Gemeinsam an einem Tisch sitzen - Predigt zu Mk 2,15-17 von Margot Käßmann
2,15-17

Gemeinsam an einem Tisch sitzen - Predigt zu Mk 2,15-17 von Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,
vor vielen Jahren durfte ich als Jugenddelegierte an einer Kirchenkonferenz in Buenos Aires teilnehmen. Der deutsche Botschafter lud die beteiligten Bundesbürger zu einem Essen ein. Ich war ziemlich verunsichert angesichts all der Gläser und all der Besteckteile. Mein Nachbar raunte mir zu: „Immer von außen nach innen!“ Das war hilfreich! Aber wohl gefühlt habe ich mich nicht bei diesem Essen, so förmlich und steif – letzten Endes kam ich mir fehl am Platze vor. Dabei sollte diese Einladung doch eine Ehre sein. Viel lieber wäre ich mit den anderen Jugenddelegierten in die Pizzeria gegangen…


Es kann sehr  unangenehm sein, zu einem Essen eingeladen zu werden, bei dem du dich nicht als passend fühlst. Du kannst eingeladen sein, und dich trotzdem unwohl fühlen, weil du nur geduldet bist und nicht wirklich herzlich willkommen. An einem Tisch – da geht es auch um die Erfahrung von Ausgegrenzt-sein oder sich Angenommen-wissen.
Wir haben es gerade in der Geschichte aus dem Markusevangelium gehört: Der Tisch, die Tischgemeinschaft, sie sind geradezu ein Symbol für die Botschaft des Jesus von Nazareth. Er setzte sich mit Menschen zusammen, die offenbar nicht als feine Gesellschaft galten. Welche Leute waren das wohl? Was die oft genannten Zöllner betrifft, wissen wir zuallererst von Zachäus, dass sie gut Geld verdienen wollten. Und dabei sind wohl manches Mal Bestechung und Korruption im Spiel gewesen – nicht dass uns das heute unbekannt wäre! Jesus zeigt ein ganz persönliches Interesse an Zachäus. Er fragt ihn direkt, ob er abends bei ihm zu Gast sein könnte. Und die ebenso genannten Sünder, wen können wir uns darunter vorstellen? Jemand wie Maria, der in der Geschichte unterstellt wurde, dass sie Prostituierte war? Leute, vielleicht, die nicht so gut gerochen haben, weil sie nicht in geordneten Verhältnissen lebten, sondern auf der Straße? Auch mit ihnen will Jesus offensichtlich zusammen sein, er kommt in ihr Haus, lässt sich anrühren im wahrsten Sinne des Wortes. Es scheint ihm gleichgültig gewesen zu sein, was andere darüber dachten, wie sie ihn dadurch beurteilten.


Er hatte die innere Freiheit, sich mit Menschen zu umgeben, die ihn interessierten, und nicht mit Menschen, die ihm nützlich sein könnten.
Das war eine Provokation und führte zu sehr unterschiedlichen Reaktionen. Der Evangelist Markus erzählt, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer sich darüber empörten. Jesus galt ja im Grunde als einer der ihren, auch er wurde als Lehrer der Schrift respektiert. Und so sahen sie wohl das Ansehen der eigenen Klasse gefährdet, wenn einer der ihren sich in solche Gesellschaft begab. Vorstellen können wir uns das auch in unserer Zeit nach dem Motto: Sage mir, mit wem du isst und ich sage dir, wer du bist. Bei denen, die die Gesellschaft als unwürdig ansahen, in die Jesus sich da begab, wird Verachtung den Ton angegeben haben: Dass der sich mit solchen Leuten abgibt, das schlägt auf ihn selbst zurück, disqualifiziert ihn.


Und die Jünger. Ob sie sich dafür geschämt haben, dass der Mann, dem sie nachfolgten, solche Leute einlud? Beziehungsweise zu solchen Leuten ins Haus ging? Vielleicht wären sie entspannter gewesen, wenn Jesus mit den Pharisäern und Schriftgelehrten gespeist hätte. Dann wäre ja auch ihr Status angehoben worden – schaut mal, mit wem wir Umgang haben! In höchsten Kreisen hat unser Anführer Zugang. Das ist glatt wie eine Einladung zum Sommerfest des Bundespräsidenten – eine Auszeichnung!


Der Dreh- und Angelpunkt in der Erzählung von Markus ist die Gemeinschaft.
Es geht bei ihr nicht um die soziale Stellung, sondern um das Dazugehören. Es ist gar nicht so wichtig, wer da sitzt, sondern dass die Menschen, die an einem Tisch sitzen, sich wirklich wahrgenommen fühlen mit ihrem individuellen Leben, ihren Erfolgen und ihrem Scheitern, mit ihren Lebensfragen und Lebenslagen. Jesus überschreitet soziale und wohl auch religiöse Grenzen, weil er deutlich machen will: Vor Gott ist jeder Mensch eine besondere Person, ganz unabhängig von dem Status, den die Gesellschaft ihm zugesteht. Gott lädt sie ein, die Frauen und Männer, die mit Religion und die ohne Religion, die mit Status und die ohne Status. Und sie fühlen sich offenbar wohl am Tisch mit ihm, weil sie nicht nur Schmuck sind oder aus Pflichtgefühl eingeladen, sondern Teil des Geschehens und tatsächlich herzlich willkommen. Jesus interessiert sich für sie ganz persönlich.


