Gottes Menschendienstkritik – Predigt zu Amos 5,21-24 von Dörte Gebhard
5,21-24

Gottes Menschendienstkritik – Predigt zu Amos 5,21-24 von Dörte Gebhard

Gnade sei mit euch, von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde

„Amazing Grace“ ... ist das nicht ein echter Ohrwurm?! Am liebsten möchte ich mich zurücklehnen, weitersummen ... Ausserdem ist es Musikweltkulturerbe! Es gefällt nicht nur mir. Ob es überhaupt Lieder gibt, die noch bekannter sind? Aber. Aber, wenn ich ganz ehrlich bin, etwas süsslich ist es schon – gleich am Anfang! Zum Glück ist es auf englisch und nicht auf deutsch. Wobei englisch singen auch nicht jedermanns Sache ist, nicht wahr?!

Manche hätten lieber alles auf deutsch.Einige bevorzugen sogar Mundart, ganz entschieden.Andere probieren gerne etwas auch, singen spanisch oder etwas, das ihnen so vorkommt, auch wenn die Aussprache Spaniern ganz sicher gar nicht spanisch vorkäme.Wieder andere singen immer gern alle Strophen, von allen Liedern. Aber manche finden dafür die Kirche etwas zu kühl ... um noch länger zu sitzen. Wieder andere finden die Sitzkissen zu dünn, die Bänke zu hart und die Heizung darunter etwas zu heiss. Sie lässt unsere Gesangbücher nicht selten aus dem Leim gehen.

Wieder andere finden „eigentlich“ und sagen es nur nicht laut, dass sie am liebsten und ohnehin bei jedem Lied stehen würden. Man singt auch gleich viel besser! Wieder andere können gar nicht aufstehen, obwohl sie es von ganzem Herzen wünschen, nichts lieber hätten, als den Rollstuhl davonrollen lassen zu können.

Wieder andere sängen gern viel mehr viel neuere Lieder, denn die früheren kennen sie kaum. Wieder andere sängen am liebsten gerade diese sehr alten Lieder, eben weil sie sie so gut kennen, weil sie so vertraut sind, weil herrliche Erinnerungen an die Junge Kirche aufkommen.

Wieder andere lernen gern ein völlig neues Lied, einige am liebsten mit Noten, andere lieber ohne, nur durch Zuhören.Wieder andere finden die Musik manchmal zu laut oder die Orgel zu leise oder zu langsam oder zu schnell oder zu schrill oder zu dumpf oder überhaupt Orgelmusik zu sonderbar ...  

Wir sind mittendrin – nein, nicht in der Gottesdienstkritik, wie es meist genannt wird, wir üben uns bis jetzt „nur“ in Menschendienstkritik!

Und die Musik ist nicht alles! Mit ihr geht es nur sonntags in der Kirche meistens los.

Auch sonst kann es in der Kirche auf viele Arten unangenehm sein: zu düster oder die Sonne blendet zu stark von der Seite. Manch einem ist der Beginn der Feier viel zu früh am einzigen Tag der Woche, an dem man wirklich ausschlafen könnte. Anderen dünkt es viel zu spät, sie wollen ja noch wandern gehen, bei dem Wetter.

Hier breche ich ab, jede und jeder hier weiss, was es noch alles zu sagen gäbe über Kanzel und Pult, Kunstwerke in Kirchen, Predigtlänge und Art und Weise der Gebete und ... und ... und ...Bei mir selbst gehört es zum Auftrag, Predigten und Liturgien kritisch anzuschauen, bei Vikaren und Vikarinnen zu prüfen und zu examinieren.

Mehr oder weniger harsche Kritik gibt es schon so lange wie Menschen Gottesdienst feiern.

