Karfreitag für uns heute - Predigt zu Lukas 23,33-49 von Werner Grimm
23,33-49

Karfreitag für uns heute - Predigt zu Lukas 23,33-49 von Werner Grimm

Liebe Gemeinde,
vor einigen Jahren erlag ich einer seltsamen Täuschung und es ist noch nicht vergessen. Mein Blick fiel auf eines der großen Werbeplakate. Die Augen sahen zuerst nur undeutlich. Ich meinte die Linien eines bleistiftgezeichneten großen Herzes zu erkennen und darüber steht: „Ich pflege dich.“ Das berührte mich sehr. Wie schön, fand ich, und dachte an den einen oder anderen gebrechlichen Menschen in großen Nöten des Leibes und der Seele, auch an mein eigenes Alter und was kommen könnte. Es geschehen noch Zeichen und Wunder, da verspricht mir jemand: Ich will gut zu dir sein, liebevoll und respektvoll mit deinem Körper umgehen, wenn Du auf beständige Hilfe angewiesen und wenn du für die Gesellschaft nur noch ein Kostenfaktor bist. Es ist also doch nicht alles hart, gnadenlos und schlecht auf dieser Welt. Wie ich nun aber dem Plakat näher trete, sehe ich plötzlich Klartext: Die Linien des Herzes beschreiben in Wirklichkeit eine Flugroute, und das Versprechen heißt: „Ich fliege dich!“ – für 29 Euro nach Mallorca. Also doch wieder nur auf die Fun-Urlauber gezielt. Ich knurre. Am nächsten Tag erzählt mir doch zufällig ein Fahrgast in der U-Bahn, als wir am besagten Plakat vorbeifahren, also er habe von weitem und im ersten Augenblick gelesen: „Ich kriege dich!“ und er habe sich schon überlegt, wer ihm denn nun schon wieder den neuesten Schrei eines Handys andrehen und das Geld aus der Tasche ziehen will.

Ich pflege dich. Ich fliege dich. Ich kriege dich. Eben diese Welt, in der solche Versprechen höchste Aufmerksamkeit bekommen, weil sie typisch menschliche Sehnsüchte und Ängste ansprechen (um sie oft genug auszubeuten) – eben diese Welt hat Jesus ans Kreuz gebracht. Aber genau in diesem Tod des einen Liebenden gründet eine Hoffnung, die unzählig viele Menschen betrifft: Dass es bei dieser Welt von Sünde und Tod nicht bleiben werde, so lautet die Botschaft der Apostel Jesu Christi. Sie zu bedenken, dafür ist der Karfreitag ein gesetzlich geschützter Feiertag.

Er war einmal der Höchste im Leben der Evangelischen – mit Fasten in allen Häusern, mit einer Funkstille im Radio um 15 Uhr, mit einem erschütterten Bewusstsein schwarzgekleideter Kirchgänger: „Nun, Herr, was du geduldet, ist alles meine Last“. Die meisten Theologen bringen solches nur noch verschämt über die Lippen und viele Leute sagen: Das brauch ich nicht. Für mich hätte er nicht sterben müssen. Ich hätte es mir verbeten.
Karfreitag – was bedeutet er uns? Wir hören heute auf den Evangelisten Lukas. Wie hat er vom Sterben Jesu erzählt?

Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hingerichtet würden. Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land[1] bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles. (Lk 23,33-49)

