Globalisierung aus Galiläa - Predigt zu Apostelgeschichte 2,1-21(36) von Wolfgang Vögele
2,1-21

Globalisierung aus Galiläa

„Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden. Sie entsetzten sich aber alle und wurden ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll von süßem Wein. Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen! Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage; sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5): »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen. Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf; die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe der große Tag der Offenbarung des Herrn kommt. Und es soll geschehen: wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.« So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat.“

Liebe Gemeinde,

zu Beginn der Pfingstferien zählt der Evangelist Lukas verlockende Reiseziele auf. Iran und Irak, die Lukas Mesopotamien nennt, sowie Libyen empfehlen sich vielleicht nicht wegen der Kriegsgefahr, aber Reisen nach Kappadozien, heute in Zentralanatolien, nach Ägypten, nach Pontus, einer Region am Schwarzen Meer und in die Provinz Asien, heute die westliche Türkei, kann jedes Reisebüro in unterschiedlichen Preisklassen buchen. In der touristisch gut erschlossenen Türkei und in Griechenland muß niemand die Landessprache beherrschen, um sich verständlich zu machen. Die Rezeptionistin im Hotel, die Verkäufer im Bazar und die Vermieter der Sonnenschirme am Strand werden in der Regel Englisch oder ein paar Brocken Deutsch beherrschen. Die Griechen verwenden nicht das lateinische Alphabet, aber mit ein wenig Raten kann man griechische Ortsnamen, in griechischer Schrift geschrieben, schnell erkennen.

Wer einen Flug über Europa hinaus bucht, kann sich in einem fremden Land mit anderen Schriftzeichen schnell hilflos und verlassen fühlen, angefangen in Rußland, weiter über Oman und Qatar bis nach China und Japan. Für Reisende, die kyrillische oder arabische Schrift nicht beherrschen und japanische Schriftzeichen nicht erkennen, werden Bahnhöfe und Flughäfen zum Labyrinth und Restaurantbesuche zu einer Lotterie der Mahlzeiten.

Erfahrene, weitgereiste Rucksacktouristen greifen in Ländern, deren Sprache und Schrift sie nicht beherrschen, auf ein „OhneWörterbuch“[1] zurück. Darin finden sie für die wichtigsten Alltagssituationen Bilder, auf die sie zur Verständigung zeigen können. Und wenn sie Glück haben, zeigen ihre Gesprächspartner dann auf ein anderes Bild derselben Seite, um dann das billige Hotel mit Doppelzimmer, die glutenfreie Mahlzeit und die Abfahrtszeit des nächsten Busses in die Provinzhauptstadt zu erfahren.

Sprache und Schrift sorgen im gelingenden Fall für Orientierung, Verständigung und für ein nicht zu unterschätzendes Gefühl von Geborgenheit. Wo das fehlt, entstehen schnell Gefühle von Verlassenheit und gelegentlich von Verzweiflung, so beim unerfahrenen deutschen Touristen in der U-Bahn von Tokio oder beim syrischen Flüchtling, der vor einem bayerischen Grenzpolizisten in Passau steht, oder beim afghanischen Asylbewerber, der in Clausnitz in der Nacht den Bus verlassen will.

Sprache (und Schrift) sorgen für Verständigung und Orientierung. Denn wer nicht weiter weiß, kann freundlich und höflich nachfragen. Verständigung verbindet sich mit Wissen, Heimatgefühl und Vertrautheit, mit Beziehungen, Familie und Freunden, mit gemeinsam geteilten Werten. Sobald dieses Gebäude der Verständigung in Unordnung gerät, entstehen Ängste, bei den Touristen genauso wie bei den Flüchtlingen.

Die Sprache und der Heilige Geist sind auf das engste miteinander verknüpft. Wie die Sprache sorgt auch der Heilige Geist für Verständigung und Orientierung, im Glauben sehr viel mehr als in der Lebenswelt. Aber die Verständigung des Glaubens schließt an die Verständigung innerhalb der Lebenswelt an.

