Geflohen, geträumt, gegangen - Predigt zu 1. Mose 28, 10 – 19a von Ulrich Kappes
28,10

Geflohen, geträumt, gegangen - Predigt zu 1. Mose 28, 10 – 19a von Ulrich Kappes

Geflohen, geträumt, gegangen
  
  Wir hörten im Evangelium von einem Samariter, der geheilt wurde und in großer Dankbarkeit zu Jesus zurückkehrte. Von  ihm fällt Licht auf diesen ganzen Sonntag. Ein Mensch kehrt um, bleibt nicht dabei stehen, nur zu empfangen, sondern kniet nieder und dankt.
  
  Am Ende der alttestamentlichen Erzählung, die uns heute zum Bedenken vorgegeben ist, steht zwar kein Wort von Dankbarkeit, wohl aber eine Tat. Ein Mensch errichtet einen Stein, der ein Gedenkstein an Gottes liebende Offenbarung sein soll.  
  
  Jakob hatte seinem  Bruder Esau mit Unterstützung seiner Mutter das Recht, der Erstgeborene zu sein, listig entwendet. Es gab nur einen einzigen Segen des Vaters Isaak, einen nicht wiederholbaren, und wer ihn als erster empfing, war entgegen seiner biologischen Abkunft für immer der Ältere und Erstgeborene und darum der Mächtigere in der Geschwisterhierarchie.
  Das Wort „Erbschleicher“ ist zu blass, um den Umfang des Betruges an Esau zu beschreiben.
  
  Nach Haran, wo einst Abraham weggezogen war, sollte er nach dem Rat der Mutter fliehen.
  Beerscheba, wo er herkam, lag etwa in der Mitte zwischen dem Südende des Toten Meeres und dem heutigen Gaza- Streifen. Haran lag im Norden Mesopotamiens, auf dem heutigen Gebiet der Türkei und etwa 750 km entfernt. I1I
  
  Als Esau den unbeschreiblichen Betrug bemerkte, jagte er dem flüchtenden Bruder hinterher.
  Der war nach einem Tag panischer Flucht an einem „Ort“ angekommen, der  als ‚Ort voller Steine’ beschrieben wird. Die Sonne war untergegangen. Er legte sich und sowohl die einbrechende Nacht als auch der schwarze Stein hinter seinem Kopf spiegelten seine Verfassung wieder.
  
  Wer das kennt, sich nachts zum Schlafen zu legen, niemanden und nichts zu haben, der oder das einen tröstet, vom nächsten Tag nicht zu wissen, ob er gelingt und darüber hinaus nicht an den zurückliegenden Tag denken zu wollen, es aber nicht verhindern zu können, mag ein leises Gefühl für Jakobs Situation inmitten der Steinwüste bekommen.
  
  Jakob schläft ein und träumt.
  Er sieht eine Treppe, die auf der Erde verankert ist. Engel gehen von der Erde hinauf in den Himmel und kehren vom Himmel herab auf die Erde. Oben, an der Spitze der Leiter, steht Gott. (Die Übersetzung „Leiter“ ist missverständlich, denn wie sollen auf einer Leiter einerseits Engel hinauf – und andererseits herabsteigen?) I2I
  Was bedeutet dieses Traumbild?
  Zunächst: Diese leiterartige, also schmale, Treppe, ist dort aufgestellt, wo Jakob sich befindet. Sie beginnt dort, wo Jacob ruht. Sie ist also nicht ein symbolisches Bild für eine Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die unmittelbare Verankerung neben dem Menschen Jakob sagt, dass es hier um einen ganz konkreten Menschen geht. Die Treppe hat es nur mit Jacob zu tun.I3I
  
  Zum anderen steigen die Engel zuerst hinauf und dann herab. Es wird so geschildert, dass diese Engelsbewegung unablässig erfolgt. Im Unterschied zu anderen Berichten der Bibel, z. B. beim Propheten Jesaja, haben diese Engel keine Flügel. Sie sind nur Boten.
  Die Engelsbewegung von unten nach oben unterstreicht, dass es Jakobs Situation ist, mit der der Engelszyklus beginnt. Jakobs Verzweiflung wird zuerst nach oben getragen.
  
  Was ist mit einer Treppe, die von einem Menschen in den Himmel geht und auf der Engel herauf und hinab steigen, gemeint?
  Man kann sie, was naheliegt, als ein Bild für das  Gebet verstehen, - vielleicht in Analogie zu dem Ruf der  Aussätzigen „Herr, erbarme dich!“, ein Gebet, das aber mehr vom Unbewussten als dem Bewussten ausgeht. Dagegen spricht, dass mit keinem einzigen Wort und keiner einzigen Andeutung gesagt wird, dass Jakob betete. Er errichtete den Stein und legte sich zum Schlafen. Mehr wird nicht gesagt.
  
  Wofür steht der Traum Jakobs?
  Ich meine, hier ist in einem Traumbild beschrieben, dass unsere menschliche Not zu Gott „hinaufgetragen“ wird, ohne dass der Mensch etwas dazu beiträgt. Es gibt „Engel“, die Gott über uns und unsere Verzweiflung „berichten“.
  Und es kommt ein „Engel“ von Gott zurück zu uns und gewiss ist, dass es nicht ohne Auswirkungen sein wird, wenn der Engel an den Ort kommt, wo ein Mensch lebt.
  Die Jakobserzählung von dem Traum mit der Himmelstreppe lässt Menschen für alle Zeiten wissen, dass Gott unsere Verfassung und Situation kennt und nicht tatenlos bleibt.
  