Gehen wir damit in die Zeit Martin Luthers. Wir haben es schon gehört, Lucas Cranach hat Wittenberger Bürgerinnen und Bürger an den Abendmahlstisch gesetzt in seinem wunderbaren Bild. Was sie wohl gedacht haben, als sie sich und andere da wieder erkannten? Auch wir sind eingeladen? Oder: Was, auch der? Und warum die und ich nicht?
Das Bild setzt eine zentrale theologische Erkenntnis der Reformation um: Wir alle sind Sünder. Das klingt etwas altbacken und abgedroschen.


Gemeint ist: Du kannst niemals, so sehr du es versuchst, absolut makellos und völlig schuldfrei vor Gott durchs Leben gehen. Niemand soll sich da über den anderen erheben nach dem Motto: Schaut euch den Versager mal an! Dafür sind wir alle anfällig, wenn wir die Klatschteile selbst der seriösen Presse lesen. Da wurde eine beim Lügen ertappt, ein anderer beim Seitensprung und in gewisser Weise ergötzen sich die anderen daran. Dass wir alle „simul iustus et peccator“, „Gerechte und Sünder zugleich“ sind, wie Luther sagt, daran gilt es sich immer wieder zu erinnern. Da erhebe sich niemand über den anderen.


Aber machen wir uns nichts vor: Auch an einem Tisch ist es nicht immer nur harmonisch nach dem Motto: Ach wie schön, da kommen wir Sünder mal alle zusammen. Oh nein, da kommen auch Streit und Auseinandersetzung auf die Tagesordnung, sonst wäre der Tisch ja eine einzige Heuchelei. Vor Kurzem habe ich den Film „Im August in Osage County“ gesehen. Er dreht sich eigentlich nur um einen einzigen Abend, an dem eine Familie sich zum Essen versammelt. Die Wahrheiten, die da aufgetischt werden, sie sind zum Teil niederschmetternd. Das Verhältnis der Paare zueinander, die Beziehungen zu den Kindern, sie werden knallhart ausgesprochen und so manche Fassade bröckelt...
Aber es kann ja auch sein, dass gerade das gut und gemeint ist?


Hat Lucas Cranach die Wittenberger vielleicht genauso darstellen wollen: Ohne Fassaden. Gar mit ihren Schwächen und Ängsten? Humor hatte Cranach ja durchaus. In der Predella, also dem Fuß des Altars, hat er einige Menschen abgebildet, die während der Predigt von Martin Luther ein Schwätzchen halten – so etwas gab es also sogar beim großen Reformator! Sünder also? Es sind gut situierte, gut bürgerliche Wittenberger, die Cranach um den Tisch versammelt. Das Sündersein verläuft also quer zum  äußeren Anschein und trifft genau die Mitte der Gesellschaft.
O ja, ich weiß, der Begriff Sünde ist out. Es sei denn, es geht um Diätfragen, bei denen dann ein Eis Sünde ist oder der Griff zum Stück Sahnetorte. Das hätte Martin Luther nun ganz gewiss lächerlich gefunden! Sünde, das war für ihn die Entfernung von Gott. Und Sünder Menschen, die meinen, ganz und gar Macher ihres eigenen Lebens zu sein. Diejenigen also, die die Karten auf den Tisch knallen nach dem Motto: Meine Frau, mein Haus, mein Auto. Alles selbst erreicht, ein Macher, erfolg-reich.


Und genau da kehrt sich die Sache um: Diejenigen, die mit Jesus am Tisch sitzen, werden nur nach den Maßstäben der Welt degradiert. Gerade weil sie unsicher sind, ob sie an diesem Tisch überhaupt sitzen dürfen, gehören sie eher zu den Heiligen. Denn das waren für Luther nun gerade nicht makellose, fehlerfreie Menschen, sondern diejenigen, die wissen, dass sie ganz und gar auf Gottes Zuwendung angewiesen sind.


Am Tisch Gottes eingeladen und versammelt, verschieben sich die Kategorien!


Es ist anrührend, dass Cranach Martin Luther selbst an diesen Tisch gemalt hat und sich vermutlich selbst als Mundschenk. Alle sitzen mit ihrer Geschichte an einem Tisch...
Ja, es sind tatsächlich alle eingeladen. Das umzusetzen fällt uns manchmal auch heute in der Kirche schwer. Ich denke an eine Situation, als ich in eine Kirche ging und der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung zu mir sagte: „Frau Käßmann, sagen sie den Leuten bitte, dass sie im Anschluss eine Zeitung bei mir kaufen sollen“. Ich sagte: „Okay, aber wollen Sie nicht mit hinein kommen“. Darauf er: „Ach, da passe ich nicht hin, da fühle ich mich nicht wohl!“.