Der eine von den beiden, die mit am Kreuz hängen, schmerzgepeinigt, den Tod vor Augen, – der ein wird zynisch – das einzige, womit er sich ein bisschen Luft verschaffen kann, seine in Anführungszeichen ‚Bewältigungsstrategie‘. Noch einmal zu verletzen, noch einmal über einen Menschen Hohn und Spott zu gießen: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! (Lk 23,39) Der letzte Rest von Überlegenheit, den er genießt, der letzte Triumph!
Und der andere neben Jesus? Da ist kein Zynismus. Auch jetzt noch, mitten im grauenvollen Scheitern aller Lebenspläne, ist er ernsthaft bemüht, dies und das vor Gott noch in Ordnung zu bringen – mit seiner immer noch intakten Liebesfähigkeit will er den anderen vor einem fluchenden und trostlosen Sterben bewahren. Er gehört nicht zu den Skrupellosen, nicht zu denen, denen nichts mehr heilig ist. Er ist sich seiner Schuld wohl bewusst. Vielleicht sogar, dass seine Schuldgefühle größer sind als seine objektive Schuld. Wahrscheinlich hatte er das Beste gewollt, als er sich den jüdischen Freiheitskämpfern anschloss. Als er die Schuldscheine der verarmten Landsleute zerreißen half und die Römer, die unrechtmäßigen Herren und Besatzer, „hinausdolchen“ wollte. Vielleicht war er zu naiv, falls er gemeint haben sollte, man könne als Untergrundkämpfer für die gerechte Sache im Gewissen unverletzt bleiben. Jetzt hängt er direkt neben Jesus und es zeigt sich noch einmal, dass er im Grunde ein Beziehungsmensch ist, ein Liebe-Suchender. Dass er den Gedanken einfach nicht aushalten kann, im Sterben dem Vergessen anheimzufallen, nichts weiter als – heute würden wir sagen – eine gelöschte Datei im PC der Weltgeschichte zu sein. Und er klammert sich mit einer wahnwitzigen Hoffnung an den, der da neben ihm hängt und dessen Geheimnis er zu spüren scheint: „Jesus, denk doch an mich, gedenke meiner, wenn du in dein Reich, zu deiner Königsherrschaft kommst.“[2] (Lk 23,42)
Die unter dem Druck der Schmerzen gewiss spontan-unbewusste Wortwahl des Sterbenden lässt in seine Vorstellungswelt tief blicken: Auch die Welt jenseits des Todes stellt er sich als eine monarchisch regierte Welt vor, mit einer hierarchischen Rangordnung. Auch da bräuchte es wohl gute Beziehungen. Auch da würde für den Einzelnen vieles davon abhängen, ob er, etwa bei einem Machtwechsel, auf der richtigen Seite steht. Könnte es in einem Königreich Jesu ganz unten in einem hinteren Winkel vielleicht auch für ihn, den Verbrecher, noch ein Plätzchen geben? Jesus antwortet auf die Bitte nicht mit einem einfachen „Ja“, sondern mit einem „Ja, aber“: Nicht in eine neuerliche von Herrschaft, Rangordnung und Ellbogenkämpfe geprägte Welt, nicht in ein ‚Reich‘ werden wir sterben. Selbst dem Tode nahe, mit dem „Blick nach drüben“[3] schon, korrigiert Jesus das Bild: Der da neben ihm und mit ihm am Kreuz stirbt, soll an einen Garten denken, in dem es keine Kämpfe und keine Herren und keine Untertanen geben wird. Sondern die Früchte des ewigen Lebens sind für alle gleich und in Fülle da, so wie es Gottes Plan für Adam und Eva immer schon war. Und dann wird ein Mensch ganz bei dem anderen sein. Also: „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“

Paul Gerhardt hat an den Schluss seines Liedes „O Haupt voll Blut und Wunden“ eine Liedstrophe gestellt, die man auch im Sinne des von Lukas geschilderten Bildwechsels mitsprechen und mitsingen kann: „Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod/, und lass mich sehn dein Bilde / in deiner Kreuzesnot. / Da will ich nach dir blicken …“ (eg 85,10)
Das Bild, das Jesus zuletzt eröffnet, ist nicht mehr das eines Königsthrons Gottes, sondern ein Garten. Ein Bild mit „Leitstern“-Charakter: Heute schon, schon auf dem irdischen Weg, lassen die wahren Jüngerinnen und Jünger Jesu mehr und mehr ab vom „Ich über dir“ und bewegen sich auf ein „Du mit mir“ zu. Spürbar fließt es in ihre „Beweg-Gründe“ ein. Denn sie sehen Jesu Bild in seiner Todesnot und es beginnt, sie zu verwandeln.

