Plädoyer für ein tragfähiges Miteinander - Predigt zu Römer 11,25-32 von Thomas Volk
11,25-32

Plädoyer für ein tragfähiges Miteinander - Predigt zu Römer 11,25-32 von Thomas Volk

Liebe Gemeinde!

Menschen, die so ganz anders sind als wir, lösen nicht selten bei uns ein Kopfschütteln aus.

Wie kann man sich immer noch so jugendlich kleiden. In dem Alter. Aber der 60jährige fühlt sich darin wohl und will nicht immer die alten Sachen auftragen. Und die Witwe geht nicht mehr jeden Tag auf den Friedhof, weil sie mit ihrer Trauer jetzt einfach anders umgehen möchte. Schließlich noch die junge Familie von nebenan, die beschlossen hat, dass der Mann den Haushalt führt, die Kinder täglich zur Kindertagesstätte bringt und sie ihren Beruf beibehält. Da können andere sagen, was sie wollen.

Manchmal können wir uns auch einfach nicht vorstellen, dass andere Menschen einen anderen Lebensentwurf haben oder eine andere Sicht der Dinge, dass andere den Garten nicht so hegen und pflegen, wie wir es tun oder dass Ihnen vieles von dem, was uns wichtig ist, völlig belanglos bleibt.

Und so geben uns solche Menschen sehr gerne die Gelegenheit, über sie zu reden, zu mutmaßen und vielleicht auch zu urteilen. „Wie stellt die sich das denn vor? Wie soll das nur weitergehen? Wie kann man überhaupt nur so leben!“ So lauten nur ein paar der Redensarten, mit denen wir uns allzu gerne über andere auslassen.

Auch in Bereichen, die unseren Glauben und unsere Religion betreffen, gibt es dieses Kopfschütteln. „Also ich könnte kein Buddhist sein“, habe ich neulich an der Haltestelle aufgeschnappt und ich hätte zu gerne gefragt, ob diese Person überhaupt schon einmal einen kennengelernt und nachgefragt hat, was ihm bei dieser Religion wichtig ist und was ihm dabei Halt gibt.

Der heutige Sonntag erinnert uns daran, dass es auch im Verhältnis zu den jüdischen Glaubensgeschwistern immer wieder zu einem Kopfschütteln gekommen ist. Und die 2000 Jahre Christentumsgeschichte haben gezeigt, dass es nicht nur bei abfälligen Gesten geblieben ist.

Dieser 10. Sonntag nach Trinitatis steht übrigens bewusst in zeitlicher Nähe zu zwei Ereignissen, die das Judentum bis in ihre Grundfesten erschüttert haben.

Am Vorabend des 9.Aw - das ist im jüdischen Kalender der 11. Monat des Kirchenjahres und fällt meistens in die Zeit von Juli oder August - im Jahre 586 vor Christus ist der erste Tempel in Jerusalem von den Babyloniern zerstört worden.

Am 9.Aw des Jahres 70 brannten römische Truppen den zweiten Tempel nieder.

Außerdem wurden genau an diesem 9.Aw des Jahres 1290 sämtliche Juden für nahezu vier Jahrhunderte aus England vertrieben, die erste vollständige Ausweisung einer jüdischen Gemeinde aus einem europäischen Land.

Das Schriftwort des heutigen Sonntags nimmt daher auch die jüdischen Glaubensbrüder in den Blick. Es führt uns zurück in die Anfänge, in der sich beide Glaubensrichtungen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen haben.

Und bereits zurzeit des Apostels Paulus hat das Kopfschütteln auf Seiten der Christen begonnen. „Wie kann man nur den Glauben an Jesus, als den Christus, ablehnen? Wie kann man immer noch an dem alten Bündnis festhalten? Und wie kann man die Worte der Apostel einfach so ignorieren?“

Paulus hat, ohne es vielleicht zu wollen, auch selbst dazu beigetragen, dass die Gräben zwischen Juden und Christen größer und tiefer geworden sind. Als sich die christliche Botschaft über Israel hinaus verbreitet hat, sind auch immer mehr Nichtjuden - in der Sprache der Bibel „Heiden“ - Christen geworden. Die Frage ist aufgekommen, ob sie, wenn sie den christlichen Glauben annehmen, zuvor - sozusagen als Zwischenschritt - Juden werden müssen? Paulus hat diese Frage mit einem großen „Nein!“ beantwortet. Sie können sich ohne Umweg gleich taufen lassen. Und die jüdischen Vorschriften sind für sie nicht mehr bindend.

