Glauben und glauben wollen - Predigt zu Jesaja 40,26-31 von Matthias Wolfes
40,26-31

Glauben und glauben wollen - Predigt zu Jesaja 40,26-31 von Matthias Wolfes

Glauben und glauben wollen

„Hebet eure Augen in die Höhe und sehet! Wer hat solche Dinge geschaffen und führt ihr Heer bei der Zahl heraus? Er ruft sie alle mit Namen; sein Vermögen und seine Kraft ist so groß, daß es nicht an einem fehlen kann. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber? Weißt du nicht? hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt den Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden. Die Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.“ (Text nach: Jubiläumsbibel 1912).

Liebe Gemeinde,

Gott ist „unvergleichlich“. Das ist der Kern dessen, was uns der Prophet hier sagt. Gott ist unvergleichlich.

Auf den ersten Blick scheint das nicht weiter spektakulär. Natürlich ist er das. Wie könnte von Gott sonst überhaupt die Rede sein? Sollen wir ihn mit der Sonne vergleichen? Oder mit dem Licht, dem Lebensatem, der Vernunft? Irgendwie fließen in den Gedanken von Gott alle diese Begriffe mit ein. Gott ist ja auch das Lichtvolle, das Vernünftige, das „Elixier“, in dem und aus dem heraus wir leben können. Aber er ist zugleich mehr als das, viel mehr, und vor allem ist er nicht wie die Sonne, wie das Licht oder wie die Vernunft.

Ich möchte zunächst die Frage stellen, woher der Prophet eigentlich weiß, was er sagt. Woher weiß er, daß Gottes „Verstand“ „unausforschlich“ ist, daß also alle Versuche unsererseits, ihm auf die Spur zu kommen, in einer letzten Vergeblichkeit enden müssen. Dann will ich den Abschnitt noch einmal in Ruhe durchgehen und mit Ihnen ein wenig betrachten, welche Bilder der Prophet benutzt, um den Hörern und Lesern seinen Gedanken zu erläutern. Und schließlich komme ich zu der entscheidenden Frage: Was bedeutet nun aber diese Unvergleichbarkeit für uns, wenn wir doch immer wieder versuchen – und ja auch versuchen wollen, ja es sogar auch müssen –, von Gott ein Zeugnis zu geben. Wovon sprechen wir da eigentlich? Von Gott? Oder nicht doch am Ende von uns selbst, die wir Gott eben doch immer mit irgend etwas vergleichen, und sei es, besserem Wissen zum Trotz, einfach deshalb, weil es anders nicht geht und wir stumm bleiben müßten.

I.

Woher weiß dieser Gottesmann, daß Gott immer der noch Größere ist, der, der sich auf nichts Bestimmbares eingrenzen läßt, der Grenzenlose schlechthin? „Wissen“ im Zusammenhang mit dem Glauben bedeutet: Sich einer Sache gewiß sein, sie als feste Überzeugung sich zueigen gemacht haben. In diesem Sinne „weiß“ er es aus zweierlei:

Zum einen ist auch der Prophet ein Mensch, der aufgewachsen ist in einer ganz bewußt überlieferten Verkündigung von Gott. Propheten sind ja nur in einer Hinsicht Verkündiger, die, wie es scheint, in einer Art direkter Verbindung mit der göttlichen Macht stehen. In der anderen Hinsicht sind natürlich auch sie geprägte Wesen, so wie jeder andere Mensch, wie jedes Lebewesen sonst. So originell, spektakulär und einzigartig die Prophetenrede sein oder anmuten mag, sie ist doch immer auch die Fortsetzung einer Tradition des Redens von Gott, und zwar einer Tradition, die von anderen überliefert wird. Aus der Überlieferung heraus spricht auch dieser Prophet, wenn er erklärt, Gott lasse sich in seinem Wirken, seinem Tun und seinem Sein nicht „ausforschen“. Er steht für ihn und er steht für die Glaubenstradition, die er zu der seinen gemacht hat, als der schlechthin Einzigartige da.

