Gott im Rückspiegel – Predigt zu Exodus 33,17b-23 von Olaf Waßmuth
33,17b-23

Gott im Rückspiegel – Predigt zu Exodus 33,17b-23 von Olaf Waßmuth

Liebe Gemeinde,
„hast Du Gott schon mal gesehen?“ Die fünfjährige Lilli wippt vor mir auf den Zehenspitzen und schaut mich mit großen Augen an. Erwartungsvoll und ein wenig herausfordernd. Jetzt ist der Moment der Wahrheit gekommen. Als Pfarrer im Kindergarten muss ich mir diese Frage stellen lassen. Aber viele andere, die mit Kindern zu tun haben, kennen sie auch.

„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Was soll ich antworten? Was würden Sie antworten? Natürlich muss ich Nein sagen. Ich muss Lilli enttäuschen – und alle anderen, die von einem Pfarrer rührender Weise erwarten, dass er über geheime Einsichten und Offenbarungen verfügt. Tut er nicht.

Allerdings: So ganz wohl ist es mir mit dem Nein auch nicht: Denn natürlich habe ich Erfahrungen mit Gott – nur nicht solche, die das Wort „Sehen“ im wörtlichen Sinne rechtfertigen. Wie soll ich darüber reden?

Wo es keine leichten Antworten gibt, wo weder Ja noch Nein so ganz richtig sind – da erzählt die Bibel Geschichten. Kaum einer ist in der Bibel Gott derart nahe gekommen wie Mose im Sinai. Hören wir heute morgen seine Geschichte – ich lese aus dem zweiten Buch Mose, Kapitel 33:

Der Herr sprach zu Mose: Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen. Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des HERRN vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.

„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Ganz sicher kannte Mose diese Frage auch. Zumal alle wussten: Mose redet mit Gott. Regelmäßig. Er ist auf den heiligen Berg Horeb gestiegen. Er war drin in der Wolke, näher dran als sonst irgendeiner. Natürlich hat er Gott gesehen –wenn nicht er, wer dann?

Und doch kann Mose auf die Frage nicht ehrlich mit Ja antworten. Und das setzt ihm zu. Der Widerstand im Volk wächst. Seine Autorität ist nicht unhinterfragt. Je umstrittener die Wahrheit ist, für die man eintritt, umso dringender wünschte man, man hätte etwas Unabweisbares in der Hand. Etwas, worüber nicht mehr argumentiert und gestritten werden muss.

Auch wir Religionsprofis wünschten uns manchmal, die Sache mit Gott wäre klarer, augenscheinlicher. Wir könnten die Zweifler und Spötter einfach widerlegen. Die Debatten um die Wahrheit – sie gestalten sich dieser Tage besonders mühsam und mancher schließt daraus, so etwas wie Wahrheit gäbe es gar nicht.

Immerhin: Mose hat den Draht zu Gott. Er wendet sich direkt an ihn mit seinem Anliegen. Die Fragen der Anderen vermischen sich darin mit seinem eigenen Zweifel. Wir belauschen eine Art Backstage-Gespräch zwischen Gott und Mose, das große Vertrautheit belegt, aber eben auch eine letzte Reserve. Gott sagt dem Mose die schönsten und aufmunterndsten Dinge, die man sich denken kann: „Du hast Gnade bei mir gefunden.“ „Ich kenne deinen Namen.“ Und ein paar Zeilen zuvor:     „Ich will dich zur Ruhe leiten“.
Doch diese Zusagen reichen Mose nicht. Er will mehr. Und so entsteht aus dem merkwürdigen Dialog eine noch merkwürdigere Szene – eine Art Versuchsanordnung, die Gott selbst vorschlägt. Es bleibt übrigens bei der Beschreibung, die Ausführung des göttlichen Experiments wird nicht berichtet. Doch die Szene hat es auch so in sich: Sie liest sich wie ein Gleichnis für die menschliche Gotteserfahrung.

Der Mensch Mose soll sich in eine Felsspalte stellen. Da wird er sicher sein, geschützt vor der Urgewalt der göttlichen Präsenz. Der sichere Ort ist aber auch ein Ort beschränkter Sicht. Und die Deckung reicht noch nicht einmal – wenn Gott dann tatsächlich draußen vorbeigeht, sollen Mose die Augen zugehalten werden. Gott selbst hält Mose die Augen zu. Die Heiligkeit Gottes blendet wie das Sonnenlicht, in das man nicht ungeschützt schauen kann, ohne zu erblinden. Erst nachdem Gott vorbeigegangen ist, darf der Mensch Mose ihn von hinten sehen: im Weggehen, im Nachlassen und Verdimmen seiner göttlichen Kraft.
Was für ein Bild! Gott ist für den Menschen einfach zuviel, jedenfalls Gott direkt, Gott in seiner Herrlichkeit. Darüber darf die Menschlichkeit Gottes in der Bibel nicht hinwegtäuschen: Es bleibt ein „unendlicher qualitativer Unterschied“ zwischen Schöpfer und Geschöpf, wie der Theologe Karl Barth das genannt hat. Wenn Gott Gott ist, dann kann ihn kein Mensch fassen.

