„Ich auch“ - Predigt zu Deuteronomium 7, 6-12 von Silvia Mustert
7,6-12

„Ich auch“ - Predigt zu Deuteronomium 7, 6-12 von Silvia Mustert

Sie streckt ihren Kopf durch die Tür. „Ich auch?“ fragt sie und lächelt mich an. Ich nicke ihr zu. Sie drückt die Außentür ganz auf und betritt den weichen Teppich. Wir begegnen uns im Erlebnisraum Taufe bei der Weltausstellung in Wittenberg. Sie ist zehn oder elf. Ihre Zöpfe erinnern ein bisschen an Pippi Langstrumpf. Knallrot leuchten die beiden Hörgeräte hinter ihren Ohren. Sie steuert die blaue Liegehöhle an, die im Eingangsbereich zum Ausruhen und Einstimmen einlädt. Sorgsam rückt sie die Schutzmatte auf dem Polster zurecht und klettert auf die geschwungene Liegefläche. Dann liegt sie da und schaut auf die blauen Wölbungen der Höhle. Minutenlang. Und beginnt zu flüstern. Sie hat die Schrift über sich entdeckt. „Du bist mein geliebtes Kind“ steht da. Sie reiht die Worte aneinander und spricht sie leise vor sich hin. „Du bist mein geliebtes Kind“.

 

Worte aus einer Liebesgeschichte seit Anbeginn der Zeit.

Du bist mein geliebtes Kind.

So wie:

Fürchte dich nicht. (Gen 15,1, u.a.)

Entsetze dich nicht. Der Herr, dein Gott, ist mit dir. (Jos 1,9b)

Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein. (Jes 1,1b)

Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. (Mk 1,11b u.a.)

Ich habe euch erwählt und gesetzt, dass ihr hingeht und Frucht bringt. (Joh 15,16)

Worte von Gott an seine Menschen. Vielfach zugesagt, immer wieder anders.

Ein Liebender wendet sich an seine Geliebten. Er schafft sie nach seinem Bild. Er streift mit ihnen, als sie in Nomadenfamilien leben. Er geht mit einem Volk von Sklaven durch Wüstenzeiten in die Freiheit.

Und lässt ihnen durch Mose sagen:

Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat. (Dtn 7,6-12)

 

Geliebtes Kind. Heiliges Volk. Von Gott erwählt. Mit Regeln und Richtschnur für das Leben. Das sind große Worte, die es in sich haben.

Von Gott erwählt. Das kann Druck machen. Wenn damit unterschieden wird zwischen wertvollen und weniger wertvollen, gläubigen und weniger gläubigen Menschen. Ungnädig gehen Menschen miteinander ins Gericht, weil sie glauben, den Willen Gottes und die Worte der Bibel besser zu verstehen als andere.
Doch wer entscheidet, ob ich vor Gott gut genug bin? In Ostfriesland geht man an manchen Orten immer noch zögerlich zum Abendmahl. Die Angst, unwürdig zu sein für das Heilige, das in unserem Leben Raum gewinnen will, ist ausgeprägt. Reicht es, was ich mitbringe? Bin ich würdig und recht? Ich auch?

Von Gott erwählt. Das kann missbraucht werden. Wenn eine Religion sich damit über die andere erhebt. Wenn damit Rechthaberei und Fanatismus der Weg bereitet wird. Von Gott erwählt - das war leitend bei Glaubenskriegen und Raubzügen. Es war der Motor für falsch verstandene Mission. Es ist mit verantwortlich für die Angst, die unsere Gegenwart prägt.

Von Gott erwählt. Das kann lebensgefährlich werden. Wenn Macht nur menschlich ist und in einem Land kein Gott und kein Gebot mehr gelten. Dann kann es das Leben kosten, sich zu Gott zu bekennen.

Geliebtes Kind. Heiliges Volk. Von Gott erwählt.
Das sind große Worte. Sie ziehen sich durch die ganze Bibel, immer wieder anders formuliert. Missverstanden und missbraucht wie so viele Liebesworte. Erwählung durch einen Gott kann eigentlich nicht mehr ausgesprochen werden in einer Welt, in der Toleranz einer der letzten Anker für den Frieden ist.

