Gerechtigkeit ist kein leeres Versprechen - Predigt zu Jakobus 5,7-8 von Wilhelm v. der Recke
5,7-8

Gerechtigkeit ist kein leeres Versprechen - Predigt zu Jakobus 5,7-8 von Wilhelm v. der Recke

Gerechtigkeit ist kein leeres Versprechen

I.             „ … von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Jesus kommt wieder, so sprechen wir es jeden Sonntag mit dem Glaubensbekenntnis. Es wäre zu viel gesagt, dass wir das Kommen Jesu kaum erwarten können. Anders zu Zeiten des Jakobusbriefes: Verliert nicht die Geduld! In den beiden Versen fällt das Wort Geduld dreimal: Geduldet euch. Macht euch keine Sorge. Stärkt euch gegenseitig das Herz! Auch wenn es nicht danach aussieht – er kommt bestimmt. Er kommt bald. Ihr könnt euch darauf verlassen. So beschwört der Brief seine Leser.

Unsere Situation ist eine vollkommene andere. Damals, wenige Jahrzehnte nach Tod und Auferstehung Jesu, können es die Menschen gar nicht erwarten, dass er wiederkommt. Im Triumphzug wird er zurückkehren, und alles wird gut. – Wir heute können uns schwer vorstellen, dass Jesus überhaupt wiederkommt. Dass er plötzlich wieder da ist, so unverhofft wie ein Blitz, der die Dunkelheit zerreißt. Dass er reinen Tisch macht. Dass er die Treuen und Geduldigen in seine Arme schließt und die Bösen zur Rechenschaft zieht. Er, der ebenso gerechte wie barmherzige Richter.

II.            Das passt nicht in unser Weltbild. Wir können uns nicht vorstellen, dass Gott persönlich eingreift und Ordnung schafft. Dass er alles neu und gut machen wird. Wir können es uns nicht vorstellen – schlimmer noch: Wir können nicht einmal die Sehnsucht danach mitempfinden. Es sagt uns nichts, es lässt uns kalt. Ja, vielleicht wäre es ganz schön, aber es berührt uns nicht wirklich. Der eine oder andere fühlt sich davon angesprochen. Aber insgesamt entspricht es nicht unserer Gefühlslage hier in Westeuropa. Ein echtes Dilemma.

Wenn wir überhaupt an das Weltende denken, dann aus einem anderen Grund. Einen eindeutig selbst verschuldeten. Aus Übermut, aus Egoismus, aus Gedankenlosigkeit führen wir den Kollaps unseres Planeten herbei. Langsam, aber irgendwann unabwendbar. Ja, wir können uns heute vorstellen, dass es eines Tages kein höheres Leben mehr auf dieser Erde gibt. Wir leben von der Substanz, wir zerstören die Grundlage unseres Lebens.

Das können wir uns vorstellen. Aber noch sind es nächtliche Albträume, die wir am Tage verdrängen. Es steckt uns nicht wirklich in den Gliedern. – Was uns nahe geht, den Älteren naturgemäß mehr als den Jüngeren, ist der Gedanke an unser persönliches Ende. Wenn unsere Kräfte schwinden, wenn wir immer häufiger an unsere Grenzen stoßen, wenn wir unsere Erwartungen niedriger schrauben müssen. Der Gedanke an ein langes Siechtum, an ein schweres Sterben ängstigt uns. Der Gedanke an den Tod, der ebenso sicher ist wie er unbegreiflich bleibt. Vielleicht auch die Frage nach dem, was danach auf uns wartet.

Wenn wir an das Ende denken, gehen wir von uns aus. Wir denken aus unserer individuellen begrenzten Perspektive: Was passiert mit mir? Vielleicht: Was passiert mit uns, mit unseren Kindern und Enkeln? – Der Jakobusbrief schaut von einer höheren Warte aus: Was hat Gott mit uns vor, mit allen Menschen, mit der ganzen Welt? Doch der Brief stellt keine Frage, er weiß die Antwort: So gewiss, wie Jesus auf diese Erde gekommen ist, wie er gestorben und auferstanden ist, so gewiss wird er auch wiederkommen. Nicht nur zu den Frommen, nein zu aller Welt (EG 409, 7).