  Gott spricht im Traum zu Jakob. Was vorher in Bildern von Treppe und Engeln ausgesagt wurde, spricht Gott aus. I4I  Gott erklärt, Gott ergänzt, Gott vervollkommnet das Traumbild Jakobs: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham … Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst … Ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir gesagt habe.“
  
  Merkwürdig ist es darum, dass Jakob aufwachte und „sich fürchtete“. Die Übersetzung des jüdischen Auslegers Benno Jacob heißt: „Und er erschauerte und sprach: wie ist voller Schauer dieser Ort.“ I5I
  Jakobs Gefühle können nicht anders als zutiefst zweiseitig gewesen sein. Einerseits musste ihn wohl eine einzigartige Dankbarkeit durchziehen gegenüber diesem liebenden Gott. Andererseits wusste er, dass der „Gott Abrahams und Isaaks“ der Gott und Herr der Geschichte ist. Er wusste, dass „Gott der Herr“ ein gerechter Gott ist.
  Wenn er sich einst fragen wird, warum ihn der Onkel Laban betrog und hineinlegte, als er erst in der Hochzeitsnacht merkte, dass er nicht die geliebte Rahel geheiratet hatte, sondern Lea, erfuhr er bitter an sich selbst, was es heißt überlistet und betrogen zu werden.
  “Quot in litore conchae, tot in amore dolores.
  So viel Muscheln am Strand, so viel Schmerzen in der Liebe.” I6I
  Der Betrüger wurde zum Betrogenen‚mit Schmerzen um Rahel wie Muscheln am Strand’.
  Es ist gut, dieses „und er fürchtete sich“ als ein ‚und er fürchtete sich vor der ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes’, die er ahnt,  zu verstehen.
  Wer ist der Gott Jakobs? Wer ist … unser Gott?
  Jakobs Gott und unser Gott verspricht, uns zu behüten und uns nicht zu verlassen. –Wir dürfen an Engel Glauben, die er zu uns sendet. Jakobs Gott und damit unser Gott ist andererseits kein Gott der schnellen und billigen Vergebung. Er sucht uns heim und er straft.
  Der Text schließt damit, dass Jakob den Stein, den er aufgestellt hatte, nach der Offenbarung mit Öl begießt. Der Flüchtling, der Hals über Kopf das elterliche Haus verlassen musste, hatte wohl einige Vorräte an Proviant mitgenommen, darunter Olivenöl. Mit diesem, so muss man annehmen, übergießt er den Stein.
  Von Menschen und Wanderern in Norwegen wird berichtet, dass es Sitte sei, auf Wanderungen durch die Einöde kleine Steintürme zu errichten. Das soll wohl sagen: Ich bin hier gewesen. Kein anderer als ich war hier. I7I
  Das mag auch Jakob gemeint haben.
  Das Übergießen oder „Salben“ mit Öl gibt dem Stein aber zum anderen eine zusätzliche Weihe: ‚Ich, Jakob, war vor dem Traum wie ein Stein unter tausenden. Nun aber hat mir der Herr eine einzigartige Botschaft gesandt. Ich bin von ihm ‚geweiht’, ausgesondert und das, was an mir geschah, versinnbildliche ich an diesem Stein.’
  Der Stein wird mit seinem Ölüberzug in der Sonne glänzen. Er wird nicht mehr schwarz, sondern bunt sein und das Licht wird sich farbig an ihm brechen.
  Vielleicht hat ihn diese Erinnerung an den errichteten Stein durch die folgenden schweren Zeiten hindurch getragen: Ich bin wie dieser Zeit, nicht mehr einer unter anderen, die herumstehen und – liegen. Wie der von mir ‚gesalbte’ Stein, herausgehoben und etwas Besonderes.
  
  Von Gott angeredet zu werden, gibt einem Menschen einen Heiligenschein, wie Öl auf einem Stein einen Schein erzeugt. Er ist nicht mehr schwarz in schwarz unter schwarzen Steinen. Er leuchtet.
  
  
  I1I Nach Franz-Anton Neyer, Pred. med. z. St., in: Meditative Zugänge zu Gottesdienst und Predigt, Göttingen 1999, 255-259, S. 256. Claus Westermann gibt hingegen als Entfernung 125 km an. – C. Westermann, Genesis, 2. Teilband, Neukirchen 1989, S. 552.
  I2I Vgl. dazu auch. C. Westermann, a. a. O., S. 553.
  I3I Vgl. dazu: Benno Jacob, Das Buch Genesis, Berlin 1934, Nachdruck Stuttgart 2000, S. 579 f.
  I4I Nach B. Jacob, a. a. O., S. 581.
  I5I B. Jacob, a. a. O., S. 581.
  I6I Zitiert nach Ulrich Schmidhäuser, Pred. med. z. St., in: Walter Jens (Hrsg.), Assoziationen. Gedanken zu biblischen Texten, Band 5, Stuttgart 1982, 161-163, S. 163.
  I7I Nach Wilfried Engemann, Pred. med. z. St., in: Predigtstudien 1994 /1995, 2. Halbband, Stuttgart 1995, 208-2012, S. 209.