 

Doch trotz aller Missverständnisse ist der Gedanke der Erwählung für den Glauben des Volkes Israels und für den christlichen Glauben bis heute nicht aufgebbar. Denn tolerant kann nur sein, wer auf dem sicheren Boden einer eigenen Überzeugung steht. Heute, in diesem Gottesdienst, rücken die Erwählung des Volkes Israel und unsere Taufe ganz nah nebeneinander. Der Wochenspruch, die Lesungen und der Predigttext legen sie in eine Spur. Wenn wir getauft werden und taufen, wenn wir Sonntag für Sonntag davon sprechen, dass wir an „die Gemeinschaft der Heiligen“ glauben, begeben wir uns in die Liebesgeschichte Gottes von Anbeginn der Zeit. Geliebtes Kind. Heiliges Volk. Wir auch? Heute Morgen? Hier? Wir? Vielleicht noch müde, abgelenkt, zögernd, sorgenbeladen, aufgabenüberlastet, wir 30 und nicht 300? Wir auch?

 

Warum nicht? 

Es war eine zusammengewürfelte Menschenschar aus geflohenen Sklaven, orientierungslos, geschwächt und nicht besonders willensstark, die Gott zu seinem „Heiligen Volk“ gemacht hat. Im Vorderen Orient gab es damals weitaus beeindruckendere Völker, mächtiger und kulturell ambitioniert. Die hätte Gott wählen können. Wenn er denen seine Gebote gegeben hätte und sie zu seinem Volk gemacht hätte, das wäre verständlich gewesen! Aber er wählte die kleine wandernde Gruppe ohne König und ohne Land und nannte sie „Heiliges Volk“.

Er wählte Propheten, die ängstlich und zögernd waren und sich vor der Aufgabe fürchteten, die ihnen da zugemutet wurde.

Er wählte Maria, eine junge Frau ohne Stand und Ansehen und das kleine Kind im Stall.

Er wählte Menschen wie Petrus mit großem Vorsatz und kleinem Mut.

Und Blinde und Lahme und Ausgestoßene und machte sie zu seinen Gefährten.

Er zog sich zurück, wenn große Menschenmassen ihn erwarteten und wählte lieber das Gespräch zu zweit.

Er suchte die Einsamkeit, wenn man ihm die große Bühne bereitete und fand die scharfen Worte, wenn man ihn für mundtot hielt.

Er war der verspottete König am Kreuz. Und ist der Auferstandene, der Gekrönte.

Immer war und ist er anders als gedacht.

Immer wählt er anders als gedacht.

Immer anders.
Sünde und Güte stehen bei ihm nah beieinander.

Das Nein wird nicht gestrichen. Aber es klingt schon nach Ja.

Der Geist der Gewaltlosigkeit regiert.
Der Stärkere gewinnt nicht automatisch und gute Argumente haben Vorrang.
Es ist nicht wichtig, was ihr könnt, was ihr mitbringt, was ihr leistet.

Es ist nicht wichtig, wie viele ihr seid.

Es ist nicht wichtig, was Menschen über euch denken.

Denn Gott entscheidet.

Zahlen und Können und Vermögen – hört auf, euren Wert und den Wert einer christlichen Gemeinschaft am Messbaren zu messen. Deshalb taufen wir Kinder. Kleine Menschenkinder, die mit ihrem unermesslichen Dasein alle Maßregeln brechen, die wir uns im Laufe unseres Lebens so angewöhnen. Ihre Taufe ist das Wahrzeichen, dass unsere Maßstäbe nicht gelten in Gottes Welt.

Er sagt Ja, bevor wir es können.

Er wählt, nicht wir.

Lasst euch rufen. Kommt zusammen.
Seht und staunt und erzählt einander von dem, was das Leben ändern kann.
Es ist nicht wichtig, wie viele dann da sind und wer.

Die, die da sind, sind die Richtigen.

Denn Gott sieht sie an.

Geliebte Kinder. Heiliges Volk.

 

Das Mädchen mit den Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und den knallroten Hörgeräten.
Die Schwangere mit dem schönen Babybauch.

Der sportliche Fahrradfahrer, der zufällig in Wittenberg landete.

Die Dame mit dem kecken Hütchen und dem wachen Geist, vor 92 Jahren getauft.

Die Diakonin, müde von ihrem Kinderprogramm bei der Weltausstellung.

Der pensionierte Oberstudienrat, der alles besser wusste und lange blieb.

Der Bruder der Landstraße, der schüchtern seine Mütze vom Kopf zog.

Und du.

Und ich.

Geliebte Kinder. Heiliges Volk. Wir auch. Denn Gott sieht uns an.
Amen

Perikope
Datum 23.07.2017
Bibelbuch: 5. Mose
Kapitel / Verse: 7,6-12