Geteiltes Leid - Predigt zu 2. Korinther 1,3-7 von Wilhelm von der Recke
1,3-7

Geteiltes Leid - Predigt zu 2. Korinther 1,3-7 von Wilhelm von der Recke

Geteiltes Leid

I. Es passiert immer wieder. Aus heiterem Himmel bricht das Unglück herein. Ein Kind läuft vors Auto. Ein Mädchen verschwindet spurlos; nach zehn Tagen wird die Leiche gefunden. Ein junger Mann nimmt sich das Leben, und keiner weiß warum.
Wir sind nicht selbst betroffen, es geschieht in der Nachbarschaft oder in der nahen Verwandtschaft. Doch wir erstarren vor Schreck. Wir fühlen uns sehr hilflos.
Wir fragen: Wie konnte das geschehen? Was haben die Angehörigen falsch gemacht? Wo haben die Behörden versagt? Vielleicht: wie konnte Gott das zulassen?
Wir fragen mitfühlend: Wie werden die armen Eltern, die Geschwister, die Klassenkameraden damit fertig? Wie können sie damit leben? Wie werden sie hoffentlich eines Tages darüber hinweg kommen?
Schließlich fragen wir: Was können, was müssen  w i r  jetzt tun? Was sollen wir sagen? Wie können wir ihnen zur Seite stehen – von trösten gar nicht zu reden?
Der Apostel Paulus spricht vom Trösten. Wie sollen wir fertig werden mit dem, was uns zu schaffen macht, was uns bedrängt, was uns das Leben zur Hölle macht.
Er spricht davon, wie wir den großen Schmerz teilen können. Wie wir als Christen gemeinsam versuchen, wieder festen Boden unter den Füßen zu finden.
Am Anfang des 2. Korintherbriefes lobt Paulus Gott, den Vater der Barmherzigkeit – wie er schreibt, von dem aller Trost ausgeht. Den Trost, den Paulus am eigenen Leib erfahren hat und mit ihm die junge Gemeinde in Korinth:

Predigttext:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott. Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus. Haben wir aber Trübsal, so geschieht es euch zu Trost und Heil. Haben wir Trost, so geschieht es zu eurem Trost, der sich wirksam erweist, wenn ihr mit Geduld dieselben Leiden ertragt, die auch wir leiden. Und unsre Hoffnung steht fest für euch, weil wir wissen: wie ihr an den Leiden teilhabt, so werdet ihr auch am Trost teilhaben.


II. Alleine können wir den tiefen Schmerz nicht aushalten. Davon geht der Apostel aus. Wir brauchen die anderen. Wir brauchen jemanden, der einfach vorbeikommt und Zeit hat.
Jemanden, der zuhören kann, zunächst einfach zuhören. Und der dann vielleicht auch ein gutes Wort sagt. Jemanden der trösten kann. Das braucht jeder irgendwann einmal.
Keiner kann sich selbst trösten. Alleine kann man sich über seinen Kummer hinwegtrösten – etwa mit besinnungsloser Betriebsamkeit. Man kann einen großen Ärger mit Alkohol ertränken. Man kann alles möglich anstellen; nur sich selbst trösten, das kann man nicht. Schon wenn wir einen Gedichtband aufschlagen oder eine CD einlegen, lassen wir uns von den Worten und von der Musik eines anderen trösten.
Wie macht man das – trösten?
Am leichtesten kann der trösten, der weiß, wie es uns ums Herz steht. Der vielleicht ähnlich Schlimmes durchgemacht, der selber Trost gefunden hat.
Der da ist, wenn wir ihn brauchen, und unaufgefordert geht, wenn wir wieder allein sein möchten.
Den wir noch spät abends anrufen können, wenn wir es alleine nicht mehr aushalten können.
Einer, der uns unaufdringlich die Hand hält; der uns in die Arme schließt, weil es uns gut tut und nicht weil er sich damit selbst emotional entlasten will.
Einer der zuhören kann, auch wenn wir uns wiederholen, auch wenn sich unsere Gedanken im Kreise bewegen. Der aushält, wenn wir lange schweigen; der aushält, wenn es wieder mit ganzer Kraft aus uns heraus bricht.
Schließlich einer, der das richtige Wort zu sagen weiß. O, wir wissen, wie schwer das ist! – Also keine angelernten Floskeln, keine flapsigen Redensarten („Kopf hoch. Es wird wieder. In einem Jahr ist alles vergessen!“).
Keine nachträglichen Vorwürfe („Ich habe es ja kommen sehen: Wenn man nicht beizeiten … !“).
Keine allgemeinen Weisheiten und Theorien – über die Menschen im Allgemeinen und über das Schicksal, über Vergänglichkeit und Schlechtigkeit. Auch keine theologischen und dogmatischen Erkenntnisse, keine frommen Sprüche, die zwar gut und richtig sind, jetzt aber völlig fehl am Platz. (Doch vielleicht wären sie gerade jetzt am Platz, wir trauen uns nur nicht, sie auch auszusprechen?)
Wenn wir uns wirklich auf den anderen und sein Leid einlassen, dann finden wir vielleicht auch die richtigen Worte; dann werden uns vielleicht die richtigen Worte  g e g e b e n , so stellt es Jesus in Aussicht. Worte, die aus dem Herzen kommen und zu Herzen gehen – auch wenn es ganz einfache Worte sind, Worte die nur zögernd und unbeholfen ausgesprochen werden.
Keine leeren Worte, sondern erfüllte. Worte, die greifen, die glaubhaft sind. Worte, die es laut aussprechen, dass nicht alles aus und vorbei ist; dass es trotz allem einen Hoffnung gibt.
Worte, die auf etwas zurückgreifen, das größer ist als unser Herz und Verstand. Die uns schon mit auf den Weg gegeben sind und die auch dann noch Bestand haben, wenn es uns nicht mehr gibt.
Erprobte Worte. Worte die trösten, weil der Tröstende weiß, wovon er redet; weil er selbst solchen Trost erfahren hat. Er muss und er soll und er darf nicht alles das sagen, was er selbst durchgemacht und was ihn gestärkt hat. Es genügt, wenn wir spüren: Da steckt mehr dahinter; er weiß, wovon er redet.