Nachdem Paulus diese Festlegung getroffen hat, will er nach Rom. Dort leben Juden und Christen zusammen. In einer Gemeinde. Die Juden in Rom kennen ihn nicht. Und die Christen, die es dort wohl schon gegeben hat, auch nicht. Mit diesem Brief will er sich nicht nur selbst vorstellen, sondern vorab auch darlegen, wie er die Sache mit den jüdischen Glaubensgeschwistern sieht. Auch wenn beide Seiten sich immer mehr voneinander entfernen, möchte er vermeiden, dass die einen über die anderen nur den Kopf schütteln oder sie gar missbilligen. Und er hat sich abschließend Gedanken gemacht, wie das Verhältnis von Juden und Christen zu denken ist. Das Ergebnis findet sich im Römerbrief, im 11. Kapitel, in den Versen 25-32:

25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;

26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): „Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.

27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“

28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.

29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,

31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.

32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Diese Zeilen sind der Abschluss eines dreikapitellangen Ringens des Apostels um das Schicksal Israels. Und sie beginnen gleich mit einem Einwand: „Damit ihr euch nicht selbst für klug haltet …“ (V.25).

Das hat es ganz bald gegeben, dass sich Christen für klüger gehalten haben, auf ihre Glaubensgeschwister herabgeschaut und den Kopf geschüttelt haben. Wie kann man nur an all den Geboten, die der jüdische Talmud mit 613 beziffert, festhalten? Unsere Grundlage ist alleine der Glaube an Jesus, den Sohn Gottes und erhofften Messias.

All denen, die schon damals auf das Judentum herabgeschaut haben, sagt Paulus ganz deutlich: Gott ist und bleibt seinem einst erwählten Volk treu. Er hält seine Zusagen, die er vor langer Zeit Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat. Der alte Bund ist nicht aufgelöst. Und Israel wird einmal ebenso gerettet werden wie die anderen, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind. Das ist der Dämpfer für die, die sich für so klug halten und über die jüdischen Glaubensgeschwister nur ein Kopfschütteln übrig haben.

Paulus geht sogar noch einen Schritt weiter: Er macht beiden klar, dass die Rettung der einen an der Rettung der anderen hängt. Das Schicksal der Juden ist mit denen der Christen eng verbunden. Ohne den anderen käme niemand zum Ziel. Juden und Christen sind für Paulus wie zwei unterschiedliche Pilger auf einem Weg.

Er stellt klar: Ohne Juden würde es Christen gar nicht geben. Wenn also die Verheißungen an Abraham niemals ergangen wären, würde es logischerweise auch keine Christen geben.

Und ohne Christen wiederum würden Juden wohl ewig „einschlossen“ sein (V.32). Weil sie das Evangelium an Jesus Christus abgelehnt haben und so - wie Paulus mit der Sprache seiner Zeit formuliert - „ungehorsam“ geworden sind (V.31), ist überhaupt erst der Weg dafür offen, dass andere Völker es annehmen können und somit auch Heiden zum Glauben an Gott kommen, die vorher von Gott nichts gewusst haben und auch gar nichts wissen konnten.

Das sind, liebe Gemeinde, schwere und komplizierte Gedankenwege an einem Augustsonntag. Und ich merke bei mir selbst: So wichtig diese Klärungen in dieser Anfangszeit vor 2000 Jahren gewesen sein mögen, so sehr haben sie aber auch ihre Zeit gehabt.

