"Krieg und Frieden" - Predigt zu Lukas 10,25-37 von Luise Stribrny de Estrada
10,25-37

"Krieg und Frieden" - Predigt zu Lukas 10,25-37 von Luise Stribrny de Estrada

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn und Bruder Jesus Christus.

Amen.

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Wir hören den Text, über den wir heute in der Predigt gemeinsam nachdenken wollen. Lukas schreibt im 10. Kapitel seines Evangeliums:

„Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen.

Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!“ (Lukas 10,25-37)

Marisa ist 20 Jahre alt. Sie lebt irgendwo im Osten von Deutschland auf dem Land und gehört zu einer Clique von Neonazis. So wie die jungen Männer aus ihrer Gang schlägt auch sie auf Menschen ein, die durch ihr Aussehen als Ausländer auffallen, und brüllt Hassparolen. Am Badesee provoziert die Gruppe einen Streit mit zwei Brüdern aus Pakistan, die in einer Asylbewerberunterkunft ihres Ortes wohnen. Als sie auf dem Weg nach Hause ist, überholt Marisa mit dem Auto die beiden Jugendlichen, die auf einem Mofa fahren. Ein Schlenker nach rechts – und im Rückspiegel sieht sie, dass sie das Mofa aus der Bahn geworfen hat und die Brüder am Straßenrand liegen.

Bald danach begegnet sie einem der Brüder, Rasul, wieder. Er kauft im Lebensmittelmarkt ihrer Mutter ein und hat nicht genug Geld, um alles zu bezahlen, was er auf das Band gelegt hat. Zuerst will Marisa ihm nur einen Teil der Lebensmittel überlassen, aber dann lässt sie sich durch seine Gesten überreden. Dass sie nachgibt, hat auch mit ihrem schlechten Gewissen zu tun, denn sie glaubt, dass sie seinen Bruder getötet hat. Bei ihrer nächsten Begegnung zeigt er ihr das verlassene Gebäude, in dem er inzwischen untergekommen ist, und sie verbringen einen Abend zusammen mit Kochen und Erzählungen von seiner Flucht in holprigem Englisch. Marisa lernt zum ersten Mal einen Menschen kennen, der in Deutschland fremd ist, der eine andere Heimat hat als sie. Zwischen ihnen entsteht eine freundschaftliche Beziehung. Marisa distanziert sich immer weiter von ihrer Neonazi-Gang und ihrem Freund, der dort der Anführer ist. Stattdessen engagiert sie sich immer mehr dabei, Rasul zu helfen. Dieser will nach Schweden, wo Verwandte von ihm leben. Marisa stellt Kontakt zu Schleppern her und bringt ihn zu einem Treffpunkt an der Ostsee, wo sie für ihn bezahlt und er in ein Boot steigt, das dort auf ihn gewartet hat. Dramatisch wird es am Schluss, als Marisas Ex-Freund auftaucht und sie durch einen Schuss in die Brust tötet. – „Kriegerin“ heißt der Film, der Marisas Geschichte erzählt, er wurde von David Wnendt gedreht und 2011 uraufgeführt.

Was hat der Film „Kriegerin“ mit dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zu tun, das Jesus erzählt, um vor Augen zu führen, wer unser Nächster ist? Ich lese den Film als eine moderne Fortschreibung der Geschichte vom Samariter: Marisa ist eine Frau, die heute in die Spuren des Samariters tritt. Sie und der Mann aus Samarien haben gemeinsam, dass sie bereit sind, den anderen anzusehen. Sie nehmen wahr, was dem anderen geschehen ist: der Überfallene in der älteren Geschichte blutet und liegt nackt auf dem Boden, er ist halb tot. Der pakistanische Junge in der modernen Geschichte hat Hunger, aber kein Geld. Er ist allein, nachdem sein Bruder ausgewiesen worden ist, und weit weg von seiner Familie. Er spricht kein Deutsch. Marisa und der Samariter sehen einen Menschen, der am Ende ist und nicht mehr weiter kann.

