur Jahreslosung von Christiane Kohler-Weiß

Wir haben hier keine bleibende Stadt,
  sondern die zukünftige suchen wir. (Hebr 13, 14)
Gedanken zur Jahreslosung 2013
  und zur künstlerischen Umsetzung von Friedhelm Welge
„Aufbruch“ ist die Stimmung, die Text und Bild in uns hervorrufen: eine Landkarte mit fernen Zielen, ein Schuh, kein Bleiben. Ein Bild mit starken Kontrasten zieht unse­ren Blick in seinen Bann: eine weiße Marmorskulptur vor schwarzem Hintergrund. Nur die Schrift bringt Farbe in dieses Schwarz-Weiß: grün wie die Hoffnung.
Der Text passt gut zum Jahreswechsel. Das alte Jahr ist vergangen und wir haben am Silvesterabend vielleicht überlegt, was davon bleiben wird. Es ist nicht viel. Die Zeit verrinnt unerbittlich, unsere Gegenwart ist gekennzeichnet durch sich immer weiter beschleunigende Veränderungsprozesse, Abschiede allerorten – auch im vergangenen Jahr. Wir haben hier keine bleibende Stadt. Das ist eine ernüchternde, eine verstörende Erkenntnis, die uns da am Anfang des Neuen Jahres zugemutet wird, aber wir spüren: sie ist wahr. Wir sind als Menschen unterwegs, Reisende, Gäste auf Zeit, im Innersten Fremdlinge in dieser Welt. Die Jahreslosung ist ein Text, der seinen liturgischen Platz in der Passionszeit hat (am Sonntag Judika), in der wir den Weg Jesu mitgehen aus dieser Welt heraus. Der Vers wird auch oft bei Beerdigungen gepredigt und an Gräbern gesprochen, dort wo es unmittelbar vor Augen steht: Wir haben hier keine bleibende Stadt. Einige haben vielleicht den voranschreitenden Puls der Vertonung des Brahms-Requiems im Ohr. Niemand bleibt. Die einen gehen früher, die anderen später, aber bleiben kann niemand.
Dabei tun wir so viel, um heimisch zu werden in dieser Welt: schon als Kinder bauen wir mit Lust Buden oder Hütten oder wenigsten Legohäuser. Später gründen wir Fami­lien, bauen wo möglich ein Eigenheim, richten es behaglich ein, knüpfen ein Netz von Beziehungen, erlernen Rituale, die uns Halt geben, machen uns Tradition und Kultur vertraut. Wenn das Heimischwerden in einer Kultur misslingt oder Menschen vergeb­lich eine Wohnstatt suchen, sind dies immer leidvolle Erfahrungen.
Heimat – vielleicht gibt es keine tiefere menschliche Sehnsucht als diese. Wir können in Deutschland dankbar sein, dass wir unsere Heimat nicht verlassen müssen, um ein Auskommen zu finden oder frei zu sein. In den Ländern auf der Landkarte mit der Jahreslosung ist das anders. Man könnte mit roter Farbe die Flüchtlingsströme ein­zeichnen, die innerhalb von Afrika und auf dem Weg nach Europa über das Mittelmeer unzählige Opfer zur Folge haben. Oft versinken sie auf dem Weg zu uns in dem schwarzen Schlund namens Mittelmeer. Wir haben hier keine bleibende Stadt, das ist für Menschen auf der Flucht eine bittere Wahrheit – schon zu Lebzeiten.
