Leben aus dem Hören - Predigt zu Johannes 5,24-29 von Klaus Pantle
5,24-29

Leben aus dem Hören - Predigt zu Johannes 5,24-29 von Klaus Pantle

Leben aus dem Hören

24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. 26 Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; 27 und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

28 Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden 29 und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

„Möge uns der Tod lebendig finden und das Leben uns nicht tot.“ Dieser Graffiti-Slogan bringt auf den Punkt, wovon Jesus hier redet: 24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

Es geht nicht um mein Weiterleben nach dem Tod. Es geht um mein Leben hier und jetzt. Lebe ich hier und jetzt ein lebendiges oder ein totes Leben? Was Jesus hier pointiert zum Ausdruck bringt, das führt er der Geschichte, die er unmittelbar davor erzählt, aus (5, 1-18). Zu dem Gelähmten, der schon 38 Jahre lang am Teich Bethesda lebendig tot herumliegt und alle Hoffnung hat fahren lassen, weil er es nie ohne Hilfe zu rettenden Wasser schaffen würde, sagt Jesus einfach: „Steh auf und nimm dein Bett und geh!“ (5, 8). Diese Geschichte erzählt von einer Auferweckung mitten im Leben aus einer selbstzerstörerischen Situation, in der der Leidende nur um sich selbst und sein Leiden kreist. Und sie erzählt zugleich von einer Befreiung aus der tödlichen Macht eines Konkurrenzsystems, das den Hilflosen keine Chance lässt. „Es ist eine Auferweckung gegen alle Wahrscheinlichkeit, die Eröffnung einer Beziehung, die das Leben zum Leben macht“ (Hans-Martin Gutmann).

An einem Tag, an dem wir unserer Verstorbenen gedenken, ist das nicht schwer zu begreifen. Denn wenn wir auf das Leben derjenigen, die von uns gegangen sind blicken und auf unser Leben mit ihnen, dann sehen wir das Schöne und das Gelungene und das Erfüllte darin. Aber eben auch das Misslungene und das Vergebliche und das Verpasste. An dem Vergangenen können wir nichts mehr ändern. Aber für die Gegenwart und für die Zeit, die uns bleibt, können wir aus Jesu Worten lernen. Sie können uns helfen, unseren Blick dafür zu schärfen, wie wir hier und jetzt und in den Tagen, die kommen sinnvoll leben und miteinander gut umgehen können.

In einer neulich veröffentlichten Untersuchung wurde festgestellt, dass die Hälfte aller alten Menschen den Zeithorizont der ihnen noch verbleibenden Jahre falsch einschätzt. Ein Drittel der Betagten unterschätzen die Zeit, die ihnen noch bleibt. Das verleitet sie dazu, dass sie sich in der Konsequenz selbst von manchen noch offenen Lebensmöglichkeiten abschneiden. Andere, Jüngere, tun das im Umgang mit ihnen auch, wenn sie zu viel über deren Ende und das danach sinnieren, anstatt mit ihnen geistesgegenwärtig zu leben.

Auf die ihm eigene sarkastische Art thematisiert der serbisch-jüdische Schriftsteller David Albahari, der selbst schon lange mit einer schweren Krankheit lebt, diesen Zusammenhang immer wieder. In kurzen Miniaturen wie der folgenden hält er sich selbst und anderen einen Spiegel vor:

„Der Mann, der jahrelang Angst hatte, sein linker Arm würde gelähmt, und der eines Tages einen Schlaganfall bekam, wodurch er tatsächlich gelähmt blieb, kommt seitdem nicht von dem Gedanken los, dass ihm das nur deswegen zustieß, weil er sich jahrelang vorstellte, es würde ihm eines Tages zustoßen.“

„Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich.“ (Ludwig Wittgenstein). Es geht um das Ewige im Jetzt. Die Toten sind wir selbst, wenn wir gefangen bleiben in unserer Lebens- oder Zukunftsangst. Tote sind wir, wenn wir uns fesseln lassen an das, was war, wenn wir zu sehr um uns selbst kreisen und die Zeit, die uns bleibt, nicht auskaufen. Das gilt für die Zeit, die uns für uns selbst bleibt genauso wie für die Zeit, die uns miteinander geschenkt ist. Unser Körper stirbt ab, wenn ihm belebende Beziehungen zu anderen Menschen fehlen. Unser Geist erlahmt und unsere Seele erkaltet, wenn unser Kontakt zur Quelle ewigen Lebens gestört ist.

Jesus sagt: 25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. 26 Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; 27 und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

Entscheidend ist, was ich höre. Entscheidend ist, auf wen ich höre und worauf ich höre.

„Wörter können alles. Die können schikanieren und die können schonen und die können einen besetzen und die können einen leerräumen“ (Herta Müller).

Wir leben in einer Welt des andauernden öffentlichen Erregungszustandes und des permanenten Geplappers. Die Wirklichkeit wird zugetextet. Gefühle und Erfahrungen, Fragen und Ratlosigkeit, Trauer, Schmerz- und Glückserfahrungen werden überspült von seichtem, sinnfreiem oder unappetitlichen Geschwätz. Man muss nicht alles sagen, was man meint, „doch wohl noch sagen zu dürfen“. Man braucht sich das auch nicht anzuhören. Gelegentlich ist es besser, alle Kanäle abzustellen, in sich zu gehen und die Stille zu suchen. Aus der Stille heraus kann ich wieder neu hören. Entscheidend ist, dass ich gut höre und genau hinhöre: dass ich höre auf das, was Sinn gibt – Sinn für mich und Sinn für andere.