Und dann geschieht das Entscheidende: „Er jammerte ihn“, heißt es in der Geschichte Jesu. Der Anblick des Opfers rührt das Herz des Samariters, er trifft ihn in seinem Inneren. Er lässt sich das nahe gehen, was dem anderen passiert ist, und ändert seine Pläne, um dem Mann zu helfen. - Marisa, die Kriegerin, begreift, dass Rasul wirklich in Not ist und nichts zu essen haben wird, wenn sie ihm nicht hilft. Sie kapiert zum ersten Mal, wie sich ein Ausländer in Deutschland fühlt, wenn ihm nur Ablehnung entgegen schlägt. Und sie merkt, dass er nicht so ist, wie sie sich bisher Ausländer vorgestellt hat, die sie nur von weitem kannte. Rasul wird ihr sympathisch. Das bringt sie dazu nachzudenken und ihre Ideologie und die ihrer Freunde in Frage zu stellen.

Der Samariter bleibt nicht beim Mitleiden stehen, sondern handelt und tut das Notwendige. Er verbindet den Verletzten und bringt ihn in eine Herberge, wo er sicher ist. Dort versorgt er ihn weiter und bittet dann den Wirt, die Pflege zu übernehmen. Dafür bezahlt er ihn. - Marisa tut ebenso wie der Mann aus Samarien das, was jetzt am wichtigsten ist: Sie sorgt dafür, dass Rasul etwas zu essen bekommt, nicht nur einmal, sondern viele Male. Als sie mitbekommt, wie wichtig es ihm ist, nach Schweden weiterzuziehen, ruft sie für ihn bei den Schleppern an, besorgt Geld und bringt ihn zum vereinbarten Treffpunkt. Mehr kann sie nicht für ihn tun: Sie sieht ihm nach, als er ins Boot steigt, und hofft, dass dieses Boot ihn wirklich auf die andere Seite der Ostsee bringen wird. Ob das gelingt, erfährt der Zuschauer nicht.

„So geh hin und tu desgleichen!“, sagt Jesus am Schluss zu dem Schriftgelehrten, dem er das Gleichnis erzählt hat. Das gilt bis heute, es gilt auch uns. Lassen wir uns anrühren von dem, was dem Menschen neben uns passiert, und helfen ihm? Sind wir bereit, unser Herz für ihn zu öffnen und uns sein Schicksal nahe gehen zu lassen? In diesen Wochen hören wir täglich und stündlich von Menschen, die wie Rasul auf abenteuerlichen Wegen bis nach Deutschland flüchten und hoffen, dass sie hier in Sicherheit sind und die Chance auf ein neues Leben bekommen. Sie haben Schlimmes erlebt, sind vor Krieg, Zerstörung und Gewalt geflohen, haben viele ihrer Lieben sterben sehen. Fast alles haben sie zurückgelassen und kommen hier oft nur mit dem an, was sie auf dem Leib tragen.

Wer wird den Menschen, die hier bei uns ankommen, zum Nächsten? Leute wie Caroline, von der ich in der Zeitung gelesen habe (in: DIE ZEIT, No. 32). Caroline wohnt auf dem Land in der Nähe von Passau. Eines Morgens sah sie in ihrem Vorgarten 17 Leute sitzen, die sie nicht kannte. Als sie zu ihnen hinging, sprachen sie sie gleich auf Englisch an: „Police, police.“ Nach einigen Augenblicken begriff sie, dass sie gerade zu Fuß über die österreichische Grenze gekommen und jetzt am Ende einer langen Flucht waren. Sie rief bei der Polizei an, damit die sich um die Menschen kümmern könnte, und während alle auf das Eintreffen der Polizei warteten, schmierte sie für ihre Gäste Brote. „Nicht mit Schweinefleisch“, fiel ihr ein, deshalb griff sie zum Nutellaglas. Ihre Brote gingen weg wie warme Semmeln, die Flüchtlinge aßen mit Heißhunger. Es sollte nicht die einzige Gruppe von Flüchtlingen bleiben, um die sie sich kümmerte. Inzwischen stranden täglich Menschen in Carolines Gegend. Einige Nachbarn halten ihre Fenster und Türen geschlossen, weil sie Angst haben oder weil sie mit dem Schicksal dieser Menschen nichts zu tun haben wollen, andere wie Caroline geben ihnen zu essen und zu trinken, sammeln für sie Kleidung und Decken und sehen es als ihre Aufgabe an zu helfen, wo sie können.

