Lass den Christbaum und die Nüsse, wo der Pfeffer wächst? - Predigt zu Philipper 2,5-9 von Peter Lampe
2,5-9

Lass den Christbaum und die Nüsse, wo der Pfeffer wächst? - Predigt zu Philipper 2,5-9 von Peter Lampe

Lass den Christbaum und die Nüsse, wo der Pfeffer wächst?
Das Abendland auf der Suche nach sich selbst


Liebe Weihnachtsgemeinde,

„Morgen, Kinder, wird’s nichts geben.“[1] In solch keckem Ton reimte Erich Kästner Weihnachtsgedichte in der Weimarer Republik. Ihm damals wie uns in diesem Jahr gelingt es nicht gänzlich, eine Weihnachtsstimmung zu zaubern, die für einen Tag die Welt draußen versinken lässt.[2] Aus Kästners Weihnachtsgedicht von 1930[3] wehen uns die Zeilen entgegen:

„Lieber, guter Weihnachtsmann,
weißt Du nicht, wie’s um uns steht?
Schau dir mal den Globus an.
Da hat einer dran gedreht [….]

In den Straßen knallen Schüsse.
Irgendwer hat uns verhext.
Lass den Christbaum und die Nüsse
diesmal, wo der Pfeffer wächst [….]

Und nach München lenk die Schritte,
wo der Hitler wohnen soll.
Hau dem Guten, bitte, bitte,
den Germanenhintern voll! [….]

Komm, erlös uns von der Plage,
weil ein Mensch das gar nicht kann.
Ach, das wären Feiertage,
lieber, guter Weihnachtsmann!“

Das war 1930.

Ja, das wären Feiertage, wenn mit einem Schlag die Probleme, die uns derzeit umtreiben, aus der Welt verschwänden. Aber den Deus ex Machina, den Weihnachtsmann, gibt es nicht. Wir müssen uns selbst darum mühen, die Werte unseres Grundgesetzes zu verteidigen – gegenüber Noch-Minderheiten, die an Extrempolen unseres Gemeinwesens agieren. Die einen werfen Brandsätze durch Asylheimfenster und fühlen sich angefeuert von Hetzern auf öffentlichen Plätzen und in Onlineforen. Einige drohen den Leiter der evangelischen Stadtmission Dresden umzubringen, weil er sich für Geflüchtete einsetzt, so dass Polizisten ihn schützen. Andere am entgegengesetzten Pol verabscheuen alle, die ihre islamistische Spielart von Religion nicht teilen. Beide scheren sich so wenig um unser Grundgesetz wie die Terroristen, die in Straßen sich in die Luft sprengen. Die einen treibt Islamophobie, die andern Ungläubigenhass, beide eint oft Antisemitismus. Aber hüten wir uns, das Bild, das solche Minderheiten geben, zum Bild der Muslime schlechthin zu machen. Hüten wir uns, die Krakeeler von rechts zum Bild all derer zu machen, die sich um dieses Land sorgen. Zwischen den Extrempolen stehen Zigmillionen in diesem Lande – Muslime, Juden, Christen, Atheisten – als ein buntes Spektrum. Sie eint, zu unserem Grundgesetz zu stehen, dessen Werte zu praktizieren und von Weimar uns so zu unterscheiden. Unzählige treten dafür ein, die je anderen zu achten. Ihnen zu erlauben, angstfrei anders zu sein. Sie scheuen sich nicht, die Ochsentour des Sich-Bildens in fremden Kulturen und den felsigen Eselspfad der Fremdenliebe unter die Füße zu nehmen, anstatt in deutschtümelnder Stallwärme sich zu beduseln. Sich-Öffnen gegenüber dem Fremden. Unzählige in unserem Gemeinwesen tun dies. Welch ein Segen! Welch ein Unterschied zu Weimar!
 
Mit der Haltung des  Sich-Öffnens gegenüber dem Anderen stehen wir im Zentrum der Weihnachtsbotschaft. Sie behauptet nichts weniger als dies, dass Gott selbst – anstatt sich selber zu genügen – menschlich sich dieser Menschheit öffnet. Sie behauptet nichts weniger als dies, dass Gott den Menschen in dem Mann aus Nazareth so hautnahe kam, dass in dessen Wirken etwas über das barmherzige Wesen Gottes aufscheint. Eines Gottes, der sich nicht scheute, die Füße schmutzig auf dem Weg hin zu den Menschen und die Hände unrein zu machen beim Berühren ihrer Schwächen. Eines Gottes, der uns so nahe kam, dass er im Jerusalemer Praetorium und auf Golgatha in das unendliche Leiden dieses Menschengeschlechts eintauchte. Ich lese aus dem uralten Hymnus in Philipper 2, aus den 30er/40er Jahren des ersten Jahrhunderts:

„Ein jeglicher sei bei euch gesinnt, wie Jesus Christus auch war:  Welcher, ob er wohl von göttlicher Gestalt war, hielt er's nicht für einen Raub, Gott gleich sein. Er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tod [….] Darum hat ihn Gott erhöht und ihm einen Namen gegeben, der über allen Namen ist“ (2,5-9).

