Ins Reine kommen - Predigt zu Jesaja 1,10-17 von Martin Schmid

Ins Reine kommen - Predigt zu Jesaja 1,10-17 von Martin Schmid

Ins Reine kommen

Höret des Herrn Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir – wer fordert denn von euch, dass ihr meinen Vorhof zertretet? Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumonde und Sabbate, wenn ihr zusammenkommt, Frevel und Festversammlung mag ich nicht! Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin’s müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwe Sache!

Liebe Gemeinde!

Man hat den Bußtag in den Winkel gedrängt, seit er kein gesetzlicher Feiertag mehr ist. Das ist bedauerlich. Denn durch Buße kommt ein Leben wieder in Ordnung. Nun steht der Bußtag in der Ecke, und wir haben alle ein bisschen dazu beigetragen. Denn oft haben wir gemeint, Buße könne bloß unerfreulich sein und düster. Unter einem, der Buße tut, haben wir uns jemand vorgestellt, der gewissermaßen in Sack und Asche geht. Dabei hatte Martin Luther in Wittenberg mit der ersten seiner 95 Thesen für eine lebenslange Buße geworben: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte ´tut Buße´, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Und das konnte doch nicht bedeuten, dass die Glaubenden ihr Leben lang nichts zu lachen hätten.

Vielleicht ist ein Bußtag deshalb zuerst ein Putztag. „Wascht euch, reinigt euch“ hatte der Prophet Jesaja einst seinen Zeitgenossen zugerufen. Er könnte es auch uns sagen wollen. Damit wir die Bilder aus unseren Köpfen räumen, die wir von der Buße haben. Heute muss es zuerst einmal heißen: andere Bilder in den Kopf!

Dafür möchte ich ein Bild vorschlagen, das ursprünglich aus einem Psalm stammt. Der Glaubende gleiche dem einsamen Vogel auf dem Dach, meint der Psalm 102. Der Maler Marc Chagall hat dann statt eines Vogels einen Menschen gemalt: Auf dem Dach einer baufälligen Hütte sitzt ein Mann mit roter Mütze und zerschlissenem Gehrock und spielt auf seiner Geige. Im Hintergrund ist ein Dorf erkennbar. Es ist ein jüdisches Dorf. Und der Fiedler lauscht offenbar auf das, was rings um ihn her geschieht. So stimmt das Bild überein und so klingt das Spiel zusammen mit dem Leben im Dorf, seinem Werktagstreiben und seinen Sabbatfeiern. Und Bild und Spiel sind schön trotz der Bedrohungen, die vom Rande der Szene her zu ahnen sind. – Auch so könnte die Buße aussehen!

Eins ist klar: eine Geige muss man stimmen, jeden Tag, jedes Mal, wenn man sie in die Hand nimmt. Doch ist das eine Mühe, die keinen Spieler bedrückt. Und wenn ein ganzes Orchester am Stimmen ist, beginnt sogar für manche Hörer schon die Musik. Wir selbst gleichen der Geige, die gestimmt werden muss. Buße tun ist wie das Stimmen einer Geige.  Es ist eine Korrektur. Aber es ist zugleich etwas Erfreuliches: das Einschwingen in den richtigen Ton. Und Gott hilft uns, dass es dabei nicht bloß zu einem mühsamen Schaben und Kratzen kommt. Gott schenkt uns die Chance, Buße zu tun. Missklänge, die wir schon hervorgebracht haben bei dem Versuch, die Melodie unseres Lebens zu spielen, kommen wieder in Ordnung.

Deshalb empfand man schon in Israel einst, dass die Buße nicht nur schmerzt, sondern dass sie auch ihre erfreuliche Seite hat. Man durfte Gott dankbar sein dafür, dass er die Möglichkeit eingeräumt hat, Fehler zu korrigieren durch das Darbringen eines Opfers. Das konnte wehtun. Aber danach war eben die Welt wieder in Ordnung. Kein Wunder, dass es sogar Opferfeste gab, bei denen die Menschen fröhlich beim gemeinsamen Mahl saßen. Der Fiedler hätte dazu aufspielen können.