Was für ein Gedanke! Dass wir Gott im Moment seiner größten Nähe am wenigsten erkennen können. Es ist ein Paradox, das an vielen Stellen der Bibel anklingt, nicht zuletzt im Kreuz Jesu. Da, wo das Rätsel unseres Lebens besonders groß ist, wo uns die Fragen quälen, wo Dunkel uns umgibt – da werden uns womöglich nur die Augen zugehalten und Gott ist gerade nahe. Ohne dass wir ihn „sehen“. Ohne dass wir verstehen, was mit uns geschieht.
Mose macht eine Erfahrung an der Grenze. Nicht an Gottes Grenze. Nein, die Begegnung mit Gott konfrontiert ihn mit seiner eigenen Beschränktheit und Verwundbarkeit. Darüber reden wir in der Kirche kaum. Wir reden über Gottes Freundlichkeit und Zugänglichkeit – zu Recht, denn beides erfährt Mose auch in dieser Geschichte. Aber wir reden selten über die Grenze, die uns Menschen gesetzt ist.Über die Fremdheit und Unverfügbarkeit Gottes. Darüber, dass wir Menschen Gott nur in Maßen „aushalten“. Wir vertragen die Wahrheit voerst nur dosiert. In Abschattungen und Annäherungen.

Die gute Nachricht dieser Geschichte ist: Wir können Gott trotzdem erkennen. Der Prozess der Begegnung mit Gott in unserem beschränkten menschlichen Leben wird hier sogar ziemlich genau beschrieben. In vier Schritten - und von Gott selbst.

"Zuerst - sagt Gott - will ich vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen“. (Ex 33,19a)
Damit beginnt es: Ich nehme Spuren wahr in meinem Leben. Ich realisiere dankbar und fröhlich, was mir an Gutem widerfährt. Ich bin ein beschenkter Mensch. Mein Leben und alles, was ich wirklich liebe, ist nicht mein Verdienst. Das zu sehen, ist der erste Schritt.

"Dann - sagt Gott - will ich ausrufen den Namen des Herrn vor dir.“ (Ex 33,19b)
Irgendwann haben wir von Gott gehört. Manche von Kindesbeinen an, manche erst viel später. Wir haben den Namen Gottes kennengelernt, und das heißt: die Geschichten, die Botschaft, die Zusagen, die sich mit diesem Namen verbinden. Mag sein, dass wir das Gehörte und das selbst Erlebte nur schwer zusammen bekommen haben. Dafür braucht es Zeit – und Abstand.
Denn es kann passieren – sagt Gott –, dass „ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten“ (Ex 33,22a) werde.
Das Nicht-Verstehen und Zweifeln kann ein notwendiger Teil der Begegnung mit Gott sein. Und alle, die zu schnell wissen, wer Gott ist und was Gott will, die machen sich womöglich etwas vor.

"Schließlich aber - sagt Gott - will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen“. (Ex 33,23a)
Nach einer Weile macht es Klick. Was wir erlebt haben und was wir von Anderen hören, reimt sich zusammen. Wir erkennen uns und unser Leben in Gottes Licht – oft erst im Nachhinein. „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, hat der Philosoph Sören Kierkegaard gesagt. Das gilt für Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gleichermaßen. Wir sehen Gott gleichsam im Rückspiegel. Wir „haben“ die Wahrheit nie, sondern blicken ihr nach. Wir dürfen verstehen – aber nur so, dass wir uns nicht überheben.

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„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Wenn diese Frage Ihnen gestellt wird, liebe Gemeinde, dann ermutige ich Sie, nicht einfach Nein zu sagen.
Dann erzählen Sie von den Spuren der Güte Gottes in Ihrem Leben.
Dann berichten Sie vom Namen Gottes, den andere Ihnen vorgesprochen haben. Dann reden Sie ehrlich über Unsicherheit und Zweifel.
Und vielleicht – hoffentlich! – können Sie bezeugen, wie sich im Rückblick so manches zusammenfügte. Wie Ihre eigene Geschichte Sie auf den unsichtbaren Gott vertrauen lässt.

Denn sehen können wir beschränkten Geschöpfe Gott nicht. Aber erfahren lässt er sich sehr wohl. Amen.