Für viele von uns ist das ein echtes Dilemma. Mit dem einen Bein stehen wir in der vertrauten christlichen Tradition, mit dem anderen in unserer Zeit, wir teilen das heutige Lebensgefühl. Viele haben diesen Glauben mit der Muttermilch aufgesogen: Jesus kommt wieder! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Gleichzeitig leben wir völlig selbstverständlich in einer Welt, die von Gott nur in Anführungszeichen spricht, in der ein Bekenntnis zu Jesus peinlich wirkt, die bei der Rede von der Wiederkunft Jesu nur nachsichtig lächeln kann. Darüber aufregen könnte sich niemand mehr.

III.          Ein Dilemma. Der berühmte Zeitgeist ist wie ein unsichtbares, geruchloses Gas, das durch alle Ritzen und Löcher in uns eindringt. Wir fühlen uns ohnmächtig. Und doch kann man sich gegen ihn wehren. Es gibt die Redensart „Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt ist bald verwitwet.“ Dieser Geist ist höchst flüchtig. Er kommt und geht. Morgen behauptet er vielleicht ganz ungeniert das Gegenteil von dem, was heute unumstößlich zu sein scheint. Der Gipfel der Erkenntnis, den der Zeitgeist angeblich erklommen hat, ist keineswegs der letzte und höchste. Ganz abgesehen davon, dass der Zeitgeist immer nur regional herrscht. Der größere Teil der Menschheit teilt nicht den europäischen Glauben an den Unglauben.

„Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, sondern wir müssen uns nach der Wahrheit richten,“ schreibt Matthias Claudius an seinen Sohn. Wenn man sich das klar macht und sich Verbündete sucht, kann man sich jenem so selbstsicher auftretenden Geist entziehen.

An dieser Stelle muss aber deutlich gesagt werden, dass wir nicht zurück in das finstere Mittelalter wollen und sollen. Wenn wir ehrlich und redlich sind, können wir nicht hinter die Erkenntnisse der Aufklärung zurück. Doch auch die Vernunft ist uns von Gott gegeben. Wir sollen uns ihrer bedienen. Wir brauchen keine Angst davor haben, dass sie uns den Glauben streitig machen will. Auch die Vernunft lehrt uns, dass wir über Gott nicht verfügen können, auch nicht mit unseren Gedanken. Er ist außerhalb unserer Reichweite. Unser Verstand kann ihn weder beweisen noch widerlegen – so wenig wie es der Glaube kann. Selbst das einst so geschlossene Weltbild der Naturwissenschaften scheint heute offener denn je zu sein. Mit jeder Antwort, die sie findet, stellen sich ein Dutzend neuer Fragen.

IV.          Doch dem Jakobusbrief – und mit ihm dem ganzen Neuen Testament – geht es nicht um ein bestimmtes Weltbild, um keine Theorie, um kein Dogma. Am Leben ist er interessiert. Mit Leidenschaft setzt er sich für Gerechtigkeit ein: Es kann doch nicht sein, dass die Reichen immer und überall auf Kosten der Ärmeren leben, dass sie ihnen das Lebensnotwendige vorenthalten. Es kann nicht sein, dass die Großen und Gewalttätigen sich rücksichtslos über das elementare Recht der Kleinen und Hilflosen hinwegsetzen. Es kann nicht sein, dass die Gerissenen die Redlichen und Arglosen ungestraft übervorteilen und um ihr gutes Recht bringen.

Es kann nicht sein! Und tatsächlich geht es anders. Jesus hat das vorgelebt. Er hat es verkündigt, er hat es in die Tat umgesetzt. Er hat klar gestellt, dass Gott nicht auf Seiten der Rücksichtslosen ist. Er nimmt ihr Verhalten nicht hin. Er steht auf Seiten der Mühseligen und Beladenen. Ihnen gibt er recht, ihnen will er Recht verschaffen. Was Jesus angekündigt, was er in Gang gesetzt hat, ist nichts anderes als eine Revolution. Eine Revolution von oben, die als Revolution von unten durchgesetzt wird.

Unsere schlechten menschlichen Verhältnisse werden grundlegend verändert. Nicht nur das, auch das Verhältnis von Leben und Tod. Denn es ist zutiefst ungerecht, wenn kleine Kinder auf der Flucht über das Mittelmeer ertrinken – ehe ihr Leben überhaupt richtig begonnen hat. Wenn sie wegen schlechter Politik verhungern oder Seuchen zum Opfer fallen, die anderswo längst ausgerottet sind. Die Frage nach der Gerechtigkeit macht vor dem Tode nicht halt. Diese Überzeugung ist verankert in Jesu eigenem Schicksal. Er stirbt als Opfer der Justiz und überlebt seinen eigenen Tod. Für immer und ewig. Weil Gott eingreift, weil Gott den Tod, den absolut gleichgültigen mörderischen Tod, außer Kraft setzt. Der Tod besiegelt nicht mehr alle irdische Ungerechtigkeit.