Immanuel ist dieser Name, übersetzt: Gott-mit-uns. Dies bedeutet Weihnachten, froh und getrost machendes Weihnachten. Als Mensch uns nahe gekommen, lädt Gott uns in dem Immanuel aus Galiläa ein: „Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch aufrichten”  (Mt 11,28), „mit euch“ sein (28,20). Mit jedem von euch. Mit den Einsamen. Mit den Familien. Mit unseren Nächsten und mit denen weiter entfernt. Gott wagt Liebe.

Verzeihen Sie, wenn ich zum weihnachtlichen Wagnis der Liebe einen weiteren Schriftsteller bemühe, einen, der vor 25 Jahren vor Weihnachten verstarb, einen häretischen Protestanten, der in unserer Welt des faszinierend Absurden auch über das Wagnis der Liebe schrieb: Friedrich Dürrenmatt. In Grieche sucht Griechin notierte er: „Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich“, ja, nötig ist, denn „Die Hoffnung, ein Sinn sei hinter all dem Unsinn,  hinter all dem Schrecken, vermögen nur jene zu bewahren, die dennoch lieben“ (GW 4, S. 407); die die Liebe gegen das Absurde setzen, gegen das Erschrecken.

Was bedeutet es für Christen, dass Gott selbst das Abenteuer der Liebe wagt? Paulus erzählt ein paar Zeilen weiter aus seinem eigenen Erleben. Von dem sich hingebenden Gott wachsen ihm Lebenskraft und Frohmut zu (Phil 2,13; vgl. 4,4)—selbst so zu handeln, wie Christus tat: sich anderen, selbst Fremden zuzuwenden und dabei eigene Interessen und Rechte zugunsten der anderen oftmals zurückzustellen (2,5-9). „Liebe nahm den Staub von meiner Seele“, dichtete der Moslem Rumi im 13. Jahrhundert. „Nur in der klaren Luft der Selbstlosigkeit vermag das Herz zu fliegen“.[4]
 
Wenn wir als europäische Gesellschaft angesichts von Migration, Islamdebatte und Terrorrisiko auf der Suche nach uns selbst sind, dann gehört zu unserer Identität diese Kulturleistung, sich liebend über die eigenen Clangrenzen hinaus dem Anderen zuzuwenden — und so nicht nur für uns selbst und die uns Gleichen im eigenen Stall zu leben.

Aber da ist noch ein Zweites, das unveräußerbar zu unserer Identität als „christliches Abendland“ gehört und mit dem Ersten zusammenhängt. Gab es solch ein „christliches Abendland“? Ja, so etwas gab es, aber nicht als Monolithen, vielmehr stets als vielgesichtiges Abendland, das aus stimulierender Vielfalt heraus kreativ wurde, Dissens als bereichernd empfand und in Dialog und Disput Wahrheit suchte.

Ethnisch bunt, ließ Europa Albrecht Dürer zu einem urdeutschen Maler werden; Dürers Vater kam aus dem östlichen Ungarn von der rumänischen Grenze. Viel früher, im 2. Jahrhundert, wurde ein Palästinenser zum christlichen Philosophen in Rom (Justin), und im selben Jahrhundert wirkte ein Mann aus Smyrna, dem heutigen Izmir, als Bischof von Lyon (Irenäus), während nicht weit weg, in Avignon, zur selben Zeit ein Bauer aus Syrien zu seinem syrischen Gott für gute Ernte betete (IG XIV 2481). Zu Beginn desselben Jahrhunderts scherzte Juvenal (Sat. 3.60–65), dass in Rom der syrische Fluss Orontes mit orientalischen Klängen direkt in den Tiber münde. Ein Nordafrikaner der Spätantike beeinflusste Luthers Theologie in Wittenberg (Augustin). Und so ließe sich die Liste durch die Jahrhunderte weiterführen. Migration und geistiger Austausch über geographische und ethnische Grenzen hinweg belebte von jeher Europa. Das zeichnet Europa aus.

Das Abendland zeichnet eine Kultur der Polyphonie aus, in der islamisch vermitteltes aristotelisches Methodenwerk  und christliche Inhalte scholastisch zusammenfanden. In der jüdische Gelehrte sich an zweideutigen Bibelstellen den Geist schärften und den gelehrten Streit übten. In der die muslimischen Mauren auf der iberischen Halbinsel Naturwissenschaften, Dichtung und Musik förderten. In der ein bunter biblischer Kanon heiliger Schriften, voller Spannungen und Widersprüche steckend, zwangsläufig zu einem Christentum führte, das in eine Vielfalt von Schulen und Konfessionen sich auffächerte. Oft wurde die widersprüchliche Mehrstimmigkeit der Bibel beklagt. In Wahrheit war sie ein Segen für Europa. Denn die biblische Vielstimmigkeit setzte eine polyphone Kultur aus sich heraus, in der um Wahrheit gestritten werden musste; in der andere Interpretationen und Meinungen gehört werden mussten, da sie sich ebenfalls auf heilige Schrift beriefen. Eine polyphone Kultur, in der gelernt wurde, Sachverhalte von verschiedenen Seiten zu betrachten, was unweigerlich in den Wortstreit führte.[5]

Europa darf stolz sein auf seine vielen Stimmen. Wenn wir als Errungenschaften unserer Kultur den demokratischen Dialog herausstellen, in dem alles infrage gestellt werden darf, in dem gestritten und frei die Meinung geäußert werden darf, dann haben wir dies auch, auch dem heterogenen biblischen Kanon zu verdanken, der in seiner Uneindeutigkeit die Leser immer wieder neu zu eigenem Denken herausforderte. Auch dies gehört zum Erbe des Geburtstagskindes Jesus von Nazareth—neben der Liebe zum mir Fremden.

