Nach vorne schauen – Predigt zu Johannes 9,1-7 von Isolde Karle
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Nach vorne schauen – Predigt zu Johannes 9,1-7 von Isolde Karle

Nach vorne schauen
Liebe Gemeinde,
ich lese Johannes 9, die Verse 1-7 als Predigttext:
Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Unter vier Aspekten will ich der Geschichte nachgehen: erstens: Rettung, zweitens: was, wenn die Rettung ausbleibt?, drittens: nachvorne blicken, viertens: Blindheit und Sicht.
Erstens: Rettung. Manchmal passiert es ja, das Wunder, dass Menschen Rettung erfahren, wo keiner mehr daran geglaubt hat, wo es aussichtslos zu sein schien, wie bei dem Blindgeborenen. Wer blind auf die Welt kommt, der hat eigentlich keine Chance auf Heilung. Manche Augenerkrankungen galten in der Antike durchaus als heilbar, aber nicht eine Blindheit von Geburt an. Und doch handelt Jesus hier nicht als Magier, sondern, und das ist bemerkenswert, als Arzt. Er macht eine Augensalbe aus Speichel und „Dreck“. Ja, Sie haben richtig gehört: Diese uns doch sehr archaisch anmutende Prozedur ist kein Woodoo-Zauber, sondern eine Art Medikament, das in der Antike zur Behandlung von Augenleiden benutzt wurde und selbst bei dem berühmten Mediziner Galen aus Pergamon anerkannt war. Vor allem dem Speichel wurde Heilkraft für die Augen zugeschrieben. Jesus ist Arzt, der als solcher rettet und heilt und dem Blindgeborenen eine ganz neue, völlig ungeahnte Lebensperspektive eröffnet.
Es ist nicht zuletzt das Verdienst des Christentums, dass in der westlichen Kultur Kranke nicht nur seelsorgerlich begleitet, sondern medizinisch therapiert werden und sich in der Neuzeit schließlich ein sehr erfolgreiches wissenschaftliches Medizinsystem entwickeln konnte. Zum Glück hat das Medizinsystem deshalb heute auch wesentlich bessere therapeutische Medikamente und Methoden zur Verfügung als Speichel und Dreck. Aber mit seinem Willen, Leben zu retten und Krankheit zu heilen, steht das moderne Medizinsystem ganz in der Tradition Jesu.
Manchmal passiert sie, die Rettung aus Krankheit, aus Dunkelheit und Verzweiflung. Ich habe das selbst vor vielen Jahren bei meinem Bruder erlebt. Er hatte ein schweres Lungenkarzinom und wurde wider alles ärztliche Erwarten wieder gesund. Der Arzt sagte am Ende zu ihm: „Sie haben die eine von 100 Schubladen gezogen“. Was für ein Bild – die eine richtige Schublade inmitten von 99 falschen! Manchmal geschieht sie, die Rettung aus großer Not und tiefer Nacht. Manchmal ragt die neue Schöpfung in die alte Schöpfung hinein – dann wird es wieder hell in unserem Leben, dann haben wir viel Grund zur Dankbarkeit, dann bekommen wir das Leben neu geschenkt. David Ben Gurion, der erste Premierminister Israels, sagte einmal: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Manchmal passieren sie, die Wunder, die dem Leben eine ganz neue Richtung geben, die völlig neue Perspektiven eröffnen, die Rettung bedeuten. Es ist gut, sich für diese Wunder offen zu halten. Es ist gut, in dieser Weise Realist zu sein.
Zweitens: Was aber, wenn die Rettung ausbleibt? Wenn das Wunder nicht geschieht und das Dunkel bleibt? Viele Menschen müssen mit Krankheit oder schwerer Behinderung leben bis zu ihrem Tod. Sie erfahren die Nachtseite der Schöpfung, die deformierende Seite von Krankheit und Behinderung. Krankheit und Behinderung können dämonische Kräfte entfalten. Sie führen nicht wenige Menschen in Einsamkeit, manche auch in Verbitterung. Insbesondere wenn das eigene Kind schwer krank ist oder nach einem Unfall dauerhaft mit einer schweren Behinderung leben muss, ist das furchtbar. Dann fließen alle Kräfte der Eltern in die Pflege und die Therapie des kranken Kindes. Dann ist da sehr viel Nacht – und ganz wenig Licht.
Schwere Krankheit und schwere Behinderung können zerstörerisch sein und schlaflose Nächte, Verzweiflung und großes Leid mit sich bringen. Deshalb geht für Jesus die Nähe des Gottes Reiches auch immer mit konkreter Heilung einher und nimmt er unsere konkrete Leiblichkeit sehr ernst: Es geht darum, dass Menschen satt werden, die hungern, dass Menschen gesund werden, die unter schwerer Krankheit leiden, dass Menschen heil werden, deren Körper versehrt ist. Aber auch Jesus konnte nicht allen Menschen helfen, nicht alle Kranken heilen. Manchmal bleibt die Krankheit. Dann muss ich mit ihr leben.