Dann aber diese unfassliche Zurückweisung aller frommen Bemühungen: „Was soll mir die Menge eurer Opfer?“ – „Ich bin es satt.“ – „Ich habe kein Gefallen daran.“ – „Es ist mir ein Gräuel.“ – „Ich mag eure Feste nicht, eure Zusammenkünfte am Festtag und Sabbat.“ – „Ich höre noch nicht einmal eure Gebete.“ Jesaja rief es seinen Landsleuten zu, im Namen Gottes! Wird da nicht alle Buße verhöhnt? Wird nicht den Musikanten die Geige aus der Hand geschlagen? Wären die Menschen vom Glauben abgefallen oder hätten sie sich dem Götzendienst hingegeben, könnte man es noch verstehen. Aber diese Opferfeste und Zusammenkünfte und Sabbatfeiern – das waren doch lauter Gottesdienste! Was war geschehen? Wir würden es vielleicht mit einem Achselzucken quittieren, die Bibel tut das nicht: falsche Töne waren aufgekommen im Gottesdienst. Unerträglich findet das der Prophet. Gottes Ohren würden dadurch beschwert. Und gegen so etwas kämpft er mit aller Schärfe. Denn wenn schon der einzelne Glaubende gestimmt werden muss wie ein Instrument, dann gilt dies noch viel mehr für den Gottesdienst. Er muss nicht stimmungsvoll sein, aber richtig gestimmt. Sogar der Vogel, so haben schon die alten Ausleger jenes Psalms gesagt, lauscht in den Wind, ehe er singt. Und auch die „rechte Lehre“, die seit der Reformation als Merkmal der Kirche und ihrer Gottesdienste gilt, entsteht aus dem Lauschen auf die Stimme des Guten Hirten. Sonst gäb’s nur Missklang und Ohrengraus. Würde diese Resonanz im Gottesdienst fehlen, könnte er noch so volltönend sein, er wäre doch nicht zum Anhören, eine Belastung sogar für Gott. Vergleichbar dem Götzendienst.

„Wascht euch!“, „reinigt euch!“ - ein Gottesdienst mit reinen Händen wäre zuerst einmal ein Gottesdienst mit reinen Tönen. Ein solcher Gottesdienst müsste eine Wohltat sein. Er wäre menschlich, weil von fehlsamen Menschen gemacht, und wäre doch stimmig. Er wäre ehrlich, vielleicht letztlich nicht mehr als ein ehrlicher Seufzer, aber er wäre nicht traurig. Weil das Stimmen eines Instruments nichts Trauriges ist und weil es ein Glück ist zu erfahren, dass es in unserem Feiern einen Widerhall geben kann von Gottes Stimme. Resonanzerfahrungen sind Glückserfahrungen und schön wie Musik.

Wie aber kommt es dazu, dass Gottes Stimme bei uns hörbar wird? Welches wären die angemessenen Töne dafür? Wären es die scharfen Töne für die Sünder? Oder die sanften Töne für die Verzagten? Die kräftigen Töne für die Geschwächten? Die zarten Töne für die Sensiblen? Die machtvollen Töne für die Ängstlichen? „Wascht euch“, „reinigt euch“ hatte Jesaja gesagt. Und das zielt auf reine Töne. Reine Töne, sagen wir deshalb, wären richtig und würden der Stimme Gottes entsprechen. Und woher können wir sie nehmen? Die Antwort des Propheten lautet: „Lernt Gutes zu tun.“ Dem fügt er hinzu: „Trachtet nach Recht“. Und damit nimmt er uns mit und führt uns – nicht etwa dorthin, wo man uns den Kopf wäscht, sondern zum Tor. Das Tor der Stadt war zur Zeit des Propheten Jesaja der Ort, wo Recht gesprochen wurde. Im Tor erschienen die Parteien vor dem Richter. Jede Seite brachte ihre Sicht der Dinge vor. Der Richter musste zuhören. Insbesondere dann, wenn die Stimme einer der beiden Parteien eher leise gewesen ist. Bei Waisen und Witwen war das häufig der Fall. Sie wurden oft überhört. Am Ende des Verfahrens stand der Richterspruch. War der Abschluss gelungen, dann war es wie bei einer erfolgreichen Schlichtung; jede Seite konnte das Gefühl haben, sie sei zu ihrem Recht gelangt. Im Tor konnte man lernen, zu einer Übereinstimmung zu kommen. Das war dann gut für alle, nicht nur für die unmittelbar Beteiligten. Denn nicht nur im Tor entsteht das Gute aus der Übereinstimmung.

