Machtbeschneidung - Predigt zu Kolosser 2,9-15 von Dr. Matthias Loerbroks
2,9-15

Machtbeschneidung - Predigt zu Kolosser 2,9-15 von Dr. Matthias Loerbroks

Wie geht es weiter nach Ostern? Wie geht es mit uns weiter nach Ostern? Das ist die Frage an diesem Sonntag und an den nächsten Sonntagen auch. Es sind ja große Dinge, wovon wir zu Ostern singen und sagen. Er hat dem Tod zerstört sein Macht, hat zerstört der Höllen Pfort; sein Raub der Tod musst geben her, das Leben siegt und ward ihm Herr, zerstöret ist nun all sein Macht; es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod bezwungen; ein Spott aus dem Tod ist worden. Große Worte, große Töne. Und wir? Leben wir diesen revolutionären Liedern zum Trotz weiter, als wäre nichts geschehen?

Das Kirchenjahr, liebe Gemeinde, versucht, uns davon abzuhalten, uns dazu zu bringen, Anderes einzuüben. Der Name des heutigen Sonntags deutet an, dass wir Teilnehmer, Teilhaber am neuen Leben sind, am Leben des Auferweckten; dass wir bei seiner Auferweckung neu geboren wurden und darum nun wie die Neugeborenen, quasimodo geniti, leben. Neugeborene sind ganz besonders auf Zuwendung angewiesen, darauf, dass sich jemand ihrer erbarmt, sie behütet und hütet. Und alle Neugeborene müssen und wollen dann erst einmal sprechen lernen – und sprechen, das heißt in diesem neuen Leben: Jubeln, Singen, Beten und Fragen. Und wer durch eine solche Sprachschule gegangen ist, wünscht und fordert dann auch, gehört zu werden: Exaudi! Audi! Horch!

Bei unseren jüdischen Geschwistern werden männliche Neugeborene am achten Tag nach der Geburt beschnitten. Das ist schon seit Abrahams Sohn Isaak so. Auch von Jesus wird das erzählt (Lk 2,21), und Paulus sagt es über sich selbst in einem seiner Briefe (Phil 3,5). So passt es gut, dass wir heute, am achten Tag nach Ostern, einem Text nachdenken, in dem im Blick auf unser neues österliches Leben ein Vergleich gezogen wird zwischen der Beschneidung und der Taufe:

In ihm, im Christus, wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. In ihm seid auch ihr Erfüllte; er ist das Haupt aller Herrschaft und Macht. In ihm seid auch ihr beschnitten durch eine nicht mit Händen gemachte Beschneidung, indem ihr in der Beschneidung des Christus den Leib des Fleisches ausgezogen habt.In ihm seid ihr mitbegraben in der Taufe, mit ihm auch auferweckt durch die Treue, die wirksam, die energisch wurde, als Gott ihn aus den Toten auferweckte. Auch euch, die ihr Tote wart in den Übertretungen und der Unbeschnittenheit eures Fleisches, hat er mitlebendig gemacht mit ihm, hat uns gnädig alle Übertretungen erlassen. Ausgestrichen hat er die uns betreffende Handschrift mit den Bestimmungen, die uns entgegenstanden, hat sie aus der Mitte geräumt, hat sie ans Kreuz genagelt. Ausgezogen hat er die Herrschaften und Mächte, sie öffentlich zur Schau gestellt, sie im Triumphzug mitgeführt – in ihm.

In ihm – das ist, Ihr habt es gehört, Leitwort dieses Abschnitts. In ihm, in diesem einen Menschen Jesus Christus, wohnt die ganze Fülle der Gottheit, und zwar leibhaftig – nicht bloß irgendwie geistig, sondern in seinem Leib. Und weil in diesem Einen diese Fülle ist, darum ist er nicht nur Haupt, Oberhaupt der Kirche, der kleinen Schar der Jesusjüngerinnen und -jünger, sondern Haupt, Kopf, Herr auch all der Herrschaften und Mächte, die doch nach wie vor so wirken, so agieren und regieren, als wären sie völlig herrenlos und unbeherrscht. Oft auch kopflos.

So sehr der Briefschreiber die Einzigartigkeit dieses Einen betont – er redet uns zugleich an als Menschen, die in diesen Leib buchstäblich eingegliedert wurden, Glieder dieses Leibs geworden sind, und so sagt er uns zu: in ihm, in diesem Leib, seid auch ihr Erfüllte, sind auch wir mit dieser Fülle erfüllt. Und nun legt er großen Wert darauf, dass es sich bei diesem Leib um einen jüdischen, einen beschnittenen Leib handelt: in ihm seid auch ihr beschnitten. Warum ist ihm das so wichtig?