Wie wir wissen, ist Jesus selbst das Leiden nicht fremd geblieben. Im entscheidenden Moment wurde auch ihm die Rettung versagt, obwohl er darum bat, dass Gott ihm den Kelch des Leidens ersparen möge. Die Dunkelheit und Bitterkeit von Verrat und großem körperlichem Schmerz – Jesus hat sie durchlebt. Das Bekenntnis zum gekreuzigten Gott kann deshalb nur heißen: Gott kennt unser Leid von innen, wir sind nicht allein, er trägt uns durch die Nacht hindurch. Er tröstet uns und sagt uns seine rettende Nähe durch das Chaos der noch nicht gebändigten alten Schöpfung hindurch zu. Das ist die Hoffnung von Karfreitag und Ostern.
Drittens: nach vorne schauen
Bei der Erzählung von Blindgeborenen fällt auf, dass die Jünger sich für den Blindgeborenen und sein Ergehen überhaupt nicht interessieren. In unsympathischer Weise fragen die Jünger Jesus nach der Ursache der Krankheit: Wer ist Schuld an der Krankheit des Blindgeborenen, er selbst oder seine Eltern? Die erste Vermutung ist gänzlich abwegig und führt sich selbst ad absurdum – der Blindgeborene müsste dazu ja schon im Mutterleib gesündigt haben und das geht in jüdischer Tradition nicht wie auch sonst in keiner Tradition. Aber Jesus korrigiert das gar nicht. Er weist die Frage einfach ab und schiebt sie als etwas Überholtes zur Seite. Gott führt den Blinden den Weg zum Sehen und tut im Werk Jesu sein heilendes Werk am Menschen – ganz unabhängig von der Frage, woher die Blindheit des Blindgeborenen rührt. Die „Schuldfrage“ interessiert Jesus nicht. Er ignoriert sie. Jesus ist nicht auf die Vergangenheit fixiert, sondern auf die Zukunft hin orientiert.
Es ist in unserer Zeit nicht weniger üblich als damals, bei Krankheiten und körperlichen Defiziten aller Art die Schuldfrage zu stellen und mit dem Finger auf die Betroffenen selbst zu zeigen. Bei den meisten somatischen Krankheiten verbietet es sich, eine psychische Ursache zu unterstellen. Vor allem aber hilft die Frage nach dem Warum, nach der Schuld nicht weiter, selbst wenn es Zusammenhänge zwischen der Lebensführung in der Vergangenheit und dem gegenwärtigen Gesundheitszustand geben sollte. Dass der Kranke die Krankheit zu tragen hat, ist schon schlimm genug, nun soll er auch noch selbst Schuld an seinem Krebs oder seinem Schlaganfall oder seiner Behinderung sein. Das „blaming the victim“ ist nichts weiter als eine fiese Strategie der Gesunden, die die Kranken zusätzlich belastet und den Gesunden hilft, sich von ihnen fern zu halten.
Jesus lehnt diese Strategie konsequent ab. Er legt Kranke und Leidende nicht auf die Vergangenheit fest. Er blickt nicht in den dunklen Raum der Kindheit, er interessiert sich nicht für mögliche Ursachen in der Vergangenheit. Er eröffnet vielmehr Zukunft – und zwar ohne zu zögern. Sein Blick ist nach vorne gerichtet, nicht nach rückwärts gewandt. Auch an anderer Stelle macht Jesus unmissverständlich klar: Wer zurücksieht, ist nicht geschickt für das Reich Gottes (Lk 9, 62). Jesus sieht nach vorne und fordert uns dazu auf, nach vorne zu blicken. Wir sind nicht auf unsere Vergangenheit festgelegt. Wir können ein anderer oder eine andere werden – was für eine Freiheit!
Damit sind wir bei viertens: Blindheit und Sicht. Eine besondere Pointe unserer Erzählung ist, dass der Blinde letztlich der eigentlich Sehende ist. Das ergibt sich vor allem aus der Fortsetzung der Erzählung in Johannes 9. Nach der Heilung fragen ihn zunächst die ungläubigen Nachbarn, ob er wirklich der Blindgeborene sei, den sie schon immer kennen. Er bejaht dies, doch sie können seine Geschichte nicht glauben und gehen mit ihm zu den Pharisäern. Auch diese können nicht fassen, was ihnen erzählt wird und holen schließlich die Eltern herbei, die beglaubigen sollen, dass es sich bei dem geheilten Blinden tatsächlich um ihren Sohn handelt. Doch selbst die Eltern distanzieren sich von ihrem Sohn und lassen ihn allein mit den Worten: „er ist alt genug, lasst ihn für sich selbst reden“. Alle gesunden Akteure um den Blindgeborenen herum weigern sich, sich mit ihm über seine Heilung zu freuen. Sie kleben an der Vergangenheit, sie verweigern sich der Zukunft. Die Nachbarn, die Pharisäer, die Eltern – sie sind blind für das, was hier geschieht. Der sehend gewordene Blindgeborene hingegen macht gleich einen doppelten Prozess des Sehenlernens durch: Er bekommt den Brei auf seine Augen geschmiert und geht, wie befohlen, zum Teich Siloah, um sich zu waschen. Von dort kommt er sehend wieder zurück. Genauso prozesshaft wird von seinem geistigen Sehend-Werden berichtet: Spricht er von Jesus zunächst noch als von einem Menschen, der ihn geheilt hat, bezeichnet er ihn im nächsten Gespräch als Prophet und schließlich am Ende des Kapitels als Menschensohn, den er anbetet. Der Blindgeborene ist in einem doppelten Sinn sehend geworden. In ihm und um ihn ist es hell geworden.