Was können wir von dort draußen mitnehmen in den Gottesdienst? Es könnte gerade die Freude an der Übereinstimmung sein. Denn im Gottesdienst feiern wir, dass es so etwas geben kann: Ein Übereinstimmen und Zusammenklingen von uns fehlerhaften Menschen mit Gott. Die Feier kann schlicht sein, zum Beispiel am Abend eines Buß- und Bettages, oder festlich. Wichtiger ist, dass die immer mitgehört werden, die nur eine leise Stimme haben. Was einst die Waisen und Witwen waren, sind heute vielleicht Menschen, die fremd oder anders sind. Dann müssten wir Einheimischen uns fragen: wie klingt, was wir sagen, in den Ohren von denen draußen in den Notunterkünften? Und wir Evangelischen müssten uns fragen: wie klingen unsere Worte in katholischen Ohren? Und wir Gläubigen müssten bedenken: wie klingt das eigentlich in den Ohren derer, die nicht glauben? Und wir Verheirateten müssten überlegen: wie wirken wir eigentlich auf solche, die eine andere Lebensform gewählt haben? Und immer und immer müsste die Frage uns begleiten: ist das, was wir sagen und singen und tun für die Ohren Gottes erträglich, der es nicht nur gut meint mit uns, sondern auch mit denen, die wir nicht mögen? Deshalb ist es ganz praktisch, dass wir zwei Ohren haben. Denn in zwei Richtungen müssen wir lauschen. Weil nicht nur die Waisen und Witwen und Fremden eine leise Stimme haben. Auch Gott wird selten laut. Aber wo feine Ohren sind, entstehen reine Töne und gibt es einen Zusammenklang. In einem harmonischen Gottesdienst klingt der Ton, den Gott für seine Menschen angeschlagen hat, mit dem zusammen, worauf wir gestimmt sind. Gott verzeiht uns die Fehler, aber nicht so, dass er sie überhört, sondern so, dass er uns ein wenig die Hand führt.

Franz Grillparzer hat in einer Erzählung auch einen Geigenspieler geschildert. Dieser steht mit seinem Instrument am Rande eines Volksfestes. Die Menschen strömen massenhaft zu dem bunten Vergnügen, Jahrmarktmusik und die Stimmen der brodelnden Menge im Ohr. Auf den Alten achtet man kaum. Der hat überdies eine etwas merkwürdige Art des Musizierens. Er bleibt hängen bei einzelnen Tönen und Passagen, die ihm gefallen, hört ihnen nach, dehnt sie, verliebt sich geradezu in sie – und vergisst fast darüber, dass er ja eigentlich mit seinem Spiel den Leuten gefallen müsste. Denn er lebt von den Pfennigen, die man ihm in den Hut wirft. Der Erzähler besucht den Alten später in seiner Wohnung und lässt sich aus dessen Leben berichten. Nichts Großartiges ist da zu vernehmen, sondern viel Misslingen. Ähnlich wie das, was der alte Spielmann kläglich seiner Geige entlockt, klingt die ganze Melodie seines Lebens. Der Erzähler verliert den Mann dann aus den Augen. Nach einiger Zeit will er ihn wieder besuchen. Er kommt aber zu spät. Soeben wird der alte Spielmann beerdigt. In dem Quartier hatte es eine große Überschwemmung gegeben. Der alte Mann hatte die Kinder seiner Wirtsleute vor dem Ertrinken gerettet. Dabei hatte er sich eine Lungenentzündung zugezogen und war daran gestorben. Ein trauriges Ende. Aber seltsam: es bedrückt nicht, es stimmt froh. Nicht nur, weil zum Beispiel die frühere Geliebte des Spielmanns bei seiner Beerdigung wieder auftaucht. Und nicht nur, weil sogar die Geige liebevoll von dieser verwahrt wird. Sondern weil der Leser die Erzählung weglegen kann mit dem Gefühl: nun ist es gut. Vieles mag ein Missklang gewesen sein im Leben des alten Mannes. Oft schien es, als würde er vergeblich den richtigen Ton suchen. Seine Geige mag verstimmt gewesen sein. Sein Leben war es nicht.

Wie schön, wenn es das auch bei uns heißen kann: nun ist es gut. Wie schön, wenn die Tür sich öffnet, das Tor zu den helleren Räumen der Buße. Denn von Buße sprechen wir, wenn ein Leben wieder ins Reine kommt. Und Buße geschieht, wenn durch all die vielen Missklänge unseres Lebens hindurch die Stimme dessen wieder zu vernehmen ist, der es gut mit uns meint, die Stimme unseres Gottes. Ja, es ist schön und stimmt froh, wenn diese Stimme bei uns eine Resonanz findet. Und wenn dann ein paar reine Töne entstehen, ist das wie Musik. Amen.