Aber auch in Europa machen viele Menschen die Erfahrung tiefster Heimatlosigkeit, z.B. wenn jemand stirbt, der einem Heimat und Sicherheit gab, oder wenn die letzte Lebensphase von Demenz geprägt ist. Der Dichter Arno Geiger beschreibt in seinem berührenden Buch „Der alte König in seinem Exil“ die tiefe Heimatlosigkeit seines demenzkranken Vaters: „Mit der Krankheit nahm er die Unmöglichkeit, sich geborgen zu fühlen, an den Fußsohlen mit. … Und seine Familie konnte unterdessen täglich beobachten, was Heimweh ist. … Und erst Jahre später begriff ich, dass der Wunsch, nach Hause zu gehen, etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die Menschheit vollzogen hatte: Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich.“ (S. 56)
Es wird Zeit, die zweite Hälfte der Jahreslosung genauer anzusehen. Das Nicht-Bleiben, hat in dem Bibelvers, der uns im kommenden Jahr begleiten wird, ja Gott sei Dank nicht das letzte Wort. Es folgt ein „Sondern“: sondern die zukünftige suchen wir. Die Alternative zum Verlust ist in diesem Bibelwort kein krampfhaftes Festhalten am Vergehenden, sondern ein Sich-Öffnen für die Zukunft. Unser Unterwegssein hat ein Ziel: die zukünftige Stadt. Das himmlische Jerusalem, von dem die Bibel immer wieder spricht, das ist ein Ort, an dem alles Dunkle überwunden sein wird, was jetzt zur menschlichen Existenz gehört: der Schmerz, der Abschied, die Tränen, die Angst, ja sogar der Tod. Auch das Reich der Toten ist keine bleibende Stadt. Die zukünftige Stadt, das ist ein Ort der Freude an der neuen Schöpfung, am Wiedersehen mit geliebten Menschen, am Leben in der Gegenwart Gottes. Die zukünftige Stadt, das ist ein Ort ohne quälende Fragen und Zweifel, ein Ort der Klarheit und des ewigen Lichts. Das Neue Testament wird nicht von einer Erinnerungssehnsucht nach den schönen vergangenen Zeiten geprägt, sondern von einer Zukunftssehnsucht nach einer besseren Welt. Und im Hebräerbrief wird diese zukünftige Stadt auch als ein endzeitlicher Ruheort beschrieben (vgl. Hebr 4). Zur-Ruhe-Kommen, Ankommen, Heimat finden – irgendwann in der Zukunft wird das möglich sein.
Das Verb, das unsere Existenz bis dahin kennzeichnet, ist suchen. Damit ist kein ziel­loses Herumsuchen gemeint, wie wenn ich meinen Schlüsselbund verlegt habe, son­dern ein gezieltes Streben.
Die Existenzweise des Suchens hat drei Aspekte. Sie ist ein Schutz vor Fundamentalis­men aller Art, denn niemand hat schon jetzt das Unvergängliche in der Tasche. Wir sind immer noch auf der Suche, alle miteinander. Sie ist zweitens ein Schutz vor jeder Form von satter und selbstgefälliger Arriviertheit. Wer meint, hier auf Erden schon alles erreicht zu haben, der hat entweder seine Träume vergessen oder die anderen, die neben ihm unterwegs sind, z.B. in den Ländern des Südens. Für die meisten Menschen auf unserer Erde hat die Aussage, dass die Lebensumstände der Gegenwart nicht blei­ben werden, nichts Bedrohliches, sondern etwas Hoffnungsvolles und Tröstliches. Drittens ist die Angst vor Veränderung unbegründet, die so viele Menschen quält. Wenn uns in der Zukunft ein Zur-Ruhe-Kommen bei Gott und Jesus Christus ver­heißen ist, gibt es keinen Grund zur Furcht.
Auch die Skulptur von Friedhelm Welge wirkt nicht bedrohlich sondern eher ver­heißungsvoll. Es ist ein bequemer Schuh, der schon deutliche Spuren des Getragen­seins aufweist. Derjenige, der sich diesen Schuh anzieht, hat schon einen Weg hinter sich und ist gewappnet für unwegsames Gelände. Der weiße Marmorblock, aus dem Hand und Schuh herausgemeißelt wurden, bildet einen leuchtenden Kontrast zum dunklen Hintergrund des Bildes. Es ist eine Momentaufnahme, die hier eingefangen wurde, nichts Fertiges.
Auf der Landkarte im Hintergrund ist Deutschland nicht zu finden. Sie endet südlich der Alpen. Aber Afrika, die Wiege der Menschheit, Israel und Kleinasien, wo das Judentum und das Christentum ihre Wurzeln haben und der Mittelmeerraum, der als Wiege der abendländischen Kultur gilt, sind zu sehen. Und nun ist noch etwas Neues hinzugekommen: Ein Anstoß aus muslimischen Ländern. Grün ist nicht nur die Farbe der Hoffnung, sondern auch die Farbe des Islam, und im „arabischen Frühling“ verband sich beides. Jetzt steht es als Denk-mal vor uns! Unseren Ort auf dem Plakat der Jahreslosung müssen wir uns selbst suchen.