Paulus damals hat den Blick auf das Ende gerichtet. Auf die damals brennende Frage, wer Gewissheit haben kann, auf Ewigkeit mit Gott verbunden zu sein, in dessen ewigem Reich es übrigens keine Religionen, keine Konfessionen und auch kein Kopfschütteln mehr geben wird.

Wir heute können es uns einfach nicht mehr leisten mit einem uns zufriedenstellenden Erlösungsplan in der Tasche auf den großen Tag X zu warten, aber die aktuellen und brennenden Fragen unserer Zeit außen vor zu lassen.

Eine dieser Fragen ist die, wie so viele Andersdenkende, Anderslebende und Andersglaubende miteinander in einem erträglichen Frieden leben können, in dem man sich abends sicher schlafen legen und gewiss sein kann, dass den Kindern eine gute, weil sichere Zukunft bereitsteht.

Wir müssen uns heute auch nicht mehr damit beschäftigen, wie es leider bis in unsere Zeit immer noch geschieht, wie wir Juden und andere Glaubensgemeinschaften davon überzeugen können, dass der christliche Glaube doch viel besser sei und alle anderen das doch endlich einsehen müssten. Das Schicksal einiger Jesiden, einer kurdisch sprachigen religiösen Minderheit, die in diesen Tagen vor die Wahl gestellt wurde, sich entweder zum Islam zu bekehren oder getötet zu werden, hat auf drastische Weise deutlich gemacht, wie verfehlt alle Versuche sind, anderen ihren Glauben abzusprechen. Was immer Gott mit Christen, Juden und Muslimen, mit Menschen aus ganz unterschiedlichsten religiösen und kulturellen Ausprägungen vorhat, können wir getrost ihm überlassen.

Zu der großen Aufgabe, wie wir es schaffen können, dass von uns und unserem Glauben Frieden ausgeht, gehört für mich als erstes die Frage, warum wir eigentlich so oft damit beschäftigt sind uns mit anderen und ihrem Anderssein zu befassen. Anstelle sich darüber Gedanken zu machen, wie andere leben und was andere glauben, ist es gut sich selbst zu fragen:

Wie geht es eigentlich mir? Bin ich unzufrieden? Mit meinem Leben? Mit meinem Glauben? Welche Mosaiksteine von meinem Lebensbild gehören vielleicht ausgetauscht oder anders gelegt?

Wovon will ich bei mir ablenken, wenn ich immer auf andere schaue und ihre Sicht der Dinge schlecht reden muss?

Und wie sehr trägt mein Glaube mich? Ist vielleicht manches zur Routine erstarrt oder zur bloßen Gewohnheit geworden? Können andere an mir ablesen, welche Kraft mich trägt und welcher Schwung mich beflügelt?

Überhaupt, wie sehr sehe ich immer nur den Splitter bei den anderen und die dicken Balken bei mir schon längst nicht mehr.

Ich finde, dass diese Fragen, die jede und jeder für sich selbst durchbuchstabieren kann, eine sinnvolle Alternative zu allem Kopfschütteln sind, damit wir nicht überheblich werden oder viel zu kurzsichtig in unseren Gedankengängen bleiben. Und - egal zu welcher Zeit - Überheblichkeit ist immer eine Gefahr, eine Gefahr die zur Bedrohung, auch lebensbedrohlich werden kann. Die Geschichte zwischen Christen und Juden hat es beschämend gezeigt.

Ich lese aus dem umfassenden Römerbrief immer wieder heraus, dass alle Menschen unfähig sind, so zu leben, wie Gott es sich gedacht hat. Aber alle Menschen können dem unbedingten Willen Gottes sicher sein, dass er ihnen immer wieder einen neuen Anfang geben und einen frischen Morgen schenken möchte. Denn Gott möchte nicht nur uns selbst immer wieder aufmuntern, das eigene Leben mit viel Aufbruchfreude anzugehen, sondern darüber hinaus auch den Blick schärfen, dass durch uns das Netz der Verbundenheit fest wird und tragfähig bleibt.

Und der Friede Gottes, der umfassender ist als jede Enge und alles zu kurze Sehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.