Die Beschneidung, brit mila, ist neben dem Schabbat ewiges Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk Israel – und beide Zeichen lassen sich auch außerhalb des verheißenen Landes, auch im Exil praktizieren. Doch vor ein paar Jahren gab es Streit darum. Ein deutsches Gericht hatte befunden, dass Beschneidung den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt. Und dieser Streit wurde in jenem behäbig selbstgewissen Ton geführt, der immer zu hören ist, wenn über Juden und Jüdisches gestritten wird: wir trauen uns, was zu sagen, was doch auf der Hand liegt, andere aber, die meisten sich nicht zu sagen trauen. Der Bundestag hat damals das Strafrecht geändert, um diesen Eingriff zu erlauben. Nun gibt es denselben Streit in Island, wo freilich sehr viel weniger Juden und Muslime leben als hier, und die dortige Debatte facht auch den hiesigen Streit wieder neu an.

Auch unabhängig von diesem Streit ist nachdenkenswert, dass die Entfernung der Vorhaut bei männlichen Kindern ein Zeichen dieses Bundes ist. Es handelt sich um das Zeugungsglied – und es fällt auf, dass das erste wie das letzte Buch der Hebräischen Bibel – Genesis und die Chroniken – durch lange Listen von Zeugungen gegliedert ist. Dieser Rahmen der Bibel macht deutlich, dass es sich bei diesem Volk jedenfalls auch um eine Abstammungsgemeinschaft handelt. Das erste Buch des Neuen Testaments nimmt diesen Faden auf: Matthäus beginnt mit einem Buch der Zeugungen von Abraham bis Jesus.

Es handelt sich nun auch um das Organ, das für viele Männer Inbegriff dessen ist, was sie für ihre Männlichkeit halten, und die entsprechende Protzerei – ich hab den größeren – hat ja inzwischen auch das Gebiet internationaler Politik erreicht, das früher Betätigungsfeld für die Kunst der Diplomatie war. Nicht erst die MeToo-Debatte unserer Tage zeigt die verheerenden Folgen der Vermischung von männlicher Sexualität und Machtausübung, in der Sexualität nichts mehr mit Lust und Liebe zu tun hat, sondern nur noch mit Terrorherrschaft, Gewalt und Demütigung. Beschneidung als Zeichen des Bundes ist darum auch eine symbolische Demonstration gegen diesen Männlichkeitskult, die Phallokratie, eine Beschneidung männlicher Macht und Herrschaft.

Magnifikat heißt das revolutionäre Lied, das Lukas Maria in den Mund legt, als sie mit Jesus schwanger geht, weil es auf Latein mit den Worten beginnt: magnifikat dominum anima mea – meine Seele macht den Herrn groß, und der Zusammenhang zwischen dem darin besungenen Herrschaftssturz und jenem Männlichkeitskult wird deutlicher, wenn wir einige seiner Wendungen auf Latein hören: Der, der mächtig ist – qui potens est – übt Macht aus – fecit potentiam –, indem er Mächtige vom Thron stürzt und Erniedrigte erhöht – deposuit potentes de sede et exaltavit humiles.

Ähnlich übermütig wie Marias Lied verkündet auch unser Text die Entmächtigung, die Depotenzierung der Mächte und der Mächtigen: Gott hat sie ausgezogen, entkleidet, die Herrschaften und Mächte, sie öffentlich zur Schau gestellt, sie im Triumphzug mitgeführt – in ihm, im Christus; die Mächtigen stehen nackt da. Ausgezogen, entkleidet sind freilich auch wir, die Glieder am beschnittenen Leib des Christus, des Messias: In ihm seid auch ihr beschnitten, indem ihr in der Beschneidung des Christus den Leib des Fleisches ausgezogen habt. Ihr habt den alten Menschen ausgezogen, heißt es an anderer Stelle im selben Brief (3,9f.), und den neuen Menschen angezogen – wir sind quasi neugeboren.

Da wir in ihm, im Christus, beschnitten sind, müssen sich Männer aus der Völkerwelt, die Christen werden, nicht beschneiden lassen – dafür hat Paulus gekämpft, denn er meinte, Jesus wäre umsonst gestorben, wenn Nichtjuden erst Juden werden müssen, um zum Gott Israels zu gehören, statt gerade als Nichtjuden, als gojim, Bundesgenossen dieses Gottes und seines Volkes zu werden. Auch bei Paulus ist freilich in diesem Kampf und Streit die Bedeutung der Beschneidung als zeichenhafte Entmannung, Entmächtigung deutlich hörbar, wenn er über seine Gegner, die von den Neuzugängern die Beschneidung fordern, grummelt und knurrt: sollen sie sich doch gleich alles abschneiden lassen (Gal 5,12).