Sofort stechen wesentliche Erkenntnisse ins Auge:

1. Auch nach 2000 Jahren gibt es noch jede Menge Verbesserungsmöglichkeiten, für jede Generation Christen neu.

2. Es gibt Dinge, die niemand, auch nicht mit bestem Willen, ändern kann.

3. Es ist unmöglich, es allen recht zu machen, auch wenn man 1. und 2. präzise voneinander unterscheidet.

3a. Es ist ein grosser Trost, dass noch nie auf der Welt und durch die Zeiten hindurch ein Sonntagmorgen dem anderen auf’s Haar glich. Immer wieder ist es anders. So kann man richtig viel falsch machen, aber auch positiv überrascht werden und alles besser als erwartet antreffen.

Aber auch die Kritik geht mit der Zeit, ändert sich, wandelt sich.

Im Norden gibt es an Kanzeln manchmal noch alte Sanduhren. Die dienten u.a. (!) dazu, dass der Prediger nicht zu kurz sprach. Schliesslich wurde er für’s Predigen bezahlt. Predigten unter einer Stunde konnten zum verheerenden Urteil „schlecht vorbereitet“ führen. Noch viel interessanter ist jedoch die älteste „Würdigung“ eines Gottesdienstes, die uns bekannt ist. Es ist Gottes eigene Dienstkritik. Sie findet sich beim Propheten Amos. Hören wir aus dem 5. Kapitel beim Propheten Amos, wie Gott selbst über sogenannte Gottesdienste spricht:

Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen –  es sei denn, ihr bringt mir rechte Brandopfer dar –, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!

Liebe Gemeinde

Im ersten Augenblick macht sich Erleichterung breit. Unser Zusammensein heute morgen ist für meine Nase recht geruchsneutral. Zu fette Schlachtopfer sind wirklich nicht unser Problem und Harfenspiel ist in Schöftland so selten, dass man nicht viel verpasst, wenn man es aus persönlichen oder aus geschmacklichen Gründen lieber auslassen möchte.

Aber auf den zweiten Blick ändert sich die Perspektive radikal und eine Bekehrung wird fällig. Luxussorgen haben wir!Wahrscheinlich sind wir nicht ganz „bei Trost“. Wahrscheinlich wissen wir gar nicht, wie gut es uns geht.

Die Wahrheit beginnt durchzuscheinen. Wahr scheinlich, so sagt es dieses Wörtchen ganz bestimmt.

Nicht in irgendeinem Entwicklungsland, sondern im Vereinigen Königreich, vor den Toren Londons, in der Diözese Rochester, haben sie z. B. nicht solche Probleme bei der Auswahl passender Musik. Gespielt wird, was auf auf einem nicht gerade neuen Keyboard geht, denn Geld, um die alte Orgel zu renovieren, ist nicht einmal von Ferne in Sicht. Zuerst würde man ohnehin jeden Penny ins Dach stecken, damit es endlich nicht mehr durchregnet, damit Sister Penny, die Gemeindeschwester, keine Eimer mehr zwischen den Kirchenbänken hin- und herschieben muss, immer dorthin, wo es gerade tropft. Sie kommen dort aber auch bei Regen fröhlich in grosser oder kleiner Runde zusammen.

Im sog. „calvinistischen Rom“, in Debrecen, steht die grösste reformierte Kirche Ungarns. Ein imposanter, grossartiger, innen schlichter Bau, der leuchtend gelb mit der Sonne um die Wette strahlt. Man tritt ein und fühlt sich sofort erfrischt. Sobald das erste Lied beginnt, stellt man fest: Man kann das Gesangbuch auch mit Handschuhen festhalten – und Handschuhe empfehlen sich in der ungeheizten Kirche auch noch im April, wenn man draussen längst im Strassencafe sitzen kann. Die Predigt bei 8 Grad muss dann auch von innen heraus wärmen.

Ahnen wir, wie beneidenswert manche unserer Sorgen hierzulande sind?In Kent und Ostungarn, ganz zu schweigen von anderen Weltgegenden, in denen manche von Euch schon waren, hätten sie vielleicht gern unsere Probleme.

 Aber ...

... doch nur für einen allerersten, kleinen Moment.