Liebe Gemeinde, das Geheimnis von Golgatha endgültig im Griff – das haben wir auch mit der Karfreitagserzählung des Lukas nicht. Kein Theologe wird es je umfassend darlegen können. Es bleibt da immer ein Rest. Einem Geheimnis kann man sich immer wieder nur ehrfürchtig annähern, kann bestenfalls Zeugnis davon ablegen, wie es für einen selbst Bedeutung erlangte.
Darum müsste jetzt jede und jeder für sich selbst in sich gehen, in der Tiefe des Gedächtnisses suchen nach der ureigenen Karfreitagserfahrung. Es hieße, sich zu erinnern an jene erschütterndsten Stunden unseres Lebens, in denen Jesus am Kreuz uns der Allernächste war. Sich zurück- und hineinzuversetzen in eine solche Stunde und die Worte des sterbenden Jesus noch einmal wie das erste Mal zu hören, als sie uns buchstäblich unter die Haut gingen.

Die Wahrheit des Karfreitags, dass es von Gott her so und nicht anders geschehen musste – logisch aufweisen wird das nie jemand können, so sehr wir immer wieder diese Wahrheit suchen. Deshalb berühre ich das Golgatha-Geheimnis nur, wenn ich es abschließend zu den eingangs gehörten Sätzen aus unserer Welt in Beziehung setze.
Ich pflege dich. Ja, liebevolle Pflege des hinfälligen Leibes gehört zu den Grundzügen gelebten Christentums, seitdem Jesus sich mit den Kranken, Verletzten, Versehrten identifiziert hat und seitdem er selbst auf Golgatha die Not letzter Blöße erlitten hat.
Ich kriege dich. Nein. Kein Mensch hat ein Verfügungsrecht über einen anderen Menschen. Und nicht einmal in einer glückenden Liebespartnerschaft, mag es wirkliche Nähe dort geben, kann ein Mensch je ganz des anderen sein. Und selbst in der Gewalt der Gewalttäter kommt für den Gefolterten der „dritte Tag“. Denn ein Mensch ist Gottes, seines Schöpfers. Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. (Lk 23,46)
Ich fliege dich. Jein. Ja, aber anders. Denn: Was ist der Tod? Die Väter und Mütter unseres Glaubens umschrieben das Geheimnis mit einem „Engele flieg“: Die Engel tragen dich in Abrahams Schoß. Oder in einem anderen Bild: Wenn du an deinem Todestag im ganz anderen, unendlich fernen Land aussteigen wirst, dann wird Jesus da sein. Du bei ihm, am selben Tag, im Paradies. Amen.

 

[1]  Eine fatale Fehlübersetzung Luthers! Griechisches ( = hebräisches ärätz) meint hier nicht das Land (Israel), sondern zweifellos, entsprechend der prophetischen Tradition vom Tag des HERRN und Weltgericht bei Joel und Amos, die Erde, die mit dem Himmel zusammen den Kosmos / das Universum bildet. Am Kreuz Jesu findet das Weltgericht statt, nicht ein Zorngericht  über die Juden!

[2] So ähnlich hatten schon einmal zwei ihren Meister gefragt: Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus: „Meister, wir wollen, daß du für uns tust, um was wir dich bitten werden.Gib uns, daß wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner königlichen Herrlichkeit.“ Und Jesus hatte diesen aus Machtphantasien geborenen Wunsch energisch zurückgewiesen. Er komme aus einem hierarchischen Denken, wie es in der Welt die Gewalt der Herrschenden gegen ihre Untertanen befeuere. Dagegen verstehe sich der Jünger Jesu als „Diakon“ seines Mitmenschen! (Mk 10,38ff)

[3] Titel eines Büchleins von Eckhart Wiesenhütter (1976), der m.W. als erster sein sog. „Sterbeerlebnis“ gleichermaßen nüchtern wie berührend geschildert hat.