Wie schade, dachte ich. Was müssten wir tun, damit er gern dabei ist im Gottesdienst und wir uns freuen, das Abendmahl mit ihm zu teilen? Warum fühlen sich viele in der Gemeinschaft der Christen nicht wohl? Könnte es sein, dass wir manchmal nur so tun, als ob wir offen sind für alle, auch für die Zöllner und Huren, die Banker und Obdachlosen, es in Wirklichkeit aber gar nicht sind? Oft bleiben wir doch ganz gern unter uns, sind mit denen zusammen, die sich auskennen in der Kirche. Und das spüren dann andere, die am Tisch sitzen wie ich in Buenos Aires, aber spüren, dass sie nicht wirklich eingeladen sind, sondern nur geduldet. Dass es kein echtes Interesse an ihnen gibt, sondern dass die Einladung nur eine Pflichtübung ist, aus der die anderen Anwesenden sich gern so schnell wie möglich verabschieden würden.


Aber manchmal gelingt es und das sind dann wunderbare Erfahrungen, die das Evangelium ganz aktuell lebendig werden lassen.


Ich denke an die geöffneten Kirchen am Ende der DDR Zeit. Da hat mancher gemunkelt in Ost- aber auch in Westdeutschland: Ist es denn richtig, für all diese Leute, die Bürgerrechtler, die Ausreisewilligen, die Umweltaktivisten die Kirche zu öffnen? Ist das denn gute Gesellschaft? Oja, es war beste Gesellschaft, die eine friedliche Revolution in Gang setzte!
Ich denke an die vielen Gemeinden, die heute Flüchtlinge einladen bis hin zum Kirchenasyl. Sie eröffnen einen Tisch für Menschen, die mit Angst, geplagt von Albträumen in unser Land kommen. Traumatisiert sind sie vom Krieg, Angehörige haben sie verloren und ihre vertraute Heimat. Sie brauchen einen Tisch des Friedens statt der grölenden Horden von Neonazis. Ja, eine Mahlzeit, die wir teilen, Geschichten, die wir erzählen, sie schaffen Frieden und sie beheimaten uns und die, die ihre Heimat verlassen mussten.


Liebe Gemeinde, ein gedeckter Tisch, an dem Menschen zusammenkommen, miteinander essen und trinken, lachen, sich ihre Lebensgeschichten erzählen, aber auch streiten im besten Sinne und ringen um die Zukunft, das ist ein wunderbares Symbol der Gemeinschaft. Ich freue mich, dass durch das Abendmahl diese Tischgemeinschaft im Zentrum unserer Kirche steht durch all die Jahrhunderte.


Es bleibt ein Stachel, dass wir nicht als Christen aller Konfessionen gemeinsam an diesen Tisch kommen können - auch das ist Erbe der Reformationszeit. Bis dieses Ziel erreicht ist, werden wir offenbar noch viel Geduld und Engagement benötigen. Aber dass wir die Reformationsgeschichte heute als unsere gemeinsame ansehen, dass wir Sehnsucht haben nach dieser Gemeinschaft, die damals zerbrochen ist, das ist ein großes Zeichen der Hoffnung.


Zuletzt: Nicht die Kirche gibt ein Fest. Nein, Gott gibt ein Fest, so werden wir es alle gleich singen. Und alle sind eingeladen, die Armen und die Reichen, die Glücklichen und die Traurigen, die Alten und die Jungen, die Einheimischen und die Zugereisten, die Hausbesitzer und die Flüchtlinge. Das gelingt nicht, weil wir das so wunderbar hinbekommen, sondern weil Gott tatsächlich Interesse hat an Menschen, die „Sünder“ sind,- die also Mängel haben, scheitern im Leben, Fehler machen. Gott verachtet sie nicht, das zeigt Jesus. Dieser Tisch, der für alle gedeckt ist, ist ein Vorgeschmack auf Gottes Zukunft, in der Leid und Unrecht ein Ende haben werden. Diese Zukunft kann schon Jetzt und Heute beginnen, wenn wir einander einladen, uns zusammensetzen und das Leben miteinander feiern.


Ich wünsche uns, dass wir uns um diesen Tisch nicht aus Pflichtgefühl versammeln, sondern aus Freude an der Gemeinschaft. Dass wir andere nicht einladen, weil man das halt tut, sondern weil wir neugierig auf sie sind. So können das Abendmahl und auch die Tischgemeinschaft im Alltag zu bereichernden werden, weil alle sich ganz persönlich willkommen geheißen fühlen.
Amen.