Denn Gottes Menschendienstkritik trifft uns mit voller Wucht, nicht nur ‚wahrscheinlich’. Manche sind schon auf die Frage gekommen, ob es uns in Westeuropa insgesamt zu gut geht für den christlichen Glauben. Haben manche von allem zu viel, dass sie nicht mehr sehen, was sie wirklich bräuchten?

Der christliche Glaube breitete sich damals und breitet sich gegenwärtig unter den Ärmeren und Ärmsten der Welt aus.

 

Trieft hierzulande das Fett zu sehr? Opfert die Mehrheit wohlmöglich falsch vor sich hin? Denn Opfer bringe ich alle Tage reichlich: an Zeit, an Aufmerksamkeit, an Kraft und Nerven, an Energie – und nicht in jedem Fall für wirklich notwendige Sachen, sondern z. B. für die Kinkerlitzchen des Alltags, für die Skandälchen, die die Medien mir vor Augen spülen, für Reklame und Unfug im weltweiten Netz ...

Sind unsere Kirchen zu gemütlich warm? Die Sitze zu gepolstert? Die Musik zu harmonisch? Und bin ich ein Kamel, dass vor lauter Hab und Gut und Geschlepp zwischen den Höckern gar nicht das Nadelöhr sieht, durch das ich mit allem noch viel weniger passen werde als sowieso schon nicht? Denn ein Reicher, der nicht teilt, ist bekanntlich wie ein Kamel vor dem Nadelöhr.

Amos richtet Gottes Wort genau an die reichen, mit Besitz beladenen Kamele aus, die sonntags scheinbar Gottesdienst feiern, dass es bis zum Himmel stinkt und in der Woche keinen Gedanken an irgendeinen Dienst verschwenden. Die Menschendienstkritik Gottes hat noch einen entscheidenden Nachsatz, den Amos niemandem vorenthält:

Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Dieses Gebot gilt immer, nicht nur sonntags zwischen halb zehn und halb elf. Ja, Gottes Menschendienst findet vorwiegend werktags statt, sonntags kommen wir als Gemeinde – verhältnismässig kurz – zusammen, um uns für den Rest der Woche stärken zu lassen: von Gott zu unserem Dienst in der Welt.

Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg, deutscher Dichter, hat es auf den Punkt gebracht:

„Unser ganzes Leben ist Gottesdienst.“ Man kann auch sagen: Unser ganzes Leben sei gottwohlgefälliger Menschendienst.

Gottwohlgefälliger Menschendienst beginnt schon am Samstagabend, wenn wir alle noch nicht zusammen singen, sondern jede und jeder Fürbitte für die anderen hält. Gottwohlgefälliger Menschendienst zeigt sich möglicherweise dienstags (!) in jenem Moment, in dem jemand den zehnten Teil seiner Einkünfte spendet, wie es manche in unserer Gemeinde tun. Gottwohlgefälliger Menschendienst wird auch nachher noch beim Kirchenkaffee zu spüren sein, wenn wir einander zuhören und unsere kleinen und grossen Sorgen miteinander teilen. Gottwohlgefälliger Menschendienst kann sehr unauffällig im Bundeshaus/Bundestag, sogar gleichzeitig zu einer Plenarsitzung stattfinden, wenn sich christliche Abgeordnete für mehr Gerechtigkeit in Recht und Gesetz einsetzen.

Gottwohlgefälliger Menschendienst findet überall statt, wo Menschen verstehen und glauben, dass alles Tun und Lassen, das menschenfreundlich und menschendienlich ist, Gott gefällt.  

Und dann ist es übrigens nicht besonders schrecklich, wenn es sonntags in der Kirche mal komisch riecht oder ich selbst irgendwen in der Gemeinde nicht recht riechen kann, wenn die Musik mal zu laut oder zu leise durchs Kirchenschiff schallt, wenn manche Lieder zu alt oder zu neu sind, wenn die Heizung einmal ausfallen sollte oder ich mich insgesamt wie ein Kamel anstelle, wenn ich mich eigentlich für mehr Gerechtigkeit einsetzen sollte. In diesen Momenten bin ich besonders dankbar für „Amazing Grace“, Gottes wunderbare Gnade.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, Amen.