Der Text der Jahreslosung lädt uns ein zu einem Leben, das nicht aufgeht in dem, was wir kennen, sondern darüber hinaus führt. Der Bildhauer Friedhelm Welge hat der Jahres­losung eine politische Bedeutung gegeben, als er sie mit seiner Skulptur verband und diese vor die Landkarte Afrikas stellte. Der Schuh in der Männerhand, dessen Schuhsohle wir sehen können, erinnert an die Aufstände in der arabischen Welt im Jahr 2011. Tausende zeigten auf dem Tahrir-Platz dem ägyptischen Herrscher Mubarak ihre Schuhsohle oder warfen mit Schuhen. Das Zeigen der Schuhsohle ist in der arabischen Welt ein „Symbol der Verachtung“. Schuhe werden mit Unreinheit und Schmutz assoziiert. In muslimischen Häusern und in der Moschee werden selbst­verständlich die Schuhe ausgezogen, denn Sauberkeit ist eine wesentliche Vorausset­zung für das Gebet.
Durch die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz wurde das Zeigen der Schuhe auch zu einem Symbol des Widerstandes. Im Werfen der Schuhe entlud sich die Wut über das ungerechte Regime Mubaraks, und es kam deutlich zum Ausdruck, dass die Geduld der Demonstranten zu Ende war. Das Werfen eines Schuhs ist in der islami­schen Welt als „ein Gestus der Aufkündigung und der Lossagung“ von einem Herr­scher bzw. einer Autorität bekannt.
(Näheres dazu bei Marco Scholler: Wenn die Sandale fliegt – Historisches zu einem Gestus der Revolte bei den Arabern, nachzulesen unter:
www.uni-muenster.de/ArabistikIslam/zursache/schoeller_tunesientagebuch.html).
Dies lässt sich gut mit einer theologischen Auslegung verbinden, die in der „bleiben­den Stadt“ ein Bild für die herrschenden Verhältnisse sieht. Die Jahreslosung 2013 fängt im biblischen Text eigentlich mit einem „denn“ an, sie stellt also eine Begrün­dung für etwas zuvor Gesagtes dar. Die Verse davor lauten: Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier … (Hebr 13, 12 ff). Die Bildlichkeit dieser Passage ist gekennzeichnet durch den Gegensatz zweier Orte: das Lager und draußen vor dem Tor. Das Lager ist ein Bild für alles Fixierte im gemeinsamen Leben. Dort herrschen klare politische Machtverhältnisse, soziale Regeln, und ein gut organisierter religiöser Betrieb. Draußen vor dem Tor hingegen sieht das Leben anders aus. Da sammeln sich all die, die das Lager verlassen mussten: die Outlaws, die Geschmähten – und Jesus. Er litt und starb dort draußen. Er ertrug Ausgrenzung, Spott, Einsamkeit, Schläge und Lächerlichkeit. Ein Gottessohn aber, der diesen Weg geht, stellt die Regeln des Lagers auf den Kopf. Plötzlich spielt sich das wahre Leben, das alles entscheidende Ereignis der Weltgeschichte, nicht mehr drin ab, sondern draußen vor dem Tor. Dadurch erhal­ten die Geschmähten neue Würde. Der Ort der Ausgrenzung wird zum Ort der Freiheit. Und wir Christen werden aufgefordert, uns ebenfalls aufzumachen – ohne Furcht vor der Schmach. Robert Leicht folgert daraus: „Wer bei Christus sein will, der muss bei dem am Kreuz erniedrigten, am Kreuz erhöhten Jesus von Nazareth sein. Und wer mit diesem gekreuzigten Jesus von Nazareth auferstehen will, muss aus den ‚herrschenden Verhältnissen’ heraustreten, muss sich aus ihnen herausrufen lassen. … Ekklesia, das griechische Wort für Kirche bedeutet übrigens auf Deutsch: die Heraus­gerufenen.“ Der Hebräerbrief, so Leicht, fordere eine klare Entscheidung von den Adressaten des Briefes: „Seht zu, wo ihr hingehört – und entscheidet euch klar und eindeutig. … Die Unterscheidung zwischen drinnen und draußen ist eine geistige (oder besser: geistliche Unterscheidung. Will ich den herrschenden Verhältnissen Macht geben – und zwar nicht nur über mich, sondern auch über die andern? Und wenn die Antwort zu recht lautet: ‚Nein!’ – wie könnte ich dann die herrschenden Verhältnisse ungestört weiterherrschen lassen – über die anderen, wo es doch darum geht, die Verhältnisse zu ändern?“