Darum geht es in dem Bibelwort, über das wir nachdenken. Gott schafft Gerechtigkeit. Das ist jetzt nicht immer so sicher. Aber der Tag ist nicht mehr fern, an dem wir nicht mehr an ihm vorbei kommen. Dann wird alle Welt zur Verantwortung gezogen und muss Rechenschaft ablegen. Keine Rechnung bleibt offen. Aber nicht wir richten, sondern Gott. Nicht wir dürfen unser Mütlein kühlen und unseren Rachephantasien freien Lauf lassen – Gott ist der Herr. Er, der gerechte und barmherzige Gott. (Manche Verwünschungen, manche Drohungen mit dem ewigen Höllenfeuer im Neuen Testament stammen kaum aus dem Munde Jesu. Es handelt sich wohl eher um die nur allzu verständlichen, aber auch allzu menschlichen Wunschträume der gequälten Kreatur.)

Doch weder der Jakobusbrief noch das übrige Neue Testament vertrösten auf den Jüngsten Tag. Nein, seit Jesus unter uns gewirkt hat, kann man an die Gerechtigkeit glauben. Sie ist keine schöne, aber leider irreale Idee. Sie ist begründet, und sie hat eine echte Chance. Es ist keine vergebliche Liebesmüh, sich der Gerechtigkeit hier und heute zu verschreiben. Denn die Zukunft gehört ihr. Wenn wir Jesus Glauben schenken, dann können wir nicht anders, als uns ihm anzuschließen, als es ihm nachzumachen. Darum heißt es an anderer Stelle im Brief: Seid Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst (1, 22). Lebt die Gerechtigkeit und fangt bei den Menschen an, mit denen ihr zusammenlebt.

V.           Die lange Geschichte der Christenheit ist auch eine große Geschichte der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit. Heute wird im öffentlichen Gespräch gerne – und gelegentlich hämisch – an das furchtbare Leid und Unrecht erinnert, das Christen im Namen ihres Glaubens begangen haben. Ja, diese dunklen Seiten gab es und gibt es. Da helfen keine Ausreden und Entschuldigungen. Aber diese Abwege sind die Ausnahme. Sie sind schlimm genug, trotzdem dürfen wir uns an abertausend Gegenbeispiele erinnern, die meistens nicht an die große Glocke gehängt werden. Wer dagegen auf den negativen Seiten des Christentums herumreitet, weiß es nicht besser, oder er will es nicht besser wissen. Der Wind steht uns Christen heute mehr als früher ins Gesicht.

Tatsächlich hat der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes in der Bibel – im Alten wie in Neuen Testament – eine unglaubliche Dynamik entfaltet. Sie wirkt bis heute nach, oft losgelöst von ihren ursprünglich religiösen Wurzeln. Gerechtigkeit gehört zu den elementaren Voraussetzungen für alles Zusammenleben. Das ist uns vielleicht heute stärker bewusst als früher. Dafür muss man kämpfen. Die zahlreichen NGOs*, die heute überall auf dem Globus für eine bessere, gerechtere Welt eintreten, haben ihre Wurzeln fast ausnahmslos in unserer abendländischen Kultur, und die ist ganz wesentlich vom Christentum geprägt. Das trifft auch für die vielen Gruppen zu, die sich seit Jahrzehnten für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen. Ohne ihr Engagement wäre der Weltklimagipfel dieser Tage nicht denkbar. Gott hat uns diese Erde anvertraut. Wir tragen mit an der Verantwortung für alle Kreatur, für alles, was mit uns auf diesem Planeten lebt oder in Zukunft leben soll, zum Beispiel unsere Kinder und Enkel. Auch das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Der Gedanke ist unerträglich, dass unsere Generation auf Kosten zukünftiger die Erde ausplündert.

Gegen allen Augenschein – der Einsatz für mehr Gerechtigkeit ist eine Erfolgsgeschichte, und die weiteren Aussichten sind gut. Am Ende der Zeiten wird Gott sichtbar die Zügel in die Hand nehmen. Er wird die Tränen trocknen und die tiefen Wunden heilen. Alles, ja alles wird gut werden.

Gebt die Geduld nicht auf – schreibt uns der Jakobusbrief. Glaubt an Gottes Gerechtigkeit. Stärkt euch dabei gegenseitig das Herz. Der Herr ist nahe.

 

* Organisationen, die unabhängig von jeglicher Regierung handeln