III. So einer ist Paulus. Er redet nicht von sich selbst – wenn überhaupt sagt er bescheiden wir. Er zählt nicht auf, was er alles durchgemacht und erlitten hat – ganz allgemein spricht er von den Leiden Christi, die reichlich auch über uns gekommen sind. Paulus ist mit seinen Gedanken und seinem Herzen ganz bei den anderen, an die er sich mit seinem Schreiben wendet:
„Wenn wir  l e i d e n, so darum, dass ihr Mut bekommt und gerettet werdet. Wenn wir  g e t r ö s t e t  werden, so darum, dass ihr aus unserer Kraft schöpft und auch solche Leiden ertragen könnt, wie wir sie ertragen.“
Im Schlussteil des Zweiten Korintherbriefes lesen wir in einem ganz anderen Zusammenhang, wie reichlich die Leiden Christi tatsächlich über ihn gekommen sind. Es ist unglaublich, was dieser Mann auf sich genommen hat. Dort zählt er es auf. Schon die Reisestrapazen sind furchtbar, wie ihm Frost und Hitze, Hunger und Durst zu schaffen machen; gar nicht zu sprechen von seinen chronischen Beschwerden. Wie er immer wieder ausgeraubt wird, wie  er dreimal Schiffbruch erleidet und Tag und Nacht hilflos auf dem Meer treibt.
Dazu kommen die Schikanen der staatlichen Organe und die Lynchjustiz seiner Gegner. Wie er immer wieder verprügelt, durchgepeitscht, gesteinigt und ins Gefängnis geworfen wird. Schließlich – und vielleicht für ihn am schlimmsten – die üblen Anfeindungen durch die falschen Brüder, wie er sie nennt, also die eigenen Leute: Wie sie seine Autorität in Frage stellen, ja seine Lauterkeit, seine Uneigennützigkeit. Auch die anderen Schwestern und Brüder machen es ihm auch nicht immer leicht – so verständnislos, so störrisch und zänkisch wie sie sich verhalten (Kap.11, 22ff).
Aber Paulus lässt sich nicht entmutigen: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. Wir tragen allezeit das  L e i d e n  Jesu an unserem Leibe, damit auch das  L e b e n  Jesu an unserem Leib offenbar werde (Kap.4, 8-10).“
Wie kann dieser Mann so viel ertragen ohne daran zu zerbrechen? Weil er weiß, dass er auch in finsterer Nacht nicht allein ist; auch dann, wenn ihm keiner sichtbar zur Seite steht. Weil er weiß, dass das alle diese Strapazen und Entbehrungen nicht sinnlos sind, auch wenn er im Einzelnen keinen Sinn darin erkennen kann. Weil er sich trotz allem gehalten und getragen weiß.
Dieser Mann kann andere trösten, weil er wie kein anderer Trost erfahren hat. Vielleicht kann man sagen, weil er sich hat trösten lassen. Er kann anderen beistehen, weil er selbst diesen Beistand täglich findet. Er kann andere halten, weil er diesen Halt gefunden hat. Gerade im Leiden weiß sich Paulus mit Christus verbunden.