Ob ich scheitere in meinem Leben oder ob mir etwas gelingt, das habe ich nicht immer selbst in der Hand. Aber gelegentlich hängt es davon ab, worauf ich höre. „Tot oder lebendig“ – ich bin, worauf ich höre. „Ewiges Leben“, Sinn-erfülltes Leben wird finden, wer auf die Stimme des Sohnes Gottes hört, sagt Jesus. Denn: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben und alles in Fülle haben sollen“ (Johannes 10, 10). Die an mich glauben, sollen, „nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 16), weil Gott sie und ihre Welt liebt, weil er sie vorbehaltlos und bedingungslos liebt. Deshalb können sie frei leben, hier und jetzt, in seiner ewigen Gegenwart. Im Hören auf seine Stimme lösen sich alle ichbezogenen Gefühle und Gedanken auf. Druck und Zwang verschwinden. Ich werde frei und leer -  um von ihm erfüllt zu werden, von seinem Geist, von seiner Energie, von seiner Fülle, von unerschöpflicher Lebenskraft. „Wer Ohren hat, der höre“ (Matthäus 11,15). Im Hören auf ihn öffnet sich eine andere Welt als unsere dauererregte Welt der Geschwätzigkeit und des Ressentiments, des Konkurrenzdrucks und des Leistungszwangs. Im Hören auf ihn öffnet sich die Welt der Freundlichkeit Gottes und der Zärtlichkeit Jesu. Im Hören auf ihn öffnet sich eine andere Welt als die der Gewalt und des Todes. Im Hören auf ihn öffnet sich die Welt des Unerhörten.

28 Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden 29 und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Hinter den Tod kommen wir mit unserem Denken nicht. Dazu braucht es Bilder, unerhörte Sprachbilder, die unseren irdischen Horizont aufzureißen. Unser Verstand kann dieses Unerhörte nicht durchdringen. Wir können Jesu Sprachbilder nur hören und darüber staunen.

Was wir begreifen ist unsere böse und gewalttätige Lebenswirklichkeit. Das Morden in Paris, die Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten und die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen sind erschütternd. All das wird hier nicht ausgeblendet. Was wir hören, ist, dass all das zu Gottes Wirklichkeit in eine Relation gestellt wird. Diejenigen, die über Leichen gehen, werden nicht das letzte Wort behalten, sagt diese Stimme: Gott wird das letzte Wort behalten.

Unerhörte Wörter, Worte der Hoffnung, nie gesehene Bilder der Rettung: Sie können wirken. Das weiß selbst ein Agnostiker wie Ludwig Wittgenstein: „Nehmen wir an, jemand machte das zu seiner Lebensregel: den Glauben an das Jüngste Gericht. Was immer er tut, es schwebt ihm dabei vor. Nun denn, wie können wir wissen, ob wir sagen sollen, er glaubt, dass das Jüngste Gericht stattfinden wird, oder er glaubt es nicht? Ihn zu fragen ist nicht genug. Er wird vermutlich sagen, dass er Beweise hat. Er hat jedoch vielmehr das, was man einen unerschütterlichen  Glauben nennt. Und der wird sich nicht beim Argumentieren oder beim Appell an die gewöhnliche Art von Gründen für den Glauben an die Richtigkeit von Annahmen zeigen sondern vielmehr dadurch, dass er sein ganzes Leben regelt.“

Darum geht es. Um nicht mehr und nicht weniger. Um die Haltung, die aus dem Hören solch unerhörter Worte folgt. Darum, dass sie unser Leben regeln. Es geht um die Gewissheit, die sich nicht aus Wissen und Erfahrung speist, sondern die aus diesem aus dem Hören geregelten Leben selbst Erfahrungen hervorbringt – Erfahrungen der Fülle.

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dessen Verdienste um die juristische Aufarbeitung der deutschen Verbrechen an den Juden jüngst in zwei Kinofilmen gewürdigt wurden, kämpfte in den 1950-iger und 60-iger Jahren um Aufklärung und Gerechtigkeit schon hier und jetzt. Er kämpfte darum, obwohl er isoliert war und bekämpft und bedroht wurde. Er, (gebürtiger Stuttgarter, Abiturient am hiesigen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium), Rückkehrer aus der Emigration nach dem 2. Weltkrieg, deutscher Jude, Schwuler, Sozialdemokrat, bezahlte dafür einen hohen Preis: den nahezu totaler sozialer Isolation und persönlicher Einsamkeit. Aber sein Kampf war erfolgreich. Auf sein Betrieben hin wurde Adolf Eichmann gefangen und begann im Jahre 1963 in Frankfurt der Auschwitz-Prozess. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1968 schrieb er: „Der praktisch tätige Mensch hält es mit dem Prinzip Hoffnung, mag er auch selbstkritisch sich mitunter des Gefühls nicht erwehren können, es könnte eine Lebenslüge sein.“ Und weiter: „Selbst wenn die Hoffnung tatsächlich eine Lebenslüge ist – ohne sie wäre die Unmenschlichkeit in der Welt nicht zu überwinden.“

Glaubende haben es hier vielleicht etwas leichter. Denn sie können sich im Vertrauen auf seine Stimme darauf verlassen, dass sie in einem überzeitlichen göttlichen Horizont existieren. Darin sind sie in allem Leben, Lieben, Leiden und Sterben aufgehoben. Gerade deshalb kann dieser Glaube, den Jesu Worte in uns auslöst, uns die Lebensenergie und die Lebenszuversicht geben, die wir brauchen, um ganz im Hier und Jetzt „ewig“ zu leben. Dieser Glaube gibt uns die Kraft, um in diesem Leben Haltung bewahren.