Das ist das eine. Das andere aber, weshalb der Sprecher „weiß“, was er von Gott weiß, betrifft seine eigene religiöse Erfahrung. Dieser Prophet, Deuterojesaja – der zweite Jesaja (Jes 40 bis 55) –, ist ja einer der wenigen im Zusammenhang der alttestamentlichen Prophetie, bei denen uns ein genauerer Einblick in das Seelenleben gewährt wird. Es handelt sich zwar um einen anonymen Propheten aus der Spätzeit des Babylonischen Exils. Man geht davon aus, daß die Zeugnisse seines öffentlichen Auftretens aus den Jahren kurz nach der Mitte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts stammen. Doch als eine bestimmte Persönlichkeit tritt er uns aus seinen überlieferten Worten deutlich genug hervor. Es handelt sich hier nicht um allgemeine Mitteilungen über Gott an und für sich, sondern um den Ausdruck einer ganz bestimmten Erfahrung Gottes.

Wir brauchen uns nun aber gar nicht mit den genaueren Umständen dieser einen Individualität zu beschäftigen. Denn was für ihn gilt, gilt für alle, die etwas von Gott zu sagen wissen. Die Basis ist stets und immer das eigene Erfahren und Erleben. Aus ihr heraus spricht einer, und auf dieses Erfahrene bleibt alles bezogen. Allerdings, und so kommen beide Seiten zusammen, diese Erfahrungen stammen nicht aus dem Nichts. Sie sind nicht der Inhalt einer gleichsam anknüpfungslosen Unmittelbarkeit. Woher sollte etwas Derartiges auch kommen? Und auf welche Weise sollte es denkbar sein, daß das derart Geoffenbarte im menschlichen Geist eine Anknüpfung fände, wir also dafür überhaupt empfänglich wären? Offenbarung in diesem brutalen Sinne gibt es nicht. Das von Gott als Ausdruck seines Wirkens Erfahrene ist eingebettet in den Rahmen der Überlieferung, die den jeweiligen Einzelnen erreicht hat und von ihm angeeignet worden ist. So verhält es sich auch bei Deuterojesaja, und deshalb „weiß“ er, was von Gott zu wissen er seinen Adressaten mitteilt.

II.

Der Prophet hebt an, indem er die Zuhörer auffordert, ihre Augen „in die Höhe“ zu richten. Erst, indem sie den Blick auf diese Weise aus dem Netz der Vorfindlichkeiten lösen, werden sie Gottes ansichtig werden können. Denn Gott ist nicht eingewoben in die Sphäre des Bedingten. Wohl trägt und erhält er es, aber er selbst ist nicht Bestandteil seiner.

Er ist vielmehr der Schöpfer. Er herrscht, wie der Prophet in Aufnahme der Sprache und Denkmuster seiner Zeit sagt, über alles; wie ein Feldherr führt er das Heer. Unsinnig ist denn auch die Meinung, man könne etwas vor ihm verbergen oder irgend eine Regung sei ihm unbekannt. Hier heißt es dann: „Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich.“ Gott „gibt den Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden.“ Die Maßstäbe gelten nicht bei ihm und für ihn, an denen wir unsere Welt zu bemessen gewohnt sind. Was uns als stark und beharrlich gilt, daß wird „müde und matt“. Die aber, „die auf den HERRN harren“, die bekommen „neue Kraft“. Sie werden „auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden“.

Soweit also der Prophet. Es ist eine bilderreiche Sprache, voller Möglichkeiten, die verschiedensten Assoziationen anzuknüpfen. Im wesentlichen aber geht es um eines: Wer auf Gott setzt, den verläßt er nicht. Dem gibt er Kraft und Stärke. Das Vertrauen auf Gott ist die Basis von allem. Glaube heißt Vertrauen. Wer dazu imstande ist, wer sich dazu selbst immer wieder anhält, dem kann das Leben nicht mißlingen. Es ist für Deuterojesaja durchaus eine Frage des Willens, der Selbstdisziplin und des ständigen Mit-sich-Ringens, vor der der Gläubige hier steht. Er versteht den Glauben als eine Aufgabe. Nicht bloß also als ein „Geschenk“, was er natürlich auch ist und wovon immer so viel die Rede ist. Sondern eben auch eine Aufgabe, die man sich setzen kann und von der man sich durch jene Figur der Geschenkhaftigkeit nicht einfach dispensieren kann.