(Die ganze Bibelarbeit findet sich unter: www.ekd.de/predigten/leicht/leicht13.html)
Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz haben eine Entscheidung getroffen. Wie auch immer die Entwicklung in Nordafrika weitergehen wird, wir müssen zumindest aner­kennen, dass die Demonstranten in Ägypten, Tunesien, Libyen und im Jemen sich auf die aktive Suche nach ihrer Zukunft gemacht haben und sich nicht mehr länger von ihrer Angst vor den Konsequenzen ins Lager sperren ließen. Dabei haben sie ihre Schuhsohlen nicht nur Mubarak gezeigt, sondern auch den westlichen Ländern, die sich mit den Autokraten in Tunesien, Ägypten und sogar in Libyen gut arrangiert hatten. Diese Schmach haben wir zu tragen, wenn wir ehrlich sind.
Also sollen wir uns jetzt an den arabischen Demonstranten ein Vorbild nehmen und auch den bei uns „herrschenden Verhältnissen“ den Schuh zeigen? Ich empfinde den Import dieses „Gestus der Revolte“ nach Deutschland im Zusammenhang mit Gutten­berg, Wulff oder „Stuttgart 21“ eher als kindisch und dem Leidensdruck der arabi­schen Völker unangemessen. Um der Jahreslosung entsprechend zu leben, müssen wir weder unsere Schuhe ausziehen noch demokratisch gewählte Regierungen stürzen. Wir können die zukünftige Stadt nicht selbst errichten, sondern sollen sie suchen und das heißt, ihr entgegen leben. Wie das gehen kann, sagt der Hebräerbrief: Bleibt fest in der brüderlichen Liebe. Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefan­gene, und an die Misshandelten, weil ihr auch noch im Leibe lebt. Die Ehe soll in Ehren gehalten werden bei allen … Seid nicht geldgierig, und lasst euch genügen an dem, was da ist. … Gutes zu tun und mit anderen zu teilen vergesst nicht. (Hebr 13, 1 ff.) Diese Verse enthalten genug Sprengstoff für eine bessere gemeinsame Zukunft.
Für mich ist die Skulptur von Friedhelm Welge gerade da am interessantesten, wo sie mit dem arabischen Gestus bricht. Die Demonstranten in der arabischen Welt fassen den Schuh nie an der Sohle an, denn diese ist ja schmutzig. Der Mann, dessen Hand die Skulptur zeigt, berührt aber die Schuhsohle: Da hat einer keine Angst, sich die Hände schmutzig zu machen, da wird die Unterscheidung von unrein und rein, die Trennlinie zwischen Verachtung und Anerkennung aufgehoben. Da schnappt sich einer seinen Schuh, um ihn anzuziehen und sich auf den Weg zu machen ohne Angst vor einer möglichen Beschämung und mit dem Ziel der zukünftigen Stadt vor Augen. Den Weg dorthin hat Jesus uns erschlossen und gewiesen. Er ist mit seinen Worten, Gleichnissen und Taten, das einzige Kriterium dafür, ob wir auf dem richtigen Weg sind, dem Weg in die zukünftige Stadt. Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. (Hebr 13, 8) Er ist das Verbindungsglied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Hinwendung zu Jesus können wir die Zukunft sehen. Er ist der Grund für das hoffnungsvolle Grün des Schriftwortes. Dazu noch einmal Robert Leicht: „Die zukünftige, die suchen wir – nicht irgendwo, in der gewagtesten, in der phantastischen (und gewalttätigen) Spekulation, sondern in der einfachsten, be­scheidenen Erinnerung. Und wessen bedarf es dazu: dass wir herausgehen – aus der bleibenden Stadt, vor die Mauern der herrschenden Verhältnisse. Und also: aus uns selbst heraus.“ Zu anderen hin!
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