Als dichterisch begabter Lehrer ersann Jesus Gleichnisse, die er selbst nie deutete. Hatte er eine seiner Gleichnisgeschichten beendet, drehte er sich um und ließ die Hörer stehen, damit sie selbst sich einen Reim auf die Bildergeschichten machten und so eigenständig Sinn kreierten. Naturgemäß geschah dies unterschiedlich, wie spätere Deutungen zeigen. Jesu Erzählmethode führte ins selbständige Nachdenken, ins Gespräch, auch in Dissens.

Polyphonie ist mit den biblischen Schriften kanonisiert worden. Das heißt, die frühe Kirche hat – in einem genialen Coup – widersprüchliche Vielstimmigkeit als Norm anerkannt, als Wert, nicht als Übel. Und weiß Gott, sie hat sich im Streit über dieser Bibel geübt, ebenso wie die rabbinischen Bibelausleger. Pflegen wir die Streitkultur! Mit jesuanischer Nächstenliebe, die über die Clangrenze hinausreicht. Mit Respekt vor dem Andersdenkenden. Ohne Scheiterhaufen. Aber mit Courage, wenn menschenfeindlichem Denken entgegenzutreten ist.

Wieweit in das kritische Gespräch Europas sich islamische Gelehrte einbringen werden, historisch-kritisch auch über das eigene heilige Schrifttum nachdenkend, wird mit darüber entscheiden, wie gut die Integration des Islam gelingen wird. Es gibt solche muslimischen kritischen Denkerinnen und Lehrer. Lassen wir an deutschen Hochschulen eine wissenschaftlich verantwortete islamische Theologie sich entfalten – und von dort aus staatlichen Religionsunterricht für Muslime. Fördern wir den interreligiösen Dialog als Universitätsgemeinde.
 
All das braucht Mut. Weihnachten macht diesen Frohmut. „Siehe, ich bin mit euch bis an der Welt Ende“, verheißt der Immanuel (Mt 28,20). Dieses weihnachtliche Gott-mit-uns geschieht da, wo wie in Herne Asylbewerber mit Rosensträußen auf die Polizeiwache ziehen, um sich zu bedanken. Es geschieht da, wo wie in der Nähe von Bamberg zwei Kanu-Ausflügler hungrig in einem, wie sie meinen, alten Gasthof einkehren, mit Käsebrot und Eiern freundlich bewirtet werden und erst, als sie zahlen wollen, merken, dass sie in einem Flüchtlingsheim gelandet sind. Weihnachten geschieht da, wo wir selbst in solchen Geschichten vorkommen.

„Siehe, ich bin mit euch bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20). „Euch ist heute der Heiland geboren“ (Lk 2,11). Deshalb, frohe und getroste Weihnachten.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christo Jesu – in dieser Heiligen Nacht und darüber hinaus. Amen
 


[1] Leicht zugänglich: E. Kästner, Morgen, Kinder, wird’s nicht geben! Mehr oder weniger Weihnachtliches, Zürich: Atrium 20124, 38 (von 1927).

[2] Das muss sie auch nicht. Lukas stellte die Bethlehemgeburt in weltpolitische Bezüge unter Augustus und Quirinius und verkündete „Frieden auf Erden“ in Opposition zur Pax Romana. Zur politischen Interpretation der Weihnachtsgeschichte siehe weiter z.B. P. Lampe, Athen und Jerusalem: Antike Bildung in frühchristlich-lukanischen Erzählungen, München: Komplett-Media, 2010, 9-13.

[3] Kästner, ebd. 31-33.

[4] Leicht zugänglich: M. Mafi & A. M. Kolin, Rumi’s Little Book of Life, Charlottesvielle, VA: Hampton Roads Publishing Company, 2012, 54; 138; Übers. PL.

[5] Zu kultiviertem Streit mit Respekt gegenüber dem Andersdenkenden, leider auch zu barbarischem Streit, in dem Feuer unter Büchern und Menschen loderte. All das war Europa, das im Moment sich nicht mehr zu finden weiß. Wird es an seiner Polyphonie zugrunde gehen, weil diese in unsolidarisches Verhalten etlicher Länder abrutscht – im Vergessen der Fremdenliebe? Oder weil die Polyphonie selbst mundtot gemacht werden soll? Zum Beispiel eine Presse zum Schweigen gebracht werden soll, die einem nicht nach dem Maul redet? Halten einige das Andersdenken der Anderen nicht mehr aus?