Die Verständigung, die mit Hilfe des Heiligen Geistes geschieht, schafft etwas Neues, eine geistliche Gemeinschaft der Freiheit, des Vertrauens und der gegenseitigen Wertschätzung. Das geschieht, indem der Geist eine neue Sprache stiftet. Um diesen theologischen Gedanken zu erklären, nimmt Lukas eine Fülle anschaulicher Bilder zu Hilfe: Wie ein Sturm braust der Geist vom Himmel. Ein gewaltiger Wind weht alle trüben Gedanken aus den Köpfen der Jünger. Ein Feuer kommt über die Gruppe der Zwölf, und sie erwachen zu einem neuen Enthusiasmus. Über den Jüngern schweben Zungen, Zeichen dafür, daß sie plötzlich in Sprachen reden können, die sie niemals gelernt haben.

Liebe Gemeinde, man darf die Bilder, die Lukas für den Geist gefunden hat, nicht ganz wörtlich nehmen. Genau das haben die unbekannten Meister mittelalterlicher Bilder getan, aber mit dieser Anschaulichkeit haben sie die Betrachter ihrer Altarbilder und Deckenfresken auch in die Irre geführt. Die Bilder machen das Wunder anschaulich, das in Jerusalem geschah. Das eigentliche Wunder von Jerusalem aber besteht nicht in Zungen, Wind und Feuer, sondern in Verständigung, Orientierung und geistlicher Gemeinschaft. Mit Metaphysik und Magie hat es wenig zu tun.

Auch das kann man sehr gut an den Pfingstbildern mittelalterlicher Meister lernen. Oft sitzen oder stehen die Jünger im Halbkreis, manchmal zusammen mit Maria, der Mutter Jesu. Alle tragen sie lange, in Falten fallende Gewänder, unter denen die nackten Füße hervorschauen. Mit ihren Händen zeigen sie aufeinander, oder sie halten Bücher und Schriften, in denen sie gerade studiert haben. Über ihnen im blauen Himmel schwebt die golden strahlende Taube des Heiligen Geistes.

Entscheidend ist aber: Die Köpfe der Jünger befinden sich alle auf gleicher Höhe. Alle Jünger tragen den gleichen Heiligenschein. Von der Taube des Heiligen Geistes gehen zwölf Strahlen aus. Alle Jünger haben am Geist in derselben Weise Anteil. Der Heilige Geist macht die Jünger gleich, und deshalb begegnen sie sich in einem Halbkreis auf Augenhöhe. Das ist das Pfingstwunder: Der Heilige Geist verbindet die Jünger zu einer neuen Gemeinschaft mit dem Auferstandenen. Sie beruht auf der Gleichheit aller: Niemand wird bevorzugt, niemand wird benachteiligt. Es entsteht eine Gruppe, in der sich weder eine klerikale Hierarchie noch eine soziale Hühnerleiter spiegelt. Kein Jünger gibt sich den vergangenen Rivalen- und Rangordnungskämpfen hin, die die Leser der Evangelien noch in unguter Erinnerung haben. Kein konsistoriales Personalreferat teilt die Jünger nach Besoldungsgruppen, Tarifen und den liebevoll gepflegten privaten Vorlieben ein. Diese Gemeinschaft braucht auch keine Reformleuchttürme, denn sie leuchtet schon von selbst, nämlich durch die Kraft des Heiligen Geistes. Und sie leuchtet nicht nur nach innen, sondern auch nach außen.

Diese durch Verständigung gebildete geistliche Gemeinschaft strahlt auf andere aus. Sie findet ihren besonderen Zweck darin, daß diese geistliche Gemeinschaft sich teilt und ausbreitet. Die geistlichen Kräfte, die von Gott kommen, heben die Abstoßungskräfte auf, welche Menschen voneinander trennen. Der Enthusiasmus des Geistes wirkt gegen Angst, Einsamkeit und Verzweiflung.

Die Kraft des Geistes erzielt bei den Jüngern eine dreifache Wirkung.