IV. Liebe Gemeinde, wir sind hier nicht in einem Trauergottesdienst. Sonst wären es schon viel zu viele Worte zu Trauer und Trost gewesen. Der eine oder die andere ist wahrscheinlich gerade heute trostbedürftig. Doch wir reden über dieses Thema, weil uns der für den heutigen Sonntag Laetare vorgesehene Predigttext dazu auffordert – laetare das heißt freuen. Es ist gut, in Ruhe über Trost und Trauer nachzudenken, bevor der Notfall eintritt. Und so fragen wir nach dem Fundament unseres Glaubens, nach dem Grund der Hoffnung. Worauf ruht letzten Endes unser Vertrauen, wo finden wir selber Halt? Was hilft uns, Leiden zu anzunehmen – die vielen kleinen Leiden, aber erst recht das große, das unsere ganze Existenz in Frage stellt? Woraus schöpfen wir Kraft, um den anderen in ihren Leiden zu helfen?
Paulus findet den entscheidenden Halt in seiner Leidensgemeinschaft mit Christus. Wir stehen – sagt er – nicht allein mit dem, was uns aufgebürdet wird. Gerade wenn es uns schlecht geht, wissen wir uns verbunden mit dem leidenden Christus, mit dem Gekreuzigten. Wir haben teil an dem Leiden Christi, schreibt Paulus. Er empfindet das weniger als Zumutung denn als einen Trost.
Jesus hat ja nicht deshalb für uns gelitten, damit uns alles Leiden erspart bliebe – das wäre zu einfach. Er hat  m i t  uns gelitten, er leidet mit uns. Wir sind nicht allein gelassen. Damit hat unser Leiden noch keinen Sinn gefunden, aber es ist eben auch nicht himmelschreiend aussichtslos. Wir haben eine Perspektive.
Auch für Jesus aus Nazareth war keineswegs immer klar, warum er das alles durchmachen musste. Er stellte sich an die Seite der Menschen, für sie war er da. Er teilte sein Leben mit ihnen, und er litt mit ihnen – bis hin zum Justizmord in Jerusalem, als plötzlich alle gegen ihn waren, und sich auch seine Freunde aus dem Staube machten. Natürlich hat ihm das Angst gemacht, schreckliche Angst. Im Garten Gethsemane hat er im Gebet mit seinem Vater gerungen und dabei Blut und Wasser geschwitzt. Noch am Kreuz hat er verzweifelt gefragt: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Trotzdem ist er an Gott nicht irregeworden. Er ist seinen Weg bis zum bitteren Ende gegangen. Und tatsächlich hat Gott ihm schließlich recht gegeben. Er hat ihn nicht dem Tod überlassen. Er hat ihn zur Hoffnung für alle gemacht. Deshalb beginnt Paulus unseren Predigttext mit den Worten: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes!“ Das Vorzeichen dieses ganzen Abschnitts über Leiden und Trost ist das Lob Gottes, der Dank an Gott. Paulus kann so viel über Leiden und Trübsal schreiben – und noch viel mehr über Trost und Beistand, weil er den Grund kennt, der hält, wenn alles andere wankt. Er kennt Gott, den Vater Jesu Christi. Er kennt den, der schließlich alles gut machen wird. Er weiß, dass auf ihn Verlass ist.

V. Es ist eine merkwürdige Geschichte: Von der Ungerechtigkeit der Welt  und von der Abwesenheit Gottes sprechen häufig diejenigen, die sich als Zuschauer über das Leiden anderer Gedanken machen. Bei den unmittelbar Betroffenen klingt es vielfach ganz anders. Viele sind in ihrem Leben durch finstere Täler gegangen, ihr Glaube ist hart geprüft worden, aber sie sind daran nicht irregeworden. Ja, sie haben zum Glauben gefunden, sie sind darin gewachsen. Und am Ende haben sie wie Paulus gesagt Gelobt sei Gott, den auch wir als barmherzigen Vater kennen gelernt haben.
Die Geschichte der Christenheit kennt dafür zahllose Beispiele. Über eines aus jüngster Zeit sei hier kurz berichtet, das der jungen Sudanesin Meriam Ibrahim. Ihr Vater hatte die Familie früh verlassen. Er war Muslim, aber das wusste sie nicht. Sie war von ihrer Mutter christlich erzogen worden. Meriam heiratete einen Christen aus dem Südsudan. Von einem unbekannten Denunzianten wurde sie des Abfalls vom Islam bezichtigt, noch dazu des Ehebruchs. Als Muslimin hätte sie keinen Christen heiraten dürfen. Im Mai 2014 gab ihr der Richter drei Tage Zeit, sich zum Islam zu bekennen. Dann wäre alles gut, sonst aber drohten ihr 100 Peitschenhiebe und der Tod durch den Strang.
Nach ihren eigenen Worten dachte sie keinen Moment daran, die beiden erlösenden Worte auszusprechen, die sie zu einer Muslimin gemacht hätten. Sie war bereit, für ihren Glauben zu sterben – für uns westliche Christen unvorstellbar. Dank einer italienischen Journalistin und der weltweiten Kampagne, die sie organisierte, wurde Meriam schließlich frei gelassen. – Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes!