Pharisäer und Zöllner - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Riemenschneider
18,9-14

Pharisäer und Zöllner - Predigt zu Lukas 18,9-14 von Matthias Riemenschneider

Pharisäer und Zöllner

Lieder: 166, 1-4;  299, 1-5;  395, 1-3;  NL 33, 1-3+5
Psalm  1 (EG 702)
Lesung: 2. Sam 12, 1-12
Predigttext: Lukas 18, 9-14:

9Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
12Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
13Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Liebe Gemeinde,

dieses Gleichnis ist an „einige Leute“ gerichtet, die sich selbst anmaßen, fromm zu sein und daraus das Recht ableiten, andere Menschen abzuwerten. Wollen wir dieses Gleichnis recht verstehen und seinem Sinn auf die Spur kommen, dann sollten wir die anderen Leute nicht woanders suchen, sondern uns selbst in ihnen erkennen. Jesus erzählt dieses Gleichnis so, als wären wir heute seine Zuhörer.
Liebe Gemeinde von Benningen,
da gingen einst zwei Menschen in den Tempel, um zu beten. Zufällig zur gleichen Zeit. Sie kannten sich vorher nicht. Wir wissen auch nicht, wer diese Menschen waren oder wie sie hießen. Das spielt auch keine Rolle.
Wichtig ist in unserer Geschichte, wofür diese Menschen stehen. Und die waren nicht nur damals in Jerusalem stadtbekannt, sondern könnten auch in unserer Zeit  - unter ganz andren äußeren Bedingungen – aber doch mit den gleichen Zuschreibungen unter uns leben.

Der Pharisäer, das ist für uns der Heuchler und Hochmütige. Der, der fromm tut und sich selbst über andere Menschen erhebt. Zu seiner Zeit freilich haben die Leute über den Pharisäer ganz anders gedacht: er war gebildet, konnte lesen und schreiben und kannte sich daher in den religiösen Schriften aus. Er war aber nicht nur religiös aktiv, hielt alle Gesetze und Gebote peinlich genau ein, sondern er war auch in sozialen Fragen des Gemeinwesens aktiv, spendete regelmäßig einen Teil seines Einkommens und nahm sich der Armen in der Stadt an. Kurz und gut: er war ein von vielen geachteter Mann.

Der Zöllner dagegen stand am genau entgegengesetzten Ende der Jerusalemer Gesellschaft. Als jemand, der mit der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeitete, wurde er von den meisten Menschen gemieden und verachtet. Und nicht nur, dass er mit fortgesetztem Landesverrat sein Geld verdiente, machte ihn bei den Menschen unbeliebt, sondern auch, weil  er mit willkürlich überhöhten Tarifen ganz kräftig in die eigene Tasche wirtschaftete. Betrug und Korruption sind die Begriffe, die sich mit dem Zöllner verbinden.
Ganz anders ist die Beurteilung bei uns, die wir unter diesem korrupten Verhalten nicht mehr leiden müssen. Wir empfinden eher so etwas wie Bewunderung für den Witz und die Findigkeit, mit der die Zöllner den Weg zu Jesus suchen, oder auch die Ehrlichkeit, mit der sie ihre Verzweiflung vor Gott bekennen.

Diese beiden ganz ungleichen Menschen, der Fromme und der Lump, sind nun in den Tempel gegangen, um das gleiche zu tun: nämlich zu beten.
In ihrem Gebet stellen sie sich selbst vor Gott dar, und sprechen aus, was sie bedrückt. In dieser Zwiesprache mit Gott suchen sie Gewissheit über sich zu erlangen. Und dabei unterwerfen sie sich der gleichen Norm.

Auch wir sind heute Morgen zum Gottesdienst gekommen, um zu Gott zu beten und auf sein Wort zu hören. Zwar sind wohl nur wenige von uns, so nehme ich mal an, so gut, so ehrbar und anerkannt wie jener Pharisäer. Aber es sind wohl auch nur wenige unter uns, die sich als so abstoßend wie jener korrupte Zöllner empfinden. Doch irgendwo dazwischen liegt wohl für jeden von uns die Mischung, die er selbst darstellt: teils ein Pharisäer, teils ein Zöllner, manchmal überheblich über andere, manchmal niedergeschlagen und über sich verzweifelt. So sind wir bekannt, anderen und uns selbst. Aber wer sind wir wirklich? Wer kennt wirklich das Innerste unserer Seele?

Ich möchte mit ihnen in dieser Predigt einen Weg der Erkenntnis nachgehen. Einer Erkenntnis, die die beiden beim Beten über sich erlangten.

Die erste Szene: Der Pharisäer tritt auf:
„Pharisäer“ – dieser Begriff passt nicht mehr in unsere Zeit. Zu fest sind die Bilder in unseren Köpfen verhaftet, was ein Pharisäer ist. Ich möchte ihn daher einfach den „untadeligen Menschen“ nennen.
Der untadelige Mensch geht in den Tempel, ein Dankgebet zu sprechen. Er betet erhobenen Hauptes, mit ausgebreiteten Armen, so wie es damals in Israel üblich war. So, wie er sich aufstellt und sich darstellt, sieht man ihm an, dass er nichts zu verbergen hat. Er hat seinen Lebensentwurf realisiert. Es ist ihm nicht leicht gefallen. Das, was er hat, das hat er sich erarbeitet. Und das, was er ist, dafür hat er an sich gearbeitet. Aber er hat auch gelernt, von dem seinen herzugeben: er fastet und gibt einen Teil seines Einkommens für soziale Zwecke.
Bei allem, was er erreicht hat, ist er nicht selbstgefällig. Er weiß auch, dass er aus eigener Kraft das Gebäude seines Lebens nicht hätte errichten können. Deshalb dankt er Gott, heute und auch bei anderen Gelegenheiten. Vielleicht betet er auch öfter mit Worten des 1. Psalms, so wie wir zu Beginn unseres Gottesdienstes ihn gebetet haben: „Der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.“

Aber wer ist er, dieser untadelige Mensch? Darauf vermag er nichts zu sagen! „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.“ (V. 11)
Er sagt nicht, wer er ist, sondern nur, wer er nicht ist. Das ist, so finde ich, doch ziemlich dürftig.
Wer Gott nur für all das danken kann, was er nicht ist, der kann lange reden und erfährt doch nie etwas über sich selbst. Und wer nur solch eine negative Identität besitzt, der braucht andere Menschen als Schreckfiguren, von denen er sich absetzen kann. Weil er keine Gewissheit in sich selbst gefunden hat, muss er die anderen Menschen klein machen, um selbst als groß zu erscheinen. Anstatt, dass dem untadeligen Menschen jener korrupte Zöllner leid täte, benutzt er ihn noch als Fußabtreter, um sich noch besser erhöhen zu können.

Zu etwas positivem kommt er erst, als er von seiner Person ablenkt und auf seine Werke weisen kann. „Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“
Das macht schon etwas her. Ich glaube, davon können wir reichen Wohlstandsbürger uns etwas abschneiden. Zweimal fasten und zehn Prozent des Einkommens - das wäre ein Lastenausgleich zwischen den Reichen und Armen in unserem eigenen Land – und zwischen den Völkern auf dieser Erde. Damit könnte man Wüsten bewässern, Slums aufräumen und Krankenhäuser und Schulen bauen. Zweimal fasten und zehn Prozent des Bruttolohns (also zuzüglich zu der Steuerlast)  - das wäre der neue Lebensstil für glaubwürdiges Christentum.
Doch - halt! Ist unser guter Mensch wirklich so wohltätig, wie er uns auf den ersten Blick erscheint? Oder gibt er nur von den Dingen ab, die er sowieso im Überfluss hat? Großzügige Geschenke, die ohne menschliche Wärme gegeben werden, haben einen bitteren Beigeschmack. Sie können den, für den sie gedacht sind, auch demütigen. Was nützt es, wenn einer viel hat und viel gibt, wenn über den materiellen Geschenken die menschlichen Kontakte zu kurz kommen?

Die zweite Szene: Der Zöllner tritt auf:
Auch ihn möchte ich nicht mehr Zöllner nennen. Durch die lange Tradition christlichen Mitleids ist dieser Zöllner schon zum Prototyp des reuigen Sünders geworden. Ich möchte ihn einfach den „selbstbezogenen Menschen“ nennen. Alle seine Reue kann schließlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein durch und durch korrupter Schuft ist. Mitleid ist hier fehl am Platze.
Also: der selbstbezogenen Mensch tritt auf. Man sieht ihn allerdings kaum. Er steht abseits und „von ferne“, so wie Luther übersetzt. Er tritt nicht ins Rampenlicht, so wie die untadeligen Menschen, sondern bleibt im Zwielicht stehen. Und dort gehört er auch hin.
Er wagt nicht zum Allerheiligsten aufzusehen. Er hat dazu auch keinen Grund. Er dankt Gott nicht mit offenen Händen. Sie sind auch zu schmutzig. Er steht vor den Trümmern seines Lebens. Sein Lebensentwurf ist gescheitert. Obwohl er reich ist, hat er an seinem Leben keine Freude mehr.

Er ruft: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Damit sagt er die volle Wahrheit über sich. Denn ein Sünder, ein selbstbezogener Mensch ist er, vor Gott, vor dem Gesetz, vor den Normen seines Volkes und vor sich selbst. Er unternimmt gar nicht erst den Versuch, sich mit der einen oder anderen guten Tat - die er sicherlich auch mal getan hat - in ein gutes Licht zu rücken. Wenn diesem schlechten Menschen noch jemand gnädig sein kann, dann ist es nur noch Gott.

Was hat dieser selbstbezogene Mensch zu bieten? Weder gute Taten noch Selbstbewusstsein! Darum bleibt ihm nichts anderes als sein verkorkstes Leben. Sonst nichts.
Ich denke das ist schon ausreichend! Er bekennt sich zu allen seinen Taten und Untaten. Er nimmt alles auf sich und bekennt sich damit zu sich selbst. Und damit gewinnt er bei aller Selbstbezogenheit eine positive Identität seiner Person, eine Gewissheit über sich. Er macht nicht andere schlecht, um sich selbst herauszustellen. Er kommt sofort auf sich selbst zu sprechen. „Gott, sei mir Sünder gnädig.“
Wer so spricht, der ist ehrlich. Und wer so spricht, gibt Gott Recht. Indem dieser selbstbezogenen Mensch sich selbst einen Sünder nennt und Gott um seine Gnade bittet, gibt er Gott gegen sich selbst recht und vertraut darauf, dass Gott gnädig ist und nicht eine Instanz, die alle Untaten peinlichst genau bestraft.

In seinem Gebet zu Gott erkennt sich der Zöllner als der Mensch, der er ist, aber nicht sein möchte. In dem göttlichen Urteil, dass Jesus über ihn ausspricht, wird er gerechtfertigt. Das ist eigentlich mehr als die Gnade, um die er Gott gebeten hat.

Dritte Szene und Schluss:
Der das Gleichnis erzählt, tritt auf und urteilt. Jesus leitet seinen Richtspruch mit feierlichem Gewicht ein: „Ich aber sage euch ...“ Jesus urteilt hier im Namen Gottes selbst.
Um sein Urteil richtig verstehen zu können, muss man beide Personen, den untadeligen und den selbstbezogenen Menschen zusammen betrachten. Wir haben sie ja zuerst alleine betrachtet, jeden für sich. Das ist streng genommen nicht ganz richtig. Beide stehen zur gleichen Zeit im Tempel. Sie sind auch voneinander abhängig. Wenn man nur auf jede einzelne Person sieht, zerstört man das Gleichnis. Pharisäer und Zöllner sind aber in Wahrheit zwei Pole ein und derselben Gesellschaft. Sie gehören zusammen und sind auch voneinander abhängig. Der eine steht auf der guten Seite der Gesellschaft, der andere auf der schlechten Seite. Und der Pharisäer, unser untadeliger Mensch kann auch nur deshalb ein Pharisäer, ein Abgesonderter sein (wie die Bezeichnung übersetzt heißt), weil auf der anderen Seite ein selbstbezogenen Mensch, ein Außenseiter und Krimineller steht.

Den selbstbezogenen Menschen führt das Gebet zu einer Erkenntnis seiner selbst. Und in dieser Selbsterkenntnis liegt für ihn auch eine neue Gotteserkenntnis: das Gott als der gnädige Gott Vater der Barmherzigkeit ist.
Der untadelige Mensch hingegen erkennt im Gebet, dass Gott kein Gott ist, der sich nur durch Werke zufrieden stellen lässt. Jesu Richtspruch nötigt ihn dazu, umzudenken und zu einer neuen Gotteserkenntnis zu gelangen. Zu dieser Gotteserkenntnis gehört auch die Erkenntnis des eigenen Ichs. So endet für beide ihr Gebet mit einer Überraschung: der eine bekommt mehr als er erbittet; der andere erfährt etwas über sich, obwohl er danach nicht suchte.

Und wir als die Hörer dieser Geschichte? Wir werden auch überrascht! In uns schlummert beides: ein Pharisäer und ein Zöllner, ein untadeliger und ein selbstbezogener Mensch. Die Befreiung aus dieser Doppelexistenz können wir uns nicht einfach mit einem Gebet oder vorbildlichem Verhalten erkaufen. Sie haftet uns einfach an, eben weil wir Menschen sind. Aber als diese Menschen sind wir bei Gott gerechtfertigt.   

Amen.

 

Literatur:

Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester-der Zöllner-die Sünderin, Gütersloh 1985.

Jürgen Moltmann, Pharisäer und Zöllner; in: ohne Macht mächtig, München 1981.