Zum einen gewinnen sie ein neues Verhältnis zur eigenen Lebensgeschichte. Die Jünger haben sich nicht an Pfingsten kennengelernt. Sie haben sich, als Jesus noch lebte, gegenseitig beschimpft, sie haben versucht, sich zu übertreffen. Sie wollten vor Jesus unbedingt anerkannt sein und gewürdigt werden. Trotzdem haben sie Jesus verraten. In der Kraft des Heiligen Geistes ist das nicht vergessen, aber diese unschönen Geschichten wirken sich nicht mehr verhängnisvoll auf die gegenwärtige Gemeinschaft der Jünger aus. Sie können im Licht der Vergebung auf ihre Vergangenheit blicken.

Zum zweiten ebnen sich Unterschiede ein. Der dauernde Wettbewerb wird eingestellt. Die Jünger müssen sich nicht mehr gegenseitig übertrumpfen. Im Heiligen Geist gewinnen sie eine Gemeinschaft, die sie zu Brüdern (und Schwestern) im Geiste Christi zusammenfügt.

Und zum dritten überwinden die Jünger in der Kraft des Heiligen Geistes ihr Alleinsein. Sie müssen nicht mehr für sich selbst kämpfen. Sie können ihre Lebensziele neu ausrichten, weil sie nicht mehr an die Ziele Selbstbehauptung und Selbstbewährung und Selbstrechtfertigung gefesselt sind.

Der Evangelist erklärt die Wirkungen des Geistes mit Hilfe eines Zitats aus dem Alten Testament. Der Geist überrascht die Jünger. Sein Kommen setzt nach Kreuz und Auferstehung Jesu Christi  die Geschichte fort, die Gott mit dem Volk Israel begonnen hat. Die Befreiung Israels aus Ägypten entspricht der Befreiung, die der Heilige Geist der ersten christlichen Gemeinde stiftet. Und damit hört es nicht auf.

Diese Kraft des Heiligen Geistes strahlt nicht nur auf die Jünger aus. Gott hat sie allen Menschen verheißen, die in der Nachfolge der Jünger in christlichen Gemeinden leben, in der gesamten Ökumene. Es kommt entscheidend darauf an, den Geist zu empfangen. Wer versucht, ihn durch Höchstleistungen und anstrengende Werke herbeizuarbeiten, der wird scheitern, weil er nur Hierarchien befestigt und Grenzmauern erhöht. Wer aber auf den Geist warten kann, dem ist eine Kraft Gottes verheißen, die kein Gemeindeaufbauprogramm und keine Kirchenreform zum Verstummen bringen kann. Wer auf den Geist wartet, der lebt aus dem Gebet, aus der Bitte an Gott, daß er wachsen lassen möge, was Menschen nicht zum Wachsen bringen können. Wer auf den Geist wartet, der lebt aus einer Haltung der Achtsamkeit und Geduld, aus dem Verzicht auf ein überstürztes und vorschnelles Handeln, das mehr zerstört als es aufbaut. Wer auf den Geist wartet, der lebt aus einer Haltung des Respekts vor der Würde seiner Schwestern und Brüder, aus dem tiefen Glauben, daß sie alle in gleicher Weise vom Auferstandenen angenommen sind.

Wer – gerade an Pfingsten – auf den Geist warten kann, der wird nicht enttäuscht. Wer den Geist spürt, der wird zum geduldigen Beter, der den Atem seiner Mitbrüder und -schwestern an seiner Seite spürt. Das ist die größte Hoffnung der Christen, die am besten und nachhaltigsten Gemeinde baut und erbaut. Und jeder kann das spüren, daß der Geist wirkt: Jemand kann plötzlich über seinen eigenen Schatten springen. Neue Bewegungen und Veränderungen ergeben sich. Streit verwandelt sich in Gespräch und Aufeinanderhören. Unverständnis und Unwissenheit verwandeln sich in Verständnis, Gnade und Liebe. Gemeinden verlassen sich nicht mehr auf sich selbst, sondern gehen im Vertrauen auf Gott Schritte, die sie sonst unterlassen hätten.

Gott zwingt niemanden, solche Schritte zu tun. Aber er traut sie jedem zu, der getauft ist.

Darum bitten wir: Komm, Heiliger Geist! Amen.

 

Perikope
15.05.2016
2,1-21