Das neue Leben, die Mit-Gliedschaft in ihm, im Leib des Christus, in dem die Fülle Gottes leibhaftig, leibhaft wurde, beginnt hingegen mit der Taufe. Neuzugänger aus den Völkern, Männer und Frauen, vollziehen mit diesem Tauchbad das Ritual, das Frauen aus der Völkerwelt praktizieren, wenn sie Jüdinnen werden. Der Verfasser des Kolosserbriefs, ein Paulusschüler, hält die Taufe für genauso einschneidend wie die Beschneidung, obwohl sie sich leichter verheimlichen, auch vergessen lässt. Wer sich taufen lässt, identifiziert sich mit Jesus Christus: beim Untertauchen mit seinem Tod und begraben werden, beim Wiederauftauchen mit seiner Auferweckung von den Toten. Tot waren wir freilich, sagt uns der Briefschreiber, schon zuvor, weil wir getrennt waren vom Gott Israels, der Quelle des Lebens, und von seinem Volk, wofür die Unbeschnittenheit das Zeichen ist. Die Taufe ist der Beginn dieses Lebens in ihm, im beschnittenen Leib des Christus. Getaufte haben eine geliehene, eine verliehene Identität. „Ein Mensch“, so sagt es Karl Barth in seiner Tauflehre, „tritt in seiner Taufe als tätiges Glied hinein in das heilige Volk Israel, das nach Jesaja 42,6 zum ‚Bundesmittler unter den Völkern‘ bestellt ist.“

Was Gott zusammengefügt hat, so sagt der Tora-Lehrer Jesus, soll der Mensch nicht scheiden. Genauso wichtig ist für die Tora aber das Umgekehrte: was Gott geschieden hat, soll der Mensch nicht vermischen. Die Scheidungen und Unterscheidungen Gottes zwischen dem Schabbat und den übrigen Tagen, zwischen der Pessachnacht und allen anderen Nächten, zwischen Milchigem und Fleischigem, zwischen Wolle und Leinen, zwischen Israel und den Völkern sind in der Bibel wichtig. Doch unser Briefschreiber sagt in einem seltsamen Bild: mit der Kreuzigung des Juden, des beschnittenen Jesus wurden die Bestimmungen, die Juden und Nichtjuden voneinander trennen, mit ans Kreuz genagelt. Der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden bleibt, wird nicht verwischt, ist aber nicht mehr trennend.

Aus dem Mund der Kinder, der Neugeborenen hast du eine Macht gegründet, heißt es in Psalm 8, und viele Eltern werden seufzend bestätigen, dass Kindermünder durchaus Macht ausüben können. In Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ist es ein Kind, wenn auch kein ganz neu geborenes, das mit seinem Mund befreiende Macht ausübt, indem es verkündet: Er hat ja gar nichts an; der ist ja nackt. Das beschreibt recht genau die Rolle, die uns heute als neugeborenen Kindern im neuen Leben, als Gliedern am Leib des gekreuzigten und auferweckten Juden Jesus zugemutet, zugetraut, zugesprochen wird: mit unseren Worten und mit unseren Taten, mit unserem persönlichen Leben und mit unserem Zusammenleben als Gemeinde zu bezeugen, dass die Mächte und Mächtigen, die Potentaten, ihres Schreckens, ihres Nimbus, ihres Pathos längst entkleidet sind: dass sie nackt dastehen. Und zu diesem neuen Leben und Zusammenleben gehört, dass wenigstens schon unter uns Sexualität nicht mehr ein Mittel der Gewaltherrschaft und der Demütigung ist, sondern Lust und Liebe, Freude und Wonne, Glück an dem, was Gott so wunderbar zusammengefügt hat. Von diesem Glück heißt es zu Beginn der Bibel: sie waren beide nackt, Mann und Frau, und schämten sich nicht.

Amen.

 

Liedvorschläge

Nach der Begrüßung mit dem Wochenspruch 1. Petrus 1,3: 109,1-4 oder 133,1-4 oder 162,1-3 oder 349. Da der Predigttext ein Briefabschnitt ist, schlage ich als erste Lesung statt der Epistel die AT-Lesung Jes 40,26-31 vor; und danach: 296,1-4 oder 404,3.6-8 oder 325,4.5.7 oder 378. Nach der Evangeliumslesung Joh 20: 358,1-2 oder 157 oder 390. Nach der Predigt: 309 oder 369,5-7 oder 303,2.3. Zwischen Abkündigungen und Gebet: 114,6-9 oder 375. Als Schlussstrophe zwischen Gebet und Segen: 482,5 oder 42,6 oder 200,2.