Wer glaubt, wer Gott vertraut, der will ihm auch vertrauen, und dieses Wollen ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Glaubens. Das scheint mir für uns heute, an diesem Sonntag Quasimodogeniti, kurz nachdem wir das Osterfest gefeiert haben, das Entscheidende zu sein.

III.

Damit hat uns der Prophet nun aber auch einen Weg gewiesen, wie wir mit der dritten Frage umgehen sollen, derjenigen nämlich, was es für unser Sprechen von Gott bedeutet, wenn er doch „unausforschlich“ ist. Gott ist seinem Wesen nach unvergleichbar mit allem, was uns als Bekanntem und Vertrautem umgibt, woraus unsere Welt besteht und von dem her wir uns die Welt deuten, in der wir existieren. Wie also könnten wir dann noch irgend etwas über ihn sagen? Wie sollen wir auch nur uns darüber selbst klar werden, was es mit Gott auf sich hat?

Mir scheint, als handele es sich dabei um eine Scheinfrage. Nehmen wir ernst, was der Prophet sagt, jenen Gedanken vom Wollen des Glaubens, dann kann uns die andere Frage, wie wir über Gott denken und sprechen sollen, nicht mehr beunruhigen. Von „Gott an sich“, „Gott selbst“ oder seinem „Wesen“ (essentia) haben wir, hat der Glaube nichts zu sagen. Es mag diesen Gott „geben“ oder nicht – das ist kein Thema des Glaubens.

Wir wollen unser Vertrauen auf den Gott setzen, dessen wir uns gewiß sind und von dem wir im Leben genug erfahren, um auch Zeugnis von ihm geben zu können. Alles, was wir von ihm sagen können, erwächst aus dieser Erfahrung. Es erwächst aber immer auch aus der Tradition des Sprechens von Gott, denn hieraus erst haben wir die Mittel, wie wir unsere Worte wählen, Worte also, von denen wir annehmen können, daß sie verstanden werden und daß sie als sinnvoll aufgenommen werden.

So ist es denn auch beschaffen mit jener angeblichen Unmittelbarkeit der prophetischen Gottesbotschaft: Das viel gebrauchte „So spricht der HERR“ ist eben der Ausdruck eines eigenen Empfindens. Nur sofern wir dieses Empfinden haben, können wir überhaupt wahrhaftig von Gott etwas sagen. Alles andere ist Deutung. Ob wir es als direkte „Offenbarung“ verstehen oder als eine Botschaft, die uns aus der Geschichte des Bekennens erreicht hat, ist Sache der Deutung.

Die Propheten deuten und verstehen das, was sie zu sagen haben, als direkte Gottesrede. Es ist also nicht die Sache selbst, sondern ihr Verständnis, das hier den auffälligen, den eigentümlichen Zug ausmacht. Auch in der prophetischen Rede spricht Gott, wie in jedem anderen religiösen Zeugnis, also in jedem anderen Satz über und zu Gott, sofern es sich nur um aufrichtige und wahrhaftige Rede handelt. Aber er spricht eben durch den seinerseits sprechenden Menschen hindurch. Anders hat Gott nie gesprochen, und anders kann es auch nicht sein, jedenfalls dann nicht, wenn es sich um eine vernehmbare, verstehbare, bedeutungsvolle Rede handelt oder handeln soll.

Lassen Sie uns aus diesem Gottesdienst die Einsicht mitnehmen, daß wir mutig und wahrhaftig sein sollen in unserem Zeugnis. Wir können es sein, denn wir sind uns unserer Sache gewiß. Es ist unser Gott, von dem wir etwas zu sagen haben. Es ist der Gott, auf den wir unser Vertrauen setzen, von dem wir wissen – von dem wir also uns dessen gewiß sind –, daß er uns nicht verlassen wird. Es ist der Gott, von dem ein anderes Zeugnis lautet, er habe gesagt: „Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen“ (Jos 1, 5c).

Amen.

 

Verwendete Literatur:

Claus Westermann: Das Buch Jesaja. Kapitel 40 – 66 (Altes Testament Deutsch. Band 19), Göttingen 1966.

Rainer Albertz: Die Exilszeit: 6. Jahrhundert v. Chr. (Biblische Enzyklopädie. Band 7), Stuttgart / Berlin / Köln 2001 (Kapitel III.2.7: Das Deuterojesajabuch).