Wer wird den Menschen, die hier bei uns ankommen, zum Nächsten? Jemand wie Tobias, der ein Programm für  Flüchtlingskinder koordiniert (in: DER SPIEGEL Nr. 34) Sie sind mit ihren Eltern in der Turnhalle von Tobias‘ Universität untergekommen, da die Erstaufnahmeeinrichtung überfüllt war. „Unsere Gäste“ nennt man sie an der Uni. In Tobias‘ Büro rufen im Minutentakt Leute an, die den Kindern helfen wollen: Eine Frau bietet an, dass sie vorlesen könnte. „Ja, klar“, ruft Tobias in den Hörer, „wann können Sie?“ Eine Familie aus der Nachbarschaft will dabei helfen, Essen auszugeben. „Kommt rüber“, fordert Tobias sie auf. Als nächstes meldet sich einer, der Spielsachen verschenken möchte. „Bitte geben Sie sie bei der Kirche ab, unsere Garage ist schon voll“, vermittelt Tobias ihn weiter. So geht es den ganzen Tag. Eigentlich hatte Tobias vor, in seinen Semesterferien auszuschlafen, Freunde zu treffen und Party zu machen. Jetzt ist er von morgens bis abends im Einsatz. Er weiß, dass er am richtigen Platz ist. „Geh hin und tu das Gleiche“, fordert Jesus am Schluss des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter. So etwas wie Tobias oder Caroline oder Marisa und viele Tausende für die Gäste tun, die es auf ihrer Flucht bis in unser Land geschafft haben.

Ich bin davon überzeugt, dass es auch für jeden von uns eine Aufgabe gibt, die wir übernehmen und zeigen können, dass wir solidarisch mit den Flüchtlingen sind, die in unserer Nähe wohnen. Dann sehen wir sie nicht nur auf Bildern im Fernsehen, im Internet und in der Zeitung, sondern begegnen ihnen wirklich. Wie das werden wird, müssen wir ausprobieren. In welcher Sprache wir miteinander sprechen, auch. Ob sich ein Miteinander entwickelt, hängt auch an uns und daran, wie wir auf die Menschen zugehen und wie wir uns verhalten.

Dabei können wir Christus begegnen. Er ist unter denen, die auf Hilfe angewiesen sind, die Essen, Kleidung und Unterkunft brauchen. „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40), sagt Jesus. So heißt es im Wochenspruch dieses Sonntags. Christus ist einer der Flüchtlinge. Aber wir können ihn auch bei denen finden, die helfen. Martin Luther hat die Geschichte vom Barmherzige Samariter so verstanden, dass Christus der Mann aus Samarien ist, der sich erbarmt und dem Zusammengeschlagenen hilft. So kann uns Christus begegnen, wenn wir ins Gespräch kommen mit einer Frau, die einem Flüchtling Deutschunterricht gibt oder mit einem Mann, der jemanden zum Arzt begleitet.

„Christus hat keine Hände als unsere Hände“, hat die Theologin Dorothee Sölle gesagt. Aber unsere Hände hat er, und die sollen wir benutzen, um das Gleiche zu tun wie der Mann aus Samarien.

Dabei helfe uns Gott.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.