Abbas Schah-Mohammedi war der letzte Täufling von Ernst Jakob Christoffel von der Christoffel Blinden Mission im Iran. Er leitete als Blinder 30 Jahre lang den Evangelischen Blindendienst in Berlin. Er beschreibt seine Erfahrung als blinder Bibelleser so: „In meiner Bibel stehen 8,5 Millionen Punkte. Wenn meine Finger über die Punkte gleiten, Punkt an Punkt, Buchstabe an Buchstabe, Wort an Wort fügen, bis ein Sinn sich mir erschließt, dann danke ich Gott für meine Finger. Ich lese und in mir wird es hell. Mit keinem anderen Licht der Welt wollte ich dieses Licht tauschen. Die Augen und Ohren sind vielleicht noch flinker. Aber was solls, wenn man nur die Hände hat! Was da auf dem Papier steht, muss buchstäblich zuerst unter die Haut, um zum Kopf zu gelangen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie viele Wege Gott noch kennt, um unser Herz zu erreichen...“ (Aus: Andere Zeiten 2011/12)
Der blinde Abbas Schah-Mohammedi sieht viel Licht trotz seiner Blindheit. In ihm wird es hell, wenn er über seinen Lesefinger Sinn erfühlt und begreift. Mit keinem anderen Licht der Welt will er dieses Licht tauschen. Deshalb hört er auf, vergangenheitsorientiert zu leben und wendet sich offen seiner Zukunft zu: Er ist ein blinder Sehender.Manchmal sehen Kranken und Behinderte mehr als wir Gesunden und sogenannten „Normalen“. Manchmal reicht ihr Blick deutlich weiter als unserer.
Nicht nur Blinde und Kranke, auch Kinder sehen oft mehr als wir in unserer alltäglichen Geschäftigkeit. Dazu noch eine Erzählung: „An einer U-Bahn-Haltestelle in Washington DC steht an einem kalten Januarmorgen 2007 ein Mann mit einer Violine. Er spielt Bach, auch Schubert. Während dieser Zeit kommen im morgendlichen Berufsverkehr Hunderte von Menschen an ihm vorbei. Es dauert ein paar Minuten, bis der erste Passant den Geiger bemerkt. Er verlangsamt seinen Schritt für ein paar Sekunden. Aber er unterbricht seinen Weg nicht. Kurz darauf wirft eine Frau den ersten Dollar in den Hut des Musikers, aber auch sie bleibt nicht stehen.... Dann nähert sich ein etwa dreijähriger Junge. Er möchte stehen bleiben, aber seine Mutter zieht ihn an ihrer Hand weiter. Das Kind schaut im Gehen zurück, will der Musik weiterzuhören. Die Mutter treibt es an. Wie dieser Junge verhalten sich einige Kinder, aber ausnahmslos drängen ihre Eltern sie zur Eile. Der Geiger spielt, ohne abzusetzen. Insgesamt sechs Menschen bleiben vor ihm stehen und hören ihm für kurze Zeit zu. Vielleicht 20 Vorübergehende werfen ihm eine Münze in den Hut. Nach einer knappen Dreiviertelstunde beendet der Geiger sein Konzert. Es wird still. Aber niemand nimmt davon Notiz, niemand applaudiert. 32 Dollar sind zusammengekommen.
Der Violinist war Joshua Bell, einer der besten Musiker der Welt. Er spielte unter anderem eines der.... schwierigsten Musikstücke, die jemals geschrieben wurden: die ‚Chaconne in d-Moll‘ von Johann Sebastian Bach. Die Geige, die er dafür verwendete, war 3,5 Millionen Dollar wert. Zwei Tage davor hatte Joshua Bell vor einem ausverkauften Haus in Boston das gleiche Konzert gegeben. Die Karten für dieses Ereignis kosteten durchschnittlich 100 Dollar.“ (Aus: Der Andere Advent 2012/13)
Die Kinder haben Joshua Bell „gesehen“, sie haben ihn erkannt, sie ließen sich berühren von seiner außergewöhnlichen Musik. Die Erwachsenen waren hingegen blind für die Schönheit der Musik, taub für die Virtuosität des Künstlers, für das Kunstwerk am ungewohnten Ort, für das Besondere des Augenblicks. Jesus will, dass wir sehen, er will uns die Augen öffnen – für die Schönheit dieser Welt, für das Licht in der Dunkelheit, für die Neuschöpfung inmitten der alten Welt. Jesus ist das Licht der Welt und will, dass wir unser Leben und diese Welt in seinem Licht sehen: Dankbar für Rettung, getröstet in Krankheit und Dunkelheit, offen und der